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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

sich mit einem schwachen Lächeln nach dem Garten um. „Es ist so hübsch hier, ich werde mich ein paar Minuten in die Laube setzen.“

Dort sank er vernichtet auf die Bank.

„Das sieht ihm ähnlich,“ klagte er, „das sieht ihm ähnlich!“

Allein sofort nahm er den Onkel vor sich selbst in Schutz. Konnte dieser wissen, wie es seinem Neffen unter den Nägeln brannte? ahnen, daß „der Herr Vetter Amtsrichter“ –

Er wischte den Schweiß von der Stirn.

Mit matten Augen blickte er auf die Blumenpracht vor der Laube, und das Wort des Schreibers fiel ihm ein: „Blumen sind vor uns sicher.“

Vor Vitus tauchte das fahle Gesicht des Verbrechers auf, sein geschorenes Haar – „Sammetkopf“ heißt man es in der Gaunersprache – und er fühlte die Lumpen des entlassenen Sträflings auf seinen Schultern.


6.

Es kam nicht, wie der Richter erwartet hatte; gerade in der gefürchteten Amtsstube fand er wieder Ruhe und Entschlossenheit. Er eins mit dem achtmal bestraften Schreiber? Zum Lachen! Am Ende auch eins mit dem „Pfannen-Gide“! Er warf den Kopf in den Nacken. Außer Ida und ihm selbst wird in alle Ewigkeit niemand um sein Vergehen wissen; er selbst ist sein Richter in dieser Sache und erkennt auf „Nichtschuldig“, denn die verbrecherische Absicht hat gefehlt.

„Strobel!“

Der Amtsschreiber in der Nebenstube, über den ungewohnt herrischen Ton erschrocken, stolperte eilig herein.

Vitus erzählte ihm seine Begegnung mit dem Schreiber. Der Garten dürfe kein Schlupf für allerlei Gesindel werden, man müsse deshalb den Steig vom Schloß zum Lugaus unbegehbar machen, heute noch.

Strobel kraute sich hinterm Ohr. Sein Gewissen war in dieser Sache nicht rein. Wie Ida ahnte, benutzte er zuweilen die Hinterthür und den Weg durch die Wildniß zu einem letzten Abstieg in den Schloßkeller, wo es im Bräustübchen immer eine gemüthliche Gesellschaft ohne Polizeistunde gab.

„Herr Amtsrichter,“ erwiderte er, „heute wird’s schwer fallen, Arbeiter zu finden, alle Hände sind am Fluß nöthig. Der steigt und steigt. Ich war heute früh in den Auen, greulich! Die niedrigeren Stege sind schon alle unter Wasser. Das Fährhaus ist eine wahre Arche Noäh. Natürlich, bei einer solchen Hitz’ müssen ja die ältesten Gletscher schmelzen.“

Die andauernde Hitze! Alle mit Ausnahme des Richters schienen unter ihr zu leiden. Sogar der gefürchtete Doctor juris Taxenbichler, der Rechtsanwalt, war weniger redselig und einwandreich als gewöhnlich. Sämmtliche Vorgeladenen trafen in Schweiß gebadet ein und waren kleinlaut und merkwürdig versöhnlich. Die Verhandlung in einer Scheidungssache mußte vertagt werden, weil weder „er“ noch „sie“ sich einstellte, denn sie wohnten auf dem jenseitigen Ufer. Die Abwesenheit eines Zeugen wurde ebenso triftig wie traurig damit entschuldigt, daß den Mann gestern der Schlag gerührt habe.

Vitus Müller legte im Gegensatz zu allen andern eine außerordentliche Arheitsgewandtheit und Arbeitsfreude an den Tag. Er gedachte, alles Dringliche am Morgen zu erledigen, um mit dem Zuge um zwei Uhr nach Steinberg fahren zu können. Der „Rappe“ in Steinberg war ein vortreflliches Gasthaus mit weitberühmter Küche und deshalb wohl von nachhaltiger Anziehungskraft für den Onkel Anton. Nach aller Wahrscheinlichkeit war also dieser noch in Steinberg. Was wird er ihm sagen? Die Wahrheit! Und wenn das Herz des Geldmannes von einem ehernen Ring umschlossen wäre, dieses Geständniß müßte selbst das Erz sprengen!

