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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

empfindet als ich Lebenspraktikus. Aber mir ist die Geschichte nicht einfach genug. Darum laß mich heraus aus den Präliminarien! Daß Du nur ehrenhaft wählst, weiß ich, ob das Mädchen nun Müller heißt und bettelarm ist oder ein vornehmes Fräulein. Gott sei Dank, mein Junge, wir haben ja Vertrauen zu einander und ich bevormunde Dich nicht. Es grüßt Dich

Dein Vater.“ 

Lüdinghausen sah seinen Vater förmlich vor sich: die untersetzte, zur Fülle neigende Gestalt, das bartlose, runde, röthliche Gesicht mit den lebhaften Augen und den schneeweißen Haarstoppeln, welche über der Stirn wie eine Bürste aufstanden. Er dachte sich Lea daneben und Lea überhaupt im Gegensatz zu seines Vaters Brief. In der That – da war kein Einklang zu erzielen. Lüdinghausen konnte sich die junge Dame nicht vorstellen als den Gegenstand einer so naturwüchsigen Werbung und Verlobung, wie sie sein Vater sich dachte.

„Ich bin anders als mein Vater,“ dachte er, „Lea ist anders als meine Mutter – Erziehung und Zeitgeist sind heute verschieden von damals. Es kann ja nicht nach einem Schema gefreit werden.“

Das Bewußtsein kam ihm überdies, daß er sein Werben überhaupt schon zu deutlich gemacht habe, um ohne eine entscheidende Aussprache zurück zu können.

Er beschloß, daß dieser Tag nicht zu Ende gehen solle, ohne ihm einen festen Entschluß gebracht zu haben. So ordnete er denn in seinem Bureau die Arbeit für seine Beamten an und bestieg dann sein Pferd.

Es war ein schwüler Sommertag; vor dem Thor, zwischen den schon abgeernteten Feldern, auf der fast schattenlosen Chaussee kam sich Lüdinghausen einen Augenblick wie Don Quixote vor, der auszieht, gegen Windmühlen zu kämpfen. Er konnte nicht umhin, die Gefühle eines Heirathskandidaten für recht beklemmend und sehr wenig männlich zu halten – vorausgesetzt, daß allen Männern, die solche Pläne hegen, so zu Muth dabei sei wie ihm. Der Brief seines Vaters war wohl daran schuld. Dieser hatte ihn von der Bahn der verständigen, gelassenen Erwägung gestoßen, ohne daß er selber den andern Weg, den der jubilirenden Eroberung, zu finden vermochte.

Die Hitze flimmerte über dem Erdboden in jener zitternden Wellenbewegung der Luft, welche diese sichtbar macht. Todtenstille herrschte; die Ferne war mit grauem Dunst verschleiert. Die Sonne stand beinahe in Scheitelhöhe, und wie Lüdinghausen auf der hellen Landstraße langsam dahinritt, glitt fast unter seinem Pferd der schwarze Schatten von Roß und Reiter als formloser großer Fleck immer mit. Ein trockener Wind wehte über die Felder. Die Ruhe des Hochsommers lag auf den grell besonnten Gefilden.

Die Trägheit in der Natur fing an, sich seinem Thier, ja ihm selbst mitzutheilen. Er beschloß, durch den Wald zu reiten, der sich bis Römpkerhof hinzog und der schon unfern an die Landstraße herantrat. Ganz weit auf dem Weg vor ihm wölkte sich jetzt eine Staubmenge auf, aus welcher sich bald ein Zug Husaren entwickelte. Sie kamen von einer Felddienstübung und ritten staubbedeckt, mit rothen, schläfrigen Gesichtern auf müden Thieren, zur Stadt zurück.

Lüdinghausen wechselte im Vorbeireiten Grüße mit den Offizieren. Auch der Rittmeister, Baron Ehrhausen, war dabei. Clairon, welcher bei derselben Schwadron stand, fehlte.

Da war der Wald. Lüdinghausen athmete förmlich auf, denn wenn auch nicht Kühle, so gab es doch Schatten. Er ritt aber immer langsamer. Er dachte darüber nach, unter welchen Vorwänden er den Tag auf Römpkerhof zubringen könne. Daß alle seine Gründe errathen würden, war ihm zweifellos, aber er fand es taktvoll, sie zu verhüllen, ehe er mit Lea gesprochen hatte. In tiefem Sinnen überhörte er, daß ihm ein Reiter entgegenkam, und schreckte über einem lauten Aufwiehern seines Pferdes zusammen. Nun sah er den Grafen Clairon im Dienstanzug, bestaubt und mit einem Antlitz voll finsteren Ernsts daherkommen.

„Sie haben Ihre Schwadron verlassen?“ fragte Lüdinghausen nach freundlichem Gruß, den der andere ohne ein Lächeln erwiderte.

„Der Wald lockte mich. Und Sie? Ich bin ebenso erstaunt, Sie um diese Tageszeit hier zu sehen,“ fuhr Clairon, nun geradezu unfreundlich, fort.

„Ich will nach Römpkerhof,“ sagte Lüdinghausen einfach.

