Seite:Die Gartenlaube (1891) 514.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

klassischen Lesekränzchen von Kronfurth, sondern anderswo – in der Welt draußen! Ein Mädchen von Herz und Geist, schlicht in Erscheinung und Wesen, ernst in der Auffassung des Lebens, fröhlich in der Erfüllung der Pflichten, fähig, in guten wie in bösen Tagen des Mannes treue, verständnißvolle Gefährtin und Beraterin zu sein! Wie wollte er ihr, dieser Verborgenen, Namenlosen, das Glück danken, welches sie ihm gab! Wie wollte er ihr Dasein reich und hell machen, wie sollte sie ihr Wesen frei ausgestalten dürfen, nur durch das eigene Gefühl gebunden und regiert! Herrliche Träume, an denen das sehnsüchtige Herz sich erwärmte! Aber selbst wenn die Namenlose irgendwo vorhanden war, welcher unter den zahllosen, die Erde kreuz und quer durchschneidenden Fahr- und Fußwegen führte zu ihr? Wenn sie war, wie er sie dachte und wollte, fand er sie auf dem großen Markte nicht! Viel eher saß sie gleich ihm in irgend einem einsamen Erdenwinkel und träumte den gleichen unerfüllbaren Traum. Aus derartigen Lebenslagen und Empfindungen mochten manche jener unzart oder überspannt erscheinenden Zeitungsanfragen hervorgehen, über welche dann die Welt, wie heute Frau Edith, hart und absprechend urtheilte. Er selbst hatte ja bis zu diesem Abend wie die Menge gedacht. Und im Grundsatze mußte seine Ansicht von der Sache auch stehen bleiben. Indessen der einzelne Fall sprach doch wohl für sich selbst und konnte unter Umständen eine besondere Beurtheilung beanspruchen.

Hier zerriß der Gedankenfaden; rauhes Hundegebell ertönte, und Claudius, aus seinem Traume erwachend, gewahrte, daß er schon in Hermannsthal angelangt war. Das Herrenhaus lag einige Minuten von den Fabrikgebäuden entfernt sehr malerisch am Saum eines prächtigen Laubwaldes. Es war ein großer, seltsamer Bau, dessen wunderliche Eigenart wohl mehr der Willkür des Urgroßvaters von Claudius als dem Plane des Baumeisters ihre Entstehung verdankte. Letzterer mochte durch den wenig verfeinerten Geschmack des Fabrikherrn in stille Verzweiflung versetzt worden sein, schließlich aber dennoch seine Künstlerehre dem klingenden Vortheil des Geschäftes geopfert haben. Und so erstanden denn die großen, alterthümlichen Bogenfenster, die rundkuppeligen Seitenthürme mit ihren vieleckigen Erkern, die breite, von steinernen Drachen bewachte Freitreppe, sie erfreuten sich noch heute ihres Daseins und gefielen – allen Gesetzen des reinen Stils und guten Geschmacks zum Trotze – ausnahmslos jedermann auf den ersten Blick.

Weniger gewiß ließ sich das von dem soeben auf der obersten Treppenstufe erscheinenden Herrn Florian Amadeus Kalbfleisch behaupten, obschon besagte Persönlichkeit in ganz Hermannsthal nicht anders als der „schöne Amadeus“ genannt wurde. Dieser schmeichelhafte Beiname hing ihm aus der Vergangenheit an und mochte einstens gepaßt haben – einstens, da die lange, dürre Gestalt jung und geschmeidig, das spärliche blonde Haar glänzend und voll, die gerade, spitze Nase noch nicht roth gewesen war; einstens, da Herr Florian Amadeus noch nicht daran dachte, von seinen künstlerischen Bedientenrollen auf einem leidlich guten Provinzialtheater zum prosaischen Diener des Besitzers von Hermannsthal herabzusteigen. Das „Herabsteigen“ war übrigens nur bildlich zu nehmen. In Wahrheit befand sich der schöne Amadeus heute und hier um vieles besser als in der sogenannten Ruhm- und Glanzperiode seines Lebens, in welcher es neben eingebildeten Triumphen wirklichen Mangel, wirkliche Entbehrungen an allen Ecken gegeben hatte. Das Schicksal wollte dem armen Burschen aufrichtig wohl, als es ihn eines Abends zu unrechter Zeit in einer Versenkung verschwinden ließ und damit seiner künstlerischen Laufbahn ein jähes Ende bereitete. Der Unfall hatte einen Beinbruch, dieser lebenslängliches Hinken zur Folge, und so sah der ehrgeizige und begeisterungsvolle Jünger Thalias seine Theaterlaufbahn vernichtet, sich selbst einer ungewissen Zukunft preisgegeben. Aber das Schicksal vollbrachte seine Arbeit nicht halb, es führte dem Rathlosen in dem damaligen Besitzer von Hermannsthal einen Schutzpatron zu.

