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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

weich sein könne, und, so viel sie sich erinnerte, nie Thränen bei ihr gesehen. Sie erklärte sich diese Thränen nun von ihrem Standpunkt. Wie natürlich, daß es der Armen einmal zum Bewußtsein kam, wie sehr man sie zurücksetzte – und wie begreiflich, daß sie nun weinte vor Kummer, sich von all den schönen Vergnügungen ausgeschlossen zu finden, während die Ihrigen sich amüsierten! In solchem Sinne sprach denn auch das Fräulein mit ihrer murmelnden Stimme tröstend in Rahel hinein.

Diese aber hörte gar nicht auf sie. Ihr Herz war getroffen worden wie von einem Dolchstich. So kalt, so fremd schrieb die Schwester! War das Maske? Entsprach es der Wirklichkeit? Konnte ein weibliches Wesen so schnöde, so verschlossen, so hochfahrend sein? Keine Frage: wie geht es Dir? Und mehr noch, keine Frage nach allem, was sie hier bei ihrer fluchtartigen Abreise zurückgelassen hatte! Kein Wort über Clairon, keines über Lüdinghausen! War denn Leas Herz geworden wie ein Stück todter Schlacke? Glühte nicht einmal mehr eine letzte Wärme der Erinnerung darin? Trieb es sie gar nicht, vertraulich und zart bei der Schwester anzufragen: wie lebt er? Wohin ist er gegangen?

Und drängte ihr Gewissen sie nicht, nach dem andern zu fragen, mit dem sie so frevelhaft gespielt hatte?

Rahel erglühte in Schmerz und Entrüstung. Wieder ward sie sich bewußt, wie grenzenlos die Selbstsucht der Schwester war, wie alles nur ihrem eitlen Ich dienen mußte. Und in dieser Selbstsucht war Lea mit leichtfertiger Miene und tändelnden Schritten über Rahels Zukunft hingegangen und hatte sie zertreten.

Lüdinghausen hätte sie geliebt – o, Rahel fühlte es deutlich – wenn die andere nicht gewesen wäre, die ihn gebieterisch an sich lockte. Er liebte sie vielleicht jetzt trotz alledem, Rahel ahnte es in seligem Bangen. Aber die Handlungsweise der Schwester stand für immer trennend zwischen ihnen. Eine Vereinigung mit ihm war unmöglich. Gerade Rahel war die letzte, welche er wählen konnte. Alle Welt würde sagen, sie habe seine Verlobung mit Lea verhindert, um ihn selbst zu gewinnen. Lea hatte das gleich angedeutet. Und er, der Stolze, Tiefbeleidigte, würde er jemals wieder seinen Fuß über die Schwelle dieses Hauses setzen?

In der Nacht, die folgte, schlief Rahel kaum. Sie rang ehrlich mit sich, die Feindschaft gegen die Schwester gleich im Keime zu ertödten. Sie wollte und mußte die Ihrigen lieben. Ohne diese Liebe schien ihr das Leben werthlos.

Die folgenden Wochen brachten es denn auch mit sich, daß Rahel ihre Sorge und ihr Mitleid für Lea wiederfand und das eigene Weh mehr zurückdrängte.

Jedesmal wenn Onkel Raimar kam, wußte er Neues über Clairons Bruder zu berichten.

Rahel selbst hatte es durchgesetzt, sich von allem Verkehr fernzuhalten, so war Raimar allein ihre Verbindung mit den bisherigen Kreisen.

Clairon schrieb offenbar sehr oft an Ehrhausen. Wer konnte ermessen, ob es nicht in der Absicht geschah, daß die Mittheilungen nach Römpkerhof weitergelangen sollten, um mahnend an Leas Ohr zu dringen! Denn sie waren wie ernste Trauertöne, diese Nachrichten. Und obgleich Rahel selbst den Ihrigen kein Wort von diesen Dingen zukommen ließ, wußte sie doch, daß Lea alles erfahre, denn Raimar verfehlte nicht, haarklein an Römpker davon zu schreiben.

Graf Clairon-Westernburg schwebte seit jenem Sturz noch immer zwischen Leben und Tod. Seine junge, zarte Frau hatte infolge des Schreckens zu früh ein Knäblein geboren, welches noch an demselben Tag gestorben war.

Rahel versetzte sich in die Stimmung Clairons hinein. Wie entsetzlich das sein mußte, den einzigen, geliebten Bruder in solchen Leiden zu sehen und dabei zu denken, daß deren Ende ihn selbst reich und zum Herrn der Familie machen würde!

Welch grausamer Hohn des Geschicks! Der Mann, welcher für Leas Hochmuth nicht unabhängig genug gewesen war, dem ihre Liebe nicht in bescheidene Verhältnisse folgen wollte – er sollte nun reich und frei werden!

Von allen Wünschen, welche für die Genesung des Grafen Clairon-Westernburg himmelan stiegen, waren die aus Rahels Seele gewiß die heißesten. Ihr schwindelte, wenn sie daran dachte, was in Lea vorgehen mußte, wenn sie vernahm: Robert Clairon hat das Majorat erhalten.