Clairon sah ihn an. Er verbarg kaum ein bitteres Lächeln unter seinem blonden Schnurrbart. Sein helles Auge blirkte voll Hochmuth über den andern hin.

„Nun – ich grüße die Damen voll Ehrerbietung. Auf Wiedersehen!“

Und er sprengte davon.

„Dieser Aktenmensch, dieser Kohlengräber,“ dachte Clairon, und fühlte eine Minute lang den ganzen Stolz des Offiziers auf sein ritterliches Handwerk im Gegensatz zu der Juristerei und dem Bergwerksbesitz Lüdinghausens. „Und der soll der Glückliche sein!“

Lüdinghausen fand das Benehmen Clairons ein wenig befremdlich und erinnerte sich jetzt, daß dieser eigentlich immer besonders kühl gegen ihn geblieben war. Er hatte das bisher kaum bemerkt. Clairon war ihm eine zu fernstehende und unwichtige Persönlichkeit gewesen, als daß er ihm viel Beachtung geschenkt hätte.

Lüdinghausen war noch selten in den Wald gekommen, er glaubte sich aber ohne Schwierigkeiten zurecht finden zu können, wenn er sich immer die Richtung nach Römpkerhof vergegenwärtigte. Ohne Bedenken schlug er einen schmalen Weg ein, der diese Richtung zu haben schien.

Aber ein Schreck, der eher peinlich als freudig war, fuhr ihm durch den ganzen Körper, als er plötzlich ein helles Frauenkleid durch die Stämme schimmern sah. Das mußte und konnte nur Lea sein. Rahel war ja immer im Hause beschäftigt und Frau von Römpker trug keine weißen Kleider. Er war gar nicht vorbereitet, ihr hier zu begegnen, und besann sich, was er thun solle.

Ja, es war Lea. Sie saß auf dem Boden, im braunen Buchenlaube des Vorjahres, an dem grauen Stamme einer Buche. Sie hatte die Ellbogen auf die Kniee gestützt und die Hände gefaltet neben dem tiefgeneigten Kopf. Sie brütete finster vor sich hin. Ihr dunkles Haupt war unbedeckt und ihr Hut lag neben ihr. Ihr weißes Gewand schmiegte sich eng um ihre Kniee und lag in fächerartig ausgebreiteten Falten rechts neben ihr auf dem Boden.

Zum ersten Male war Lüdinghausen von der eigenartigen Schönheit ihrer Erscheinung, die er bisher sozusagen als Unbetheiligter bewundert hatte, innerlich betroffen.

Sie hob den Kopf, müde und gleichgültig, als sie Geräusch hörte, aber augenblicklich sprang sie auf, das Gesicht mit flammender Röthe übergossen.

„Er ist Clairon begegnet,“ dachte sie, „er durchschaut alles.“

Aber Lüdinghausen durchschaute nichts. Er besaß keine Ahnung davon, daß Graf Clairon um Lea sich beworben hatte, und selbst mit solcher Kenntniß wäre er noch weit davon entfernt gewesen, hier eine Verabredung und gar eine zu verheimlichende Verabredung zu wittern. Männer, welche ohne Schwester aufgewachsen sind, denken immer zu gut oder zu schlecht von jungen Mädchen.

Weil er nun selbst bei dieser Begegnung verlegen war, bemerkte er Leas ganz kurze Bestürzung nicht.

„Das nenne ich einen hübschen Zufall,“ sagte sie mit ihrem Lächeln, welches immer etwas Besonderes zu verheißen schien, „erst reitet Clairon hier vorbei, und nun erscheinen Sie, während man sonst wochenlang hier im Walde nichts erlebt.“

„Graf Clairon war wohl sehr ermüdet, wenigstens schien er nicht bei bester Laune,“ bemerkte Lüdinghausen.

„Nun, es mag auch kein Vergnügen gewesen sein, bei der Temperatur auszurücken. Und Sie, Herr Landrath, haben ohne Zwang einen Ritt gemacht?“ fragte Lea, die sich sogleich Gedanken darüber gemacht hatte, aus welcher Veranlassung er komme.

Lüdinghausen schwang sich aus dem Sattel und legte sich die Zügel um die Faust zurecht. Dann erst antwortete er:

„Wenn Sie so wollen, gehorchte auch ich einem Zwang. Es war der unabweisbare Wunsch in mir, den heutigen Tag in Ihrem Hause verleben zu dürfen.“

Er sah Lea mit seinen ernsten, ruhigen Augen gerade an. Sie hielt diesen Blick aus. Ein Lächeln stand fest auf ihren Lippen, ihre Augen strahlten. Und dabei dachte sie:

„Er hat eine Art, jemand anzusehen – so schulmeisterlich, so prüfend.“

„Papa und die andern werden sich sehr freuen.“

„Sie sind allein?“

„Römpkerhof ganz ohne Gast? Nein, das ist undenkbar. Aber es ist nur Fräulein Malchen da, Mamas Freundin, welche jahraus jahrein den Donnerstag bei uns verlebt. Sie zählt also nicht.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 327. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_327.jpg&oldid=- (Version vom 19.8.2023)