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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

während der Redestrom unaufhaltsam von ihren Lippen floß, weideten sich ihre Augen an der gespannten Aufmerksamkeit der Zuhörerschaft. Und nun kam der Schlußtrumpf: das Vielliebchen. Ja, Doktor Claudius hatte in der That ein Vielliebchen mit ihr gegessen und es, was noch mehr heißen wollte, an sie verloren.

„Aus Ritterlichkeit wahrscheinlich,“ meinte die Mutter.

„Und um eine Anknüpfung zu haben,“ ergänzte der Vater. „Möglicherweise steht sogar sein unerwartetes Erscheinen bei Professors in irgend einer Beziehung zu unserer Tochter Sophie.“

So hoch verstiegen sich Sophies Muthmaßungen nicht, aber sie ließ die andern gewähren und fand es schon sehr angenehm, plötzlich aus dem rechtlosen Aschenbrödel des Hauses für jedermann zu einer Person von Bedeutung geworden zu sein. Mochte nun dieser gesegnete Umschwung so lange oder so kurze Zeit währen, als es in den Sternen geschrieben stand!




5.0 Else.

Es war im April und es regnete. Der Regen mochte vielleicht den Frühling bringen, allein dieses schöne „vielleicht“ nahm der Gegenwart nichts von seiner Trübseligkeit. „Es gießt wie mit Kannen, Mama,“ sagte die hübsche Blondine, welche am Fenster saß und auf die Straße hinunterblickte. „Und sieh nur“ – hier ward das zierliche römische Näschen gegen die Scheibe gepreßt – „da ist der schlanke Schwarzbärtige noch immer! Er spaziert nach wie vor so wohlgemuth durch den um ihn herumspritzenden Schmutz, als habe er sein Lebtag nichts anderes getan.“

„Laß ihn spazieren, Else, und kümmere Dich lieber um das Packen meiner Handtasche!“ klang es ein wenig verdrießlich aus einer fernen Sofaecke hervor. „Ich muß, wie Du weißt, auch noch mein ‚Nervenelixir‘ einnehmen, sonst halte ich das Schaukeln des Eisenbahnwagens gar nicht aus. Die Belladonnatropfen kommen natürlich ebenfalls in die Handtasche.“

„Jawohl, Mama! Ich werde nun nach Minna schellen. In einer Viertelstunde kommt der Wagen.“

Bald darauf hatte der Fremde, welcher sich in der That herzlich wenig um das Wetter, desto mehr aber um die Villa Heydecker zu kümmern schien, das Vergnügen, Mutter und Tochter in Begleitung einer Dienerin einen Landauer besteigen und davonfahren zu sehen, nicht ohne daß die hübsche Blondine noch einmal verstohlen nach ihm zurückgeblickt hätte. – In demselben Augenblick trat drüben ein alter Diener in schwarzgrüner Livrée aus der Villa, offenbar in der Absicht, den vornehm aussehenden Fremden, dessen Gebahren auch ihm aufgefallen sein mochte, ein wenig näher zu betrachten und womöglich dessen Vorhaben zu erfahren. Jener trat rasch auf den Neugierigen zu. „Dieses ist doch das Besitzthum der Frau Forstrath Heydecker, nicht so, mein Freund?“ fragte er, den Hut lüftend.

„Ganz recht, mein Herr, ganz recht,“ antwortete der Graukopf dienstbeflissen. „Dachte mir gleich, daß der Herr über die im Stadtblatt ausgebotene Villa Bescheid wünscht. Ja, die Frau Forstrath will verkaufen und nach Berlin zu ihrem Bruder, dem Herrn Professor Wetter, übersiedeln. Es ist den Damen hier in Hirschberg zu einsam geworden, wissen Sie, seit unser junger Herr an die Berliner Regierung versetzt wurde.“

„War es die Frau Forstrath, welche soeben fortgefahren ist?“ fragte der Fremde.

„Jawohl, mein Herr. Die Damen begeben sich zu einer mehrwöchigen Kur nach Wiesbaden. Unsere Villa steht daher ganz leer, wenn Sie also das Innere zu besichtigen wünschen –“

„Dazu fehlt mir für jetzt die Zeit. Ich danke Ihnen, mein Lieber.“ Der Fremde ließ ein Geldstück in die Hand des alten Dieners gleiten, grüßte freundlich und entfernte sich mit schnellen Schritten. – –

Als Fräulein Else zu Wiesbaden in der vorausbestellten Fremdenpension Sonnenbergerstraße Nummer 18 angelangt war, hatte sie den Schwarzbärtigen vollkommen vergessen und würde wohl nie mehr seiner gedacht haben, wäre er nicht schon am folgenden Tage aufs neue vor ihr aufgetaucht; noch dazu in ihrer Pension, an der Mittagstafel, gerade Mama Heydecker gegenüber! „Herr Doktor Claudius!“ sagte die Dame des Hauses, den Neuangekommenen bei der übrigen Tischgesellschaft einführend. Die darauf folgenden Einzelvorstellungen zwischen dem Fremden und seinen Nachbarn halfen Else über die erste Verlegenheit hinweg. Wenn ihr dieser Mann, woran sich kaum zweifeln ließ, von Hirschberg nach Wiesbaden und bis in dieses Haus gefolgt war, so verrieth jedenfalls sein Benehmen nichts davon. Er zeichnete sich durch große Ruhe und eine alle Tischgenossen gleichmäßig berücksichtigende, feine Höflichkeit aus. Sehr selten – so selten, daß die Uebrigen nichts bemerken konnten – ließ Doktor Claudius seine Blicke zu Else hinüberschweifen; wenn es aber geschah, so lag unverkennbar etwas wie eine Frage, wie ein verhaltenes Geheimniß in denselben, und Else fühlte sich ganz gegen ihre eigentliche Natur befangen. „Es ist, als ob mir diese durchdringenden dunklen Augen bis auf den Seelengrund schauen wollten!“ dachte sie mit einem kleinen Schauder. „Auf solche Art hat mich noch keiner meiner Verehrer angeblickt, wahrhaftig! Was nur Walter dazu sagen würde?“