Und Clairon! Was mußte ihn dann bewegen, ihn, der so ehrenhaft und männlich gehandelt hatte, allen Versuchungen des eigenen Herzens zum Trotz!

So kam das Weihnachtsfest heran, und es mochten kaum noch vierzehn Tage bis dahin sein, als Raimar mit der Entscheidung eintraf. Er trat sehr ernst ein. Das war so ungewohnt bei ihm, daß Rahel auf der Stelle errieth, welche Nachricht er bringe.

Er zog einen Brief mit Trauerrand heraus und einen andern, sehr zerknitterten.

„Diese Traueranzeige,“ begann er und setzte sich ans Fenster, „meldet mir den Tod des älteren Grafen Clairon. Sie ist unterzeichnet vom Grafen Robert Clairon-Westernburg.“

Rahel sank in einen Stuhl, sie weinte nicht, sondern starrte wie entgeistert vor sich hin. Fräulein Malchen aber schluchzte um so mehr.

„Du wirst es Lea mittheilen,“ sagte Raimar, während er den zweiten Brief entfaltete. „Vorbereitet sind sie ja.“

„Nein,“ sprach Rahel tonlos, „ich kann ihr nichts darüber schreiben, keine Silbe.“

„Schicken Sie doch einfach die Todesanzeige, Fräulein Malchen,“ bat Raimar, der sich außerstande sah, eine solche Botschaft zu übermitteln.

„Ich werde meine arme Alide bitten, es Lea sanft beizubringen,“ sagte Malchen.

„Also gut! Und hier ist noch ein Brief, fast nur ein Zettel, an Ehrhausen von Clairon. Ehrhausen hat ihn mir gegeben. Da, Rahel, willst Du lesen?“

Rahel stand auf, nahm den Brief und überflog ihn für sich.

 „Mein treuer Kamerad und Freund!

Mit fliegender Feder und zitternder Hand das Furchtbarste: heute hat der Arzt erklärt, meines Bruders Ende sei längstens binnen vierundzwanzig Stunden zu erwarten. Wollte Gott doch mein Leben nehmen anstatt dieses theuren, unersetzlichen. In schrecklicheren Gefühlen wurde kaum ein Erbe angetreten als das, welches ich auf mich nehmen muß. Aber vielleicht ist Gott noch barmherzig. Es geschieht vielleicht noch ein Wunder. Und dies arme, junge Weib! O, Ehrhausen – mein Dasein soll fortan ihr und dem Geist meines edlen Bruders geweiht sein. Geht er von hinnen, dann werde ich nur leben, um so zu wirken, wie er es wollte. Eins stärkt mich: in seinen letzten klaren Augenblicken hat er mich noch gelobt um meiner Haltung willen gegen jene, die ich nicht nennen mag. Seine Zufriedenheit wird die Wunden heilen helfen. Denken Sie meiner, Ehrhausen!

Ihr unglücklicher Clairon.“ 

In tiefster Erschütterung blieb Rahel stehen. Nein, es war kein Wunder geschehen, und Clairon hatte seinen Bruder begraben müssen. „Ja,“ sagte sie leise, „Clairon ist ein edler Mensch, und für seine kurze Schwäche hat er hart gebüßt.“

„Man fühlt auch aus diesem Brief, daß der Gedanke ihm ganz fern liegt, sich nun doch noch mit Lea zu vereinigen,“ bemerkte Raimar.

„Hast Du das überhaupt für denkbar gehalten?“ rief Rahel.

Der gute Raimar hatte in manchen Punkten ein bißchen bequeme Ansichten und neigte stets zu dem Glauben, daß sich alle Risse zusammenkitten ließen.

„Du fährst mich ja gerade so an, wie Lüdinghausen es zu thun beliebte,“ sagte er, halb verlegen scherzend. „Der entgegnete mir mit derselben Frage.“

„Ah!“ rief Rahel mit leuchtenden Blicken, „ich wußte es. Er denkt in allen Fragen wie ich.“

„Ja, sehr merkwürdigerweise,“ gab Raimar vergnügt zu.

Und dann fing er an, eine lange Rede über das bevorstehende Weihnachtsfest zu halten, welches er sonst alljährlich hier auf Römpkerhof gefeiert habe. Er bestand darauf, daß die Damen zu ihm kommen müßten und daß er für einen solchen Tag Fräulein Malchens Weigerung nicht gelten lasse.

Natürlich richtete er nichts aus, denn das alternde Fräulein blieb dabei, daß es sich nicht schicken würde.

Raimar dachte, daß für seine Zwecke alle Mittel heilig wären, und log dem guten Fräulein vor, daß Römpkers eine Weihnachtskiste für die Damen an ihn senden wollten, damit er ihnen aufbaue.

Ja, wenn ihre liebe Alide selbst sie auf diese Weise zwang, mußte Malchen wohl diese Kühnheit wagen.

Hoffentlich, beschwichtigte sie sich, wird er nicht so taktlos sein, mir in seinem Hause den Hof zu machen. Und dabei war sie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 463. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_463.jpg&oldid=- (Version vom 3.9.2023)