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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Das war ihm schrecklich. Augenblicklich fand er, daß Lea doch wohl ein bißchen zu weit gehe. Rahel hatte sie in eine schöne Patsche gebracht, das ließ sich nicht wegleugnen; aber am Ende war die Tollheit doch nur aus ehrenhaften Absichten entsprungen.

„Kinder,“ sagte er begütigend, „es kann ja noch alles gut werden. Morgen kommt Clairon wieder – er ist doch so gut wie mit Dir verlobt, Lea, und dann wird die Scene vertuscht und Du verzeihst Rahel.“

In Leas Gesicht leuchtete es auf. Ja, ihrer Macht über Robert war sie sicher. Der ließ nicht von ihr.

„Rahel kommt über Nacht gewiß zur Besinnung und bittet Dich morgen um Verzeihung,“ sagte auch Frau von Römpker. „Gott, was für ein Abend! Meine armen, armen Nerven! Ich muß mich niederlegen. Gute Nacht!“

„Ja, mein Kind, wir gehen,“ schloß Herr von Römpker und gab sich viel Mühe, würdig zu sprechen, „mögest Du in Dich gehen und Dein unweibliches und von wenig Familiensinn zeugendes Benehmen aufrichtig bereuen.“

Rahel sprach kein Wort. Sie schrak nur zusammen, als Lea krachend die Thür schloß.

Nun war sie wieder allein. Sie setzte sich mechanisch auf ihren alten Platz. In ihrem Kopf war es ganz wüst.

Was man alles in sie hineingesprochen hatte, tobte in wirrem Durcheinander hinter ihrer Stirn.

Sie konnte gar nichts begreifen. So war also nicht für alle Menschen Recht und Unrecht gleich! Weder ihr Vater noch ihre Mutter noch Lea hatten verstanden, weshalb sie sich dazwischen geworfen! Sie hatte Dank erwartet wie für eine Rettung und man schmähte sie wie eine Missethäterin. Sie – Rahel – sah es als ein Verbrechen an, sich einem Mann mit solcher Lüge auf den Lippen zu vermählen, als ein Verbrechen, dem Meineid gleich, den das Gesetz straft. Und weil die feinverborgenen Meineide vor dem Altar nicht von der weltlichen Strafe erreicht werden, bleiben sie deshalb nicht dennoch strafwürdige Sünde? Aber Lea sah es im Gegentheil als ein Verbrechen an, daß man sie an solchem Meineid hinderte! Lea, ihre bewunderte Lea, in deren Adern das gleiche Blut rann!

Warum?

Und plötzlich sah das arme Mädchen die Wahrheit. Sie sah die Schwester entkleidet von all den schimmernden Gewändern, mit denen blinde Liebe sie geschmückt hatte. Sie sah Lea, wie Lea wirklich war. Von klein an wegen ihrer Schönheit und ihrer drolligen Einfälle von den Eltern und den zahllosen Gästen bewundert, hatte sich ihre natürliche Grazie bald in Koketterie, ihre Drolligkeit bald in Keckheit verwandelt. Rahel erinnerte sich, mit welcher Tyrannei die Schwester die Dienstboten und sie selbst behandelt hatte und was alle damals gelitten. Aber in ihre der Liebe so bedürftige Seele, die obenein vom Bewußtsein eigener Nichtigkeit erfüllt war, kam nie ein Gedanke, daß dieser Zustand unnatürlich sei. Auch sie selbst hatte von Anfang an in Lea eine Vereinigung aller menschlichen Vorzüge erblickt.

Dann wurden sie älter. Die kluge Lea lernte sich selbst erziehen und beherrschen und ward sanfter und gefälliger in ihren Umgangsformen. Heute begriff Rahel, daß nur die Eitelkeit die Erzieherin gewesen.

Diese Eitelkeit Leas war der Götze gewesen, dem das ganze Haus huldigte. Liebenswürdigkeit kleidet gut, so gab Lea sich liebenswürdig. Gefallsucht stößt ab, so verbarg Lea ihre Gefallsucht tief unter sicheren und vornehmen Formen. Sie wollte immer die Erste, die Gefeierte sein. Sie duldete niemand neben sich und hatte durch ihre vordrängende Sicherheit des Auftretens die jüngere Schwester immer im Schatten zu halten gewußt.

Doch dies alles war keine durchdachte Schlechtigkeit. Es geschah ganz unbewußt, daß Leas Eitelkeit sich Leas Klugheit dienstpflichtig machte, um ihre Zwecke zu erreichen. Eine schwächliche Erziehung hatte alle schönen Gaben dieses Wesens entarten lassen.

Nur eine große Liebe, eine glückliche Ehe, ein charaktervoller Mann hätte gutmachen können, was hier verdorben war. Aber Leas Herz war so in Selbstsucht verstrickt, daß es nicht einmal mehr um der Liebe willen eitle und nichtige Gelüste hatte opfern können.