In den folgenden Tagen fügte es sich ab und zu, daß Else und der Doktor miteinander ins Gespräch kamen. Claudius wußte sehr anziehend zu plaudern, er war wie einer, der von einer andern Weltkugel kam, nicht ein bißchen nach der „Schablone“, sondern ganz originell. Er sah jedes Ding durch seine eigene, klare Brille an und sprach davon mit Worten, die nicht angelernt, sondern empfunden und bedacht waren. Else war ein kluges Mädchen, und so hätten diese Gespräche ihr eine Quelle reinen Vergnügens werden können, wäre nicht ihr Gegenüber offenbar bestrebt gewesen, bei allem ihre Neigungen und Gewohnheiten, ihre Ansichten über Leben und Gesellschaft zu erforschen; allerdings in taktvoller, unaufdringlicher Art, aber – warum überhaupt?!

„Jetzt kennt er mich schon so genau wie sein Reisehandbuch,“ sagte das junge Mädchen nach Verlauf einer Woche zu sich selbst – „und ich weiß nichts von ihm außer dem Einen, daß er mich wie eine Landkarte kreuz und quer durchstudiert hat! Schließlich wäre es wohl an der Zeit, daß ich ihn einmal ganz frank und frei nach dem Grund seiner recht schmeichelhaften, aber ein wenig unheimlichen Antheilnahme an meiner unbedeutenden Person fragen würde.“ Und dann kam wieder der Schluß, in welchen so ziemlich alle ihre Selbstgespräche mündeten: „Was nur Walter dazu sagen würde?“ –

Unterdessen führte Claudius, während er in einem einsamen Theile des Gartens seine Abendcigarre rauchte, in ähnlicher Weise ein Selbstgespräch. Auch er sagte sich, daß es so nicht weiter gehen könne. Diese elegante Else Heydecker – ein „Weltkind“ im wahren, wenn auch nicht im schlimmen Sinne des Wortes – bildete in Erscheinung und Wesen das vollkommene Gegenstück zu dem Weibe, welches er hinter der Schreiberin jener beiden eigenartigen Briefe vermuthet hatte und das seiner „Erträumten“ in jedem Zuge glich. Und doch mußte er seinen Nachforschungen zufolge gerade in ihr die Verfasserin der Episteln vor sich haben. Vermochte sich Else in der That nicht anders zu geben, hatte sie nur während des Briefwechsels mit ihm ein anderes Selbst „angezogen“? Dann war der Stern, dem er gefolgt, nichts als ein „Irrlicht“ gewesen, und er konnte nach gewonnener Erkenntniß nichts besseres thun, als still heimpilgern, heim in die gewohnte Einsamkeit.

„Da bin ich wieder, Gerlach! Der ‚Roman‘ hat nun wirklich sein wohlverdientes Ende erreicht, Sie sollen das Schlußkapitel hören; dann aber ein für allemal ins Grab der Vergessenheit mit ihm!“ So hörte Claudius schon im voraus sich selber sprechen.

Am folgenden Tage stellte die Forsträthin der Tischgesellschaft einen Gast vor, der sich zum Besuch bei ihr eingestellt hatte. „Freiherr von Grollmann-Uckerhaus, Premierlieutenant bei den Dragonern, Bruder der Braut meines Sohnes, des Assessors, der unlängst nach Berlin versetzt wurde,“ ließ sich die alte Dame umständlich, mit sichtlichem Stolze vernehmen. Fräulein Else hatte ein sehr kleidsames, „dragonerblaues“ Kleid angelegt und schien trefflicher Laune. Offenbar war der Gast durch sie über die Tischgenossen, insbesondere über den „Fall Claudius“ einigermaßen unterrichtet worden, denn er warf bisweilen einen prüfenden, keineswegs freundlichen Blick zu dem Fabrikherrn hinüber, was diesen höchlich belustigte.

Für den Abend hatte die Badverwaltung ein Konzert mit Feuerwerk angesetzt und die gesammte Pensionsgesellschaft fand sich deshalb nach zeitig eingenommener Abendmahlzeit vergnüglich im nahen Kurgarten ein, Claudius allein war zurückgeblieben, um die im Hause herrschende Ruhe zur Erledigung von geschäftlichen Angelegenheiten zu benutzen. Nach beendeter Arbeit zog er sich in seinen Lieblingswinkel im Musikzimmer zurück, in eine vom Mittelpunkt des großen Raumes ziemlich entfernte und deshalb außerhalb des Lichtbereichs liegende, tiefe Fensternische.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 559. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_559.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2023)