Doktor Claudius der Onkel besaß wie mehr oder minder jeder seines Namens und Stammes eine angeborene Hinneigung zum Ungewöhnlichen, eine Vorliebe für alles, was abseits vom ausgetretenen Wege des Althergebrachten lag. Er hatte des schönen Amadeus schreckliches Geschick, auf offener Bühne mit einem Präsentierbrett voller Flaschen und Gläser urplötzlich von der Erde verschlungen zu werden, zufällig miterlebt und den in dem Lustspiel nicht vorgesehenen „Zauber“ nicht gleich den übrigen Zuschauern als einen guten Witz belacht, sondern sofort theilnehmende Erkundigungen eingezogen. Das Ergebniß derselben veranlaßte ihn dann, dem schönen Amadeus zunächst eine Unterstützung zutheil werden zu lassen und ihn schließlich, als er brotlos geworden war, in seine Dienste zu nehmen. Weder Herr noch Diener fanden jemals Anlaß, diese Schicksalsfügung zu beklagen. Dagegen erheiterte der ehemalige Komödiant die letzten Lebensjahre des kränkelnden Fabrikherrn durch seinen auf vergangenen „Künstlerfahrten“ eingeheimsten, unerschöpflichen Vorrath an lustigen Vorträgen und abenteuerlichen Theatergeschichten recht erheblich.

„Du bist wahrlich ein begabter Bursche,“ pflegte der alte Herr zu sagen, wenn er wieder einmal die wohlthätige Wirkung eines zwerchfellerschütternden Lachens an sich verspürt hatte, „und ich glaube gern, daß bei geeigneter Ausbildung etwas Besonderes aus Dir geworden wäre.“

„Es hat schon mancher trotz einer von Hause aus vernachlässigten Erziehung hohe Ziele erstrebt und auch erreicht, Herr Doktor,“ lautete gewöhnlich die Entgegnung; „so hoffe auch ich durch Kraft und Ausdauer –“

„Ja, ja – die ‚Nachteule‘, lieber Amadeus,“ unterbrach ihn dann wohl der alte Herr mit zustimmendem Kopfnicken, „die ‚Nachteule‘!“ Und obgleich das ein bißchen spöttisch klang, bildete es doch allemal das Stichwort, auf das hin der schöne Amadeus mit dem Auskramen seiner innersten Gedanken, Absichten und Pläne begann.

Die „Nachteule“! Das war sein Lebenstraum, war der Schlüssel, mittels dessen er sich dereinst die Pforten des Nachruhms zu erschließen hoffte.

„Noch nicht heute oder morgen, Fräulein Mertens, wissen Sie,“ äußerte er in mittheilsamen Augenblicken zu der Küchenbeherrscherin, seiner zweiten Vertrauten. „Ich habe gar keine Eile damit, denn Hermannsthal, wo mir des Doktors Bibliothek und vollauf Zeit zu den erforderlichen Studien zur Verfügung steht, das ist gerade der richtige Ort, um mein Volksschauspiel, ‚Die Nachteule‘, zu einer des Gegenstandes würdigen Vollendung ausreifen zu lassen.“

Ein Umstand – und gerade dieser bildete das heimliche Band, welches den schönen Amadeus fester als irgend ein anderes an Hermannsthal knüpfte – blieb unerwähnt: daß Doktor Claudius seine angebrochenen Wein- und Rumflaschen stets offen umherstehen und zum Ueberfluß auch noch den Kellerschlüssel frei an der Anrichte hängen ließ und so dem Dichter der „Nachteule“ die unschätzbare Gelegenheit bot, sich für sein schwieriges und anstrengendes Werk noch aus andern Quellen als den trockenen alten Lederbänden der Bibliothek Kraft und Begeisterung zu schöpfen!

Der Besitzwechsel auf der Fabrik veränderte nichts. Doktor Claudius der Neffe hatte den schönen Amadeus testamentarisch mit übernommen und stand auf dem besten Fuße mit ihm, wenn er auch keinen besonderen Sinn für Theatergeschichten und keinerlei Antheilnahme für das Gedeihen der „Nachteule“ an den Tag legte.

„Unser jetziger Herr ist nicht so poetisch veranlagt als der vorige,“ erklärte Amadeus gelegentlich der Königin des Küchenreiches. „Aber aus diesem Mangel darf ihm natürlich kein Vorwurf gemacht werden.“

„Natürlich nicht,“ erwiderte die Mertens ohne eine Ahnung, um welchen „Mangel“ es sich eigentlich handle. „Natürlich nicht! Und eine Frau wird er doch wohl trotzdem bekommen, Herr Amadeus, wie?“

„An jeden Finger eine, wenn er nur wollte! Scheint jedoch in dieser Hinsicht seinem Herrn Onkel nachzuarten. ‚Süß getrunken, sauer bezahlt!‘ sagte der in Bezug auf die Ehe und blieb ledig!“

Damit griff der schöne Amadeus zur Lampe, um dem heimkehrenden Gebieter entgegenzugehen. Es war der Abend, an welchem Doktor Claudius den Weg von Kronfurth nach Hermannsthal wie im Fluge zurücklegte, an dem ein lichter, lieblicher Traum von Zukunftsglück an seiner Seite ging! Der schöne Amadeus – er konnte in seiner Abendgewandung, einem gestrickten grauen Wams und einer dito Hausmütze mit Ohrenkappen, recht wohl für das Titelbild seiner dramatischen Dichtung gelten! – verscheuchte das Gesicht. Aber es kehrte zu mitternächtiger Stunde dem einsam wachenden Fabrikherrn in verdoppelter Lieblichkeit zurück.



Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 514. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_514.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2023)