Eine Trauer, die fast dem Entsetzen glich, ergriff Rahel. Ihr war, als habe man ihr die Schwester entrissen, das Wesen, um welches ihre Liebe und ihre Sorge seit vielen Jahren ausschließlich gewaltet. Erst jetzt begriff sie, daß ihr Dasein immer nur den einen Inhalt gehabt hatte: Lea. Und alles war jämmerliche Täuschung gewesen, ihre Bewunderung ein Irrthum, ihre Hingabe Verschwendung. Und alle die treue Liebe hatte nicht einmal ein Fünkchen ähnlicher Empfindung in Leas Brust hervorgerufen. Zum ersten Mal kreuzte die bescheidene Schwester Leas Weg, anstatt wie sonst in Demuth nachzufolgen, und gleich wandte diese sich in harter Feindschaft gegen sie und sagte ihr Worte, Worte …

Rahel weinte nicht. Sie ward immer gefaßter und ruhiger.

Ihr fehlte jene schmiegsame und nie rastende Einbildungskraft, welche Leas väterliches Erbe war. Lea hätte wie der Vater nach so hartem Zwist alsbald mit allen Möglichkeiten gespielt, welche der andere Tag bringen könne. Anstatt klar nachzudenken, hätte sie erst im Zorn gewüthet und sich dann in allerlei erhebende Versöhnungsscenen hineingedacht, bei welchen sie selbst eine rührende und großartige Rolle spielen würde.

Anders Rahel. Ihr Wesen glich einer geraden, starren und unbiegsamen Linie. Es konnte nicht so weich werden, daß es sich in jede beliebige Form gegeben hätte.

So sah sie nur, daß sich eine Kluft zwischen ihr und den Ihrigen aufgethan hatte, die ihrem Charakter gemäß ihr unüberbrückbar erscheinen mußte.

Lea, wie Vater und Mutter zürnten ihr um einer Sache willen, in der sie sich entschieden im Rechte glaubte.

Man hatte ihr gesagt, daß man die nächsten Tage ihren Anblick nicht ertragen würde. Und sie sah und bedachte nur diese eine harte Thatsache. Sie verstand die Ihrigen nicht genug, um zu wissen, daß diese die bedeutungsvollsten Dinge sagen konnten, ohne eine Stunde nachher denselben noch Bedeutung beizumessen. Aus ihrem eigensten Wesen heraus mußte sie solche Worte ansehen wie erzene Denkmale ewiger Trennung.

Und da die Drei gegen sie, die Eine, waren, so hatte sie zu gehen.

Gerade durch den Mangel an jedem leichtbeweglichen Vorstellungsvermögen, an jeder phantasievollen Abenteuerlichkeit kam sie auf den Gedanken, der ihr natürlich war und der anderen romanhaft vorkommen mußte: sie wollte ihr Vaterhaus für einige Tage verlassen.

Geräuschlos ging sie im Zimmer hin und her und packte sich ein Täschchen voll mit nöthigen Gegenständen. Sie schrieb einige Zeilen an ihren Vater, worin sie sagte, daß sie seinen und Leas Wünschen folge und für einige Tage fortgehe. Sie begebe sich zu Onkel Raimar, wohin man ihr Nachrichten senden möge. In dem ganzen Briefchen war kein pathetisches Wort. Die Schriftzüge waren fest, die Fassung knapp und gleich fern von Schuldbewußtsein wie von Unbescheidenheit.

Dann sah sie nach der Uhr, und als sie den Zeiger noch vor zehn stehen sah, wunderte sie sich nicht. Ländlich früh hatte man sich ja an den Abendtisch gesetzt und das Mahl war bald unterbrochen worden.

Sie horchte auf den Regen, der rann noch immer, und sie dachte, es sei besser, einen Knecht zu wecken und anspannen zu lassen.

Aber das Aufsehen – die Verzögerung – und die Todesmüdigkeit der Leute abends – nein, es widerstrebte ihr.

Sie sehnte sich nach der freien Luft, der Kühle im Regen draußen und nach Bewegung. Mit Bedacht wählte sie starke Schuhe und einen dichten Mantel und ging hinaus.

Auf dem Flur war es dunkel, durch das Treppenhaus aber schimmerte noch Licht. Im Eßsaal hörte Rahel noch sprechen und mit Geschirr klappern, die Leute räumten auf.

Daß durch die Büsche noch Licht vom Wirthschaftshof blinkte, fiel ihr auf. Sie wußte nichts davon, daß Lüdinghausen und Raimar des ersteren Wagen benutzt hatten und daß Raimars Fuhrwerk allein folgen sollte. Raimars Kutscher hatte keine Eile, sich von den ihm befreundeten Stallbedienten auf Römpkerhof zu trennen.

Die Gewohnheit, nach dem Rechten zu sehen. war so stark in Rahel, daß sie unwillkürlich stehen blieb und versucht war, nach

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 378. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_378.jpg&oldid=- (Version vom 24.8.2023)