Endlich schlossen die Verhandlungen, und das Gerichtszimmer leerte sich. Als Vitus allein war, verwahrte er vorsichtig wie vor einer langen Reise alle Schriftstücke in seinem Schreibtische, zuletzt die eiserne Kasse in einem alten eichenen Schrank. Mit der gleichen Gewissenhaftigkeit wie alle Tage seiner langen Dienstzeit sperrte er die Eingangsthür ab und drückte zur Probe nochmals auf die Klinke. Dabei überlegte er bereits die morgende Tagesordnung. Alles gut, er kann reisen! Und während der hundert Schritte in seine Wohnung machte er schon den Weg nach Steinberg. Aus dem Brodem des Bahnhofes ins heiße Freie, stromauf durch Wiesengründe in die Berge. Er sah die wohlbekannte laubumrankte Wartehalle von Steinberg, im Hintergrunde das Dorf, den schlanken spitzen Kirchthurm und die verwitterten Felsenwände. Dicht bei der Kirche steht der Gasthof „Zum Rappen“ …

Ida eilte dem Gemahl entgegen und riß ihn aus seinen Gedanken. Sie hatte eine große weiße Schürze um. „Kommt Helmuth zu Tisch?“ fragte Vitus, der sich diesen Aufzug nicht anders erklären konnte.

„Nein, Helmuths Kameraden sind von ihrem Ausflug zurück und haben ihn zu einem Besuch bei Landraths gepreßt; einer von ihnen ist ein Neffe der Frau von Zorn. Helmuth wollte nicht mit, da stürmten sie mir ins Haus, und Verena und ich mußten ihn zwingen. Habt ihr denn den Höllenlärm, den die Jungens machten, nicht bis hinüber gehört?“

„Zum Landrath?“ wiederholte Vitus zerstreut. „Ein weiter Weg und immer in der Sonne.“

„Ach was, dafür sind sie Soldaten! Sie haben’s nicht heißer als ich in der Küche.“

„Aber warum bist Du in der Küche?“

„Was treibt den Weidmann in den Wald?“ sang sie – nur drei Takte, doch das Wenige falsch. „Du bekommst heute Dein Leibgericht.“

„Wie liebenswürdig Du bist! Indessen –“ setzte er hinzu, in der Erinnerung an die letzte Küchenüberraschung, die durchaus nicht fertig werden wollte, „ich mache Dich darauf aufmerksam, daß ich um zwei zur Bahn muß.“

„Amtlich?“

Sie waren in die Wohnstube getreten. „Verena?“ fragte der Richter mit einem bezeichnenden Blick.

„In der Küche. Niemand hört uns.“

Dennoch dämpfte er seine Stimme. „Onkel Anton kommt heute nicht, sondern erst in vierzehn Tagen. So fahre ich ihm nach.“

„Bravo! Dürfen wir mit?“

„Meine liebe Ida, es gilt eine traurige Fahrt und es ist klüger, wenn ich allein reise. So Gott will, kehre ich mit dem nächsten Zug zurück.“

„Bitte, bitte, nicht finster werden! Wer verzagt, der verliert. Wenn der Onkel nicht hilft, schaffe ich Rath. Der Bürgermeister ist mein Freund; ich wäre nicht die erste Frau, die heimliche Schulden hat!“

„Das niemals! niemals!“ rief er leidenschaftlich. „Du solltest – was fällt Dir ein! Lieber machen wir all unser Hab und Gut zu Gelde! – Du glaubst also, daß ich vergeblich nach Steinberg gehe?“

„Wie Du meine Worte verkehrst! Natürlich hilft der Onkel, wenn Du ihm bestimmt entgegentrittst. Lehre mich die Gevattern kennen! Aber jetzt verzeih’, weder Verena noch die Köchin dürfen Hand anlegen –“

Und fort war sie. Vitus grübelte über ihren Vorschlag nach. Der Bürgermeister, ein reicher Mann, rauh, doch gutherzig – der Bürgermeister würde dem Amtsrichter keinen abschlägigen Bescheid geben, und mit Verenas Heirath ließe sich der Schritt erklären. Indessen, Ida galt bisher als reich. Wenn der Bittgang ruchbar wurde – und was bliebe in Hohenwart geheim! – zuckte man nicht über ihn, sondern über die „Frau Baronin“ die Schulter. Einmal im Lästermund, blieb sie es immer – Still! noch war der nächste Schritt ungethan. Sein Blick fiel auf das Bild seiner verstorbenen Mutter. Wenn die Abgeschiedenen von unseren Schmerzen wissen – arme Mutter! Er betrachtete das gutmüthige Gesicht. Ihr Bruder Anton hat keinen Zug von ihr, mußte er denken. Aber die Blutsgemeinschaft ist wichtiger als Aehnlichkeit.

Mutter und Tochter kamen und hingen sich an ihn.

In dieser holden Nähe, beim Klang der lieben Stimmen empfand der Richter nur noch den Willen zum Leben. Je wärmer ihm das Herz wurde, desto leichter dünkte ihn seine Schuld. Die Reue blickt rückwärts, sie ist nicht fruchtbarer als Müßiggang; schaff’ das Geld und dann vergiß! Und wenn das Gestern wirklich seine fünfzehnjährigen guten Dienste zu nichte gemacht hätte, seine Zukunft soll es nicht verwirren! Er fühlt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 504. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_504.jpg&oldid=- (Version vom 3.12.2023)