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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

waren, allein der Paragraph des Gesetzes ist ein eherner Fels, unbiegsam, erbarmungslos!“ Er fuhr sich in die Haare, die sorgfältig gescheitelt und über den kahlen Stellen kunstvoll geordnet waren. „Warum, wird der Staatsanwalt sagen, warum hat der Richter Müller seinem Nachfolger die Anzeige nicht sofort gemacht?“

„Es ist menschlich, daß ich, der Aeltere, der so lange der Vorgesetzte des Herrn Tannhauser war, gerade diesem Manne gegenüber zögerte.“

„Menschlich! menschlich! Ein Wort, womit man alles entschuldigen kann. entschuldigt nichts … Heillos! Bedachten Sie denn, bevor Sie zu diesem Gang sich entschlossen haben, alle Folgen? Sie machen nicht nur sich unglücklich, sondern bringen auch Schmach über die Baronin, Trauer über Ihre Stieftochter; denn vergessen Sie nicht, daß der Verlobte Offizier ist.“

„Wenn Ihr Sohn deshalb sein Wort zurücknimmt, wird er ein tausendmal größeres Unrecht begehen als ich. Was hat der Fall Müller mit der Baronesse Gatterburg zu thun? Ein Wort von Ihnen und Verena wird nicht genannt, nicht vernommen. Ich verwendete das Geld in meinem Nutzen. Hier ist der volle Ersatz. Alles liegt klar.“

„Sie werden dem Gefangniß nicht entgehen können.“

„So kann und wird meine Frau die Scheidung verlangen.“

„Weiß die Baronin um all das?“

„Um nichts!“

Der Minister athmete erleichtert auf, um alsbald aufs neue zu stöhnen.

„Und daß Sie mich, mich mit dem Geständnis, belasten! Verdiene ich das um Sie?“

„Excellenz, Sie haben sich gestern meinen ältesten Freund genannt!“

Die Erwähnung des gestrigen Abends traf den Minister wie ein Schlag. Er warf die Papiere auf dem Schreibtisch zornig durcheinander.

„Wie konnten Sie mit Ihrem Schuldbewußtsein diese Feier annehmen?“

„Excellenz – wie wenn der Himmel Mitleid mit mir gehabt hätte, fügte sich alles so, daß eine Entdeckung meines Vergehens unmöglich war. Daß ich das Geld in irgend welcher Weise ersetzen