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verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Soviel und kein Wörtlein mehr schrieb Nummer fünf, und Gerlach mußte gestehen, daß ihre zweite Kundgebung gleichfalls nicht unter Zuhilfenahme eines Komplimentierbuches verfaßt sein konnte. „Ich nehme meinen Verdacht reuevoll zurück,“ scherzte er. „Sie bleibt sich treu. Sie ist offenbar von Natur ein stachliges Ding! Mein Fall wäre das nicht!“

„Aber meiner!“ entgegnete Claudius lebhaft. „Und heute abend will ich mir die Erlaubniß dieser dornenreichen Rose zu nutze machen.“

Als die Geschäfte des Tages erledigt waren, zog sich Claudius in sein Heiligthum zurück, um die Antwort für Nummer fünf zu entwerfen. Allein das rechte Wort für den Anfang wollte leider nicht kommen. Trotz der friedlichen Abendstille, trotz der Havanna, einer Mitarbeiterin von erprobter Tüchtigkeit, trotz der Fülle an Stoff wollte die Sache nicht in Fluß gerathen. Da trat plötzlich etwas wie eine Wolke, etwas Lichtes, unbestimmt Gestaltetes in Ernsts Erinnerung, da stand es fast greifbar vor seinen Augen – sein Traumbild, die verschleierte Gestalt seiner „Namenlosen“! Und ebenso plötzlich floß diese mit der jener geheimnißvollen Korrespondentin in eins zusammen! Und da begann auch schon seine Feder ganz leise, wie von selbst, über das Papier zu laufen.

  „Mein Fräulein!
Zunächst muß ich Ihnen sagen, daß die Zurechtweisung, welche Sie mir ertheilen wollten, ihren ursprünglichen Zweck zweimal verfehlt hat. Erstens empfand ich beim Lesen Ihres Briefes statt der mir zugedachten, unangenehmen Ueberraschnng ein aufrichtiges Vergnügen, zweitens enthielt er fast nichts, was ich mir nicht vorher schon selbst gesagt hätte!

Warum aber sandte ,Herr Freimuth aus Grützburg’ ein derartiges Inserat in die Welt, wenn er sich über dessen Wirkung auf jedes wohlerzogene, feinfühlige Mädchen im voraus so klar war? höre ich Sie fragen.

Ja, mein Fräulein, um das zu begreifen, müßten Sie meine ganze Lebens- und Entwicklungsgeschichte kennen, müßten wissen, wie weltfern, wie einsiedlerisch ich meine Jünglingsjahre verbracht habe. Das Schicksal gab mir damals keine Zeit, mit den Frauen Fühlung zu suchen. So lange es jeden Tag Neues zu lernen und Erlerntes in Thaten umzusetzen galt, ward mir der Mangel in meinem Dasein nicht fühlbar; jetzt, da ich Zeit habe, von selbstgewonnenen Lebenshöhen zurückzuschauen, empfinde ich es plötzlich, daß ich alleinstehe! Und aus diesem neuen, fremden ,Heimwehgefühl’ heraus entstand jenes thörichte Inserat! Allerlei äußere Eindrücke, unterstützt durch den Zauber des nahen Weihnachtsfestes, machten mich auf einige Tage beinah wundergläubig, wie ich es einst als Kind gewesen war. Ich meinte, es müsse irgendwo eine gleichgestimmte Seele sein, die mir vom Himmel bestimmt sei, die auf meinen Ruf antworten werde. So entschloß ich mich zu jenem Inserat, das sofort versandt wurde. Bei einem für gewöhnlich nichts weniger als empfindsamen Geschäftsmanne können Stimmungen der geschilderten Art – und stiegen sie auch aus den natürlichsten Quellen – naturgemäß nicht lange anhalten. Das Alltagsgesicht seiner Umgebung, die trockene Einförmigkeit seines Lebens verscheuchen schnell genug die dichterischen Träume, welche ihn vielleicht einmal heimlich in stiller Raststunde aufsuchen, wenn irgend eine äußere Anregung besondere Saiten in seiner Seele zum Tönen gebracht hat. So erging es auch mir. Auf den Gefühlsrausch folgte schnell das Erwachen und brachte Erkenntniß und Reue mit. Aber was half das? Lief doch meine Thorheit bereits gedruckt durch die Lande! Ich beschloß, der Sache den Rücken zu kehren, sie zu vergessen. Selbst die etwa einlaufenden Antworten sollten ungelesen bleiben. Ihnen zu erzählen, was mich diesem Entschlusse schließlich doch noch untreu machte, würde zu weit führen. Ich wiederhole nur, daß Ihr Schreiben mich außerordentlich angesprochen hat. Sie besitzen Muth und innere Selbständigkeit, jenen richtigen Stolz, ohne welchen ein echtes Weib nicht denkbar ist; kurz und gut, Sie verhalfen mir zu der angenehmen Erfahrung, daß es Mädchen von der Art meiner ‚Erträumten‘ in der That auch heute giebt! … Eines nur hätte ich von jener, von meiner Erträumten, anders erwartet: die Form der Zurechtweisung; ich vermisse darin neben dem Spott die weibliche Milde, die Töne eines freundlichen Herzens.

