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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Als er dann kam, als ich in seine lieben Augen sah, war ich plötzlich entschlossen. ‚Ich habe Dein Wort,‘ sagte ich ihm, ‚und ich gebe Dich nicht frei. Thu’, was Du willst!‘

Das kam ihm offenbar unerwartet, aber es regte ihn nicht auf. ‚Ich hätte es wissen können,‘ antwortete er nach einer Weile in kaltem und schneidendem Ton. ‚Du bist ein Weib!‘ Damit kehrte er sich ab.

Ich ließ mich nicht beirren. ‚Höre auch dies,‘ fuhr ich fort; ‚Du sollst volle Freiheit haben, Dir Deine Lebensarbeit zu wählen. Erprobe, ob Du ein Dichter von Gottes Gnaden bist – ich werde Dich nicht hindern, und ich weiß, Deine Liebe wird Dir kein Hemmniß sein, wenn sie keine Pflicht mehr auferlegt. Du sollst meinetwegen kein lästiges Amt erstreben. Komm nach Jahren, wenn Deine freie Thätigkeit Dir reiche Frucht gebracht oder – wenn alle Deine Hoffnungen Schiffbruch gelitten haben, Du wirst mich finden, wie Du jetzt von mir gehst. Komm’ nie … aber ich lasse nicht von Dir.‘

Er ging, ohne mich noch eines Wortes zu würdigen. Erst nach Monaten erhielt ich von ihm wieder einen Brief. Sein Inhalt überraschte mich aufs äußerste. Er hatte die Hauslehrerstelle aufgegeben, nicht um in die Nähe des Theaters überzusiedeln oder ein Centrum litterarischer Thätigkeit aufzusuchen, sondern – um an einem Gymnasium Unterricht zu ertheilen, wo man ihm nach Ablauf der Probezeit eine Anstellung zugesagt hatte. ‚Ich halte mein Wort,‘ schrieb er, ‚bereite alles zur Hochzeit vor!‘

Im ersten Augenblick war ich tief erschrocken, auf mich fiel jetzt doch die ganze Verantwortung. Aber dann fühlte ich’s wie eine Erleichterung. Wenn der Genius in ihm so stark gewesen wäre, wie er damals meinte, nie hätte er sich so entschieden! Er selbst mußte schwankend geworden sein. Und wenn das möglich war, dann … Ach! verzeihen Sie mir, lieber Freund, wenn ich nach diesem Strohhalm griff, um mich aus einer verzweifelten Stimmung zu retten.

Heute vor fünfundzwanzig Jahren haben wir Hochzeit gemacht – es war kein froher Tag wie dieser. Eduard hätte freilich nicht der edle Mensch sein müssen, der er war, wenn er nicht bemüht gewesen wäre, mir ein heiteres Gesicht zu zeigen und beruhigende Worte zu sagen. Vielleicht hatte seine Liebe auch wirklich das peinigende Gefühl der Enttäuschung überwunden, vielleicht überwand sie es jetzt, da sich ihm ein doch langersehntes Glück erfüllte. Vielleicht – ach, nur vielleicht! Ich fühlte dennoch, daß er mir ein Opfer gebracht zu haben glaubte. Von der Höhe, auf die er mich gestellt hatte, war ich in seiner Schätzung tief, tief hinabgestiegen, er sprach mit mir gar nicht von dem, was vergessen sein sollte. Wie ein Druck lag es auf unseren Herzen, wir vermochten es nicht, ihn abzuschütteln. Was ich mir da am Altar gelobte … Nein! das läßt sich nicht in Worte fassen.“ –

Sie schwieg. Die Erinnerung hatte sie tief erschüttert. Ich ließ ihr Zeit, ihr Gemüth zu beruhigen.

„Und dann?“ fragte ich, da ich merkte, daß es sie drängte, ihre „Beichte“ fortzusetzen.

„Eduard widmete sich mit ganzem Eifer seinem Schulamt,“ fuhr sie fort, „und in den Freistunden wissenschaftlichen Arbeiten. Mit einem Eigensinn, der mir wohl begreiflich war, aber mich deshalb nicht weniger besorgt machte, enthielt er sich aller dichterischen Versuche und sprach nicht einmal von der Möglichkeit, sie wieder aufzunehmen. Ich hoffte, die Lust zum Fabulieren werde mit der Zeit schon übermächtig werden. Er mußte sich ja überzeugen, daß ihn seine Frau nicht hinderte, eher alles aus dem Wege räumte, was den freien Flug seiner Gedanken hätte niederhalten können. Allein es blieb so, und endlich meinte ich, es sei gar nicht mehr Eigensinn, daß er so sein einstiges Ich verleugne, sondern er wisse jetzt, daß ihm die Kraft versage, und wolle es nur nicht eingestehen. Und junge Eheleute, die sich aus wahrer Herzensneigung vereinigt hatten! Man konnte uns für sehr glücklich halten, und wir waren es auch. Das erste Kind wurde uns geboren und dann der Sohn. Eduard war ein so zärtlicher Vater! Er schien ganz vergessen zu haben, daß er sich das Leben anders gedacht hatte.

Und trotzdem blieb ein Rückschlag nicht aus, es kamen Jahre schwerer Sorge für mich, ob ich den Sieg behalten würde. Die beiden kleinen Kinder nahmen mich vielleicht zu sehr in Anspruch, ich mußte den lieben Mann zu viel sich selbst überlassen. Da verfiel er denn wieder in den grüblerischen Gedanken, daß sein Dasein verfehlt sei, daß ihm zu spät die Einsicht komme, er hätte für die Göttin etwas wagen sollen. Mit Unlust ging er zur Schule, verschob die Korrektur der schrifllichen Arbeiten bis auf den letzten Tag, träumte ins Weite und blieb die halben Nächte in seinem Zimmer auf. Ich merkte, daß er heimlich etwas schrieb, aber auch Papiere verbrannte. Vergeblich suchte ich mich in sein Vertrauen einzuschmeicheln, seine Haltung gegen mich wurde eine fast feindliche. Es kam über ihn wie eine tückische Krankheit, die sich lange in unzugänglichen Schlupfwinkeln versteckt gehalten hat und dann plötzlich vorbricht, um alle gesunden Säfte aufzuzehren. Einmal erfolgte eine heftige Aussprache. Er ließ ein Wort fallen von ‚Flucht aus dem Kerker‘. Ich griff es auf und antwortete ihm trotzig. ‚Du bist nicht gefangen – öffne die Thür und geh’, wohin Du willst; für mich und die Kinder werde ich sorgen!‘

Das brachte ihn wieder für längere Zeit zur Besinnung. Seine nächtlichen Arbeiten setzte er fort, ich wußte auch, daß er einen heimlichen Briefwechsel unterhielt. Und dann eines Abends reiste er wirklich ab, ohne auch nur von seinem Direktor Urlaub genommen zu haben. Ich glaubte ihn für uns verloren.

Doch nach vierzehn Tagen kam er wieder, völlig verändert in seinem Wesen. Ich empfing ihn mit heller Freude wie einen von der Reise zurückgekehrten lieben Hausgenossen, kein Laut des Vorwurfs kam über meine Lippen. Das schien ihm sehr wohl zu thun. Er umarmte mich, küßte meine Stirn und hielt mich lange an seine Brust gedrückt. ‚Du hast doch recht gehabt,‘ sagte er mild und herzlich, ‚hier ist mein Glück.‘ Er eilte zu den Kindern und konnte nicht aufhören, sie an sich zu pressen. Die Reise nannte er seine ‚letzte Irrfahrt‘, bat mich aber, nicht weiter darüber sprechen zu müssen, und ich ließ ihn gern gewähren. Nicht ohne unangenehme Folgen blieb sein Vergehen gegen die Amtsvorschriften, zumal er sich nicht mit ganzer Offenheit entschuldigen wollte oder konnte. Er sei krank gewesen, versicherte er, und einem übermächtigen Zwange gefolgt. Er erhielt einen Verweis und nahm ihn ohne Murren hin. Bald darauf bemühte er sich um seine Versetzung hierher; mit bestem Erfolg, da seine Lehrkraft sehr geschätzt war. Hier ist uns auch unser jüngstes Töchterchen geboren worden. Unser häusliches Glück war nun ungetrübt. Wie Sie Eduard gestern und heute gesehen haben, so zeigte er sich die ganze Zeit – mir, seinen Kindern, seinen Mitbürgern. Mit vollstem Recht genießt er die allgemeine Liebe und Achtung. Sie sind ja Zeuge gewesen, wie dankbar man ihm ist.

Mir jedoch, lieber Freund, hat’s nicht aus dem Sinn gehen wollen, ob meine Entscheidung damals wirklich die richtige gewesen ist. Verdiente ich dieses Glück? Sie, der Sie außen stehen und doch uns beiden nahe genug, sehen vielleicht mit klareren Augen. Ach, Sie wissen nicht, wie mir die Seele zagt – –“

Ich reichte ihr die Hand über den Tisch hinüber.

„Sie können ganz ruhig sein,“ sagte ich ihr, Sie waren sein guter Engel. Hätten Sie ihn seinem Schicksal überlassen, er würde sich im vergeblichen Kampf um den Lorbeer des Dichters zu Grunde gerichtet und der Welt nichts genützt haben. Es giebt solche Begabungen, die einen gewaltigen Anlauf nehmen, aber über eine halbe Höhe nicht hinaus kommen. Wohl dann noch denen, die sich auf der Spitze wähnen, weil sie nicht über sich sehen können! Wer aber den Blick in ferne Höhen hat und nicht das Vermögen, sich zu ihnen aufzuschwingen, der ist ein Unseliger, wenn er sich losgelöst hat von allem, was den Menschen am Menschen hält und uns Mittelmäßigen die Erde als einen schönen Garten erscheinen läßt, der die redliche Arbeit lohnt. Man will den Satz nicht gelten lassen, das Genie breche sich unter allen Umständen Bahn; aber ich glaube doch an ihn. Beweist es sich nicht, so ist es nicht. Und das soll man mir am wenigsten einreden, daß es nur bestehen könne bei einem Verzicht auf häusliches Glück und reinmenschliches Mühen. Es ist Geist vom Geiste und wird von des Lebens Wohlthat so wenig berührt als von des Lebens Noth. Hätten Sie unrecht gehabt, unser Freund wäre trotzdem geworden, was er nun, da Sie im Recht waren, nicht geworden ist. Aber durch Sie, durch Ihre Liebe ist er davor bewahrt worden, an seiner Unzulänglichkeit zu Grunde zu gehen. Wie viel ist das, daß er ein glücklicher Mensch geworden ist!“

Wir hatten beide nicht bemerkt, daß Eduard vor die Laube getreten war und jetzt am Eingang stand. Vielleicht hatte er meine letzten Worte gehört, da ich sie mit lauter Stimme sprach. Er nickte wie zustimmend und legte lächelnd die Hand auf die Schulter seiner Frau, die erschreckt zurückblickte.

„Nun?“ fragte er, „hast Du’s vom Herzen herunter, Liebste?“

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