Sehen Sie, mein Fräulein, ich mußte Ihnen das sagen! Sie sollen ein wahrheitsgetreues Bild des Mannes erhalten, auf welchen Sie Ihre scharf gespitzten Pfeile gerichtet haben, sowie der Eindrücke, die der Gemaßregelte empfing. Das ist der Zweck meines Briefes. Die Hoffnung, bei Ihnen nach dieser rückhaltlosen Aussprache einiges Verständniß und im Anschluß daran richtigere und wohlwollendere Beurtheilung zu finden, wird das freundlichste Lichtlein meines einsamen Weihnachtsabends sein.
Freimuth.“     

Der Brief war ganz anders ausgefallen, als Claudius ursprünglich im Sinne hatte; gern würde er einiges, zumal den gefühlsseligen Schlußsatz, gestrichen haben, allein er entschloß sich nach besserer Ueberlegung, das Schriftstück unverändert abzusenden. Handelte es sich doch für ihn hauptsächlich darum, daß das Mädchen ihn und sein Verhalten so bald als möglich im richtigen Lichte sah, selbst wenn sie niemals wieder von einander hörten.




4.0 Was der Weihnachtsmann brachte.

Wie alljährlich so auch diesmal hatten Eberhards den Doktor Claudius zur Feier des Christabends in ihr trauliches Heim eingeladen, und wie alljährlich hatte er diese Einladung abgelehnt. Er wollte ruhig daheim bleiben und den Abend mit einem vernünftigen Buche zubringen.

In Kronfurth waren inzwischen Gerlachs geheimnißvolle Ritte nach der Nachbarstadt bekannt geworden und man machte sich seinen Vers darauf; natürlich einen, der die Wahrheit nicht im entferntesten streifte. Frau Edith war recht böse, als ihr die schön ausgeschmückte Mär durch die jüngste und unternehmendste Trägerin eines Mozartzopfes zugebracht wurde.

„Albert soll eine Liebelei mit der Grützburger Postmeisterstochter angebändelt haben! Wie findest Du das?“ sagte sie gleich nach Aufbruch der Besucherin höchst aufgebracht zu ihrem Gatten. „Das Mädchen hat gar keine Erziehung und nicht einen Heller Vermögen! Da müssen wir sofort eingreifen!“

„Zunächst empfiehlt es sich, die Nachricht auf ihre Begründung zu prüfen, Mäuschen,“ erwiderte der bedächtigere Professor.

„Emmy Weinland, von der ich die Sache gehört habe, lügt nicht, lieber Mann.“

„Nein, aber sie verbreitet Erlogenes, und das ist fast gleichbedeutend. Sie trägt unbedenklich weiter, was beim Kronfurther Kaffee ersonnen wurde.“

„Nun, wir werden sehen. Jedenfalls ist es unsere Pflicht, Albert von thörichten Streichen abzuhalten, und ich hoffe, daß Du mich darin unterstützen wirst.“ –

Obschon Claudius für sich selbst von einer eigentlichen Weihnachtsfeier absah, that er doch alles dazu, um seine Angestellten zu erfreuen und insbesondere seinem Hause einen heitern, festtägigen Anstrich zu verleihen. Er dachte an alles und an alle. Sogar Fräulein Adele Finnig, die Verfasserin der „Trübsalstropfen“, war mit einer Kiste stärkenden Weines bedacht worden, und Albert Gerlach hatte sich ein Vergnügen daraus gemacht, jede Flasche mit der Nebenetikette „Trostestropfen“ zu versehen.

Nun saßen die beiden Freunde nach Besorgung dieser Überraschungen noch bei einem Glase Wein zusammen. Es war am Nachmittag vor dem Christabend.

„Ihr Wein ist gut, Doktor!“ begann Gerlach das Gespräch, „gut namentlich für mich, der ich mir Muth trinken muß. Meine Schwester scheint nämlich – nach der Kürze und dem eigenthümlichen Tone ihres Handschreibens zu urtheilen – etwas Besonderes, eine moralische Kopfwaschung oder dergleichen, für mich in Absicht zu haben. Da will ich, Ihre gütige Erlaubniß vorausgesetzt, nachher hinüberreiten, um der Sache auf den Grund zu kommen!“

„Dem steht nichts im Wege, nur hätte ich Sie gern um sechs Uhr, zur Leutebescherung, wieder hier. Sie könnten übrigens meinen Wagen nehmen und mir den Gefallen thun, meine kleinen Weihnachtsscherze für Eberhards bei dieser Gelegenheit abzuliefern. Man möge die bereits überschriebenen Päckchen unter den Christbaum legen und, wenn die Lichter brennen, freundlich des Sonderlings von der Drachenburg gedenken!“

„Soll bestens besorgt werden! Und um sechs Uhr bin ich sicher zur Stelle.“ –

Was für ein stiller Nachmittag das war! Niemand kam, dem einsamen Fabrikherrn einen Weihnachtsbesuch abzustatten, nicht einmal sein Traumbild! Claudius saß im Dunkeln am Fenster des

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verschiedene: Die Gartenlaube (1891). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1891, Seite 542. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_542.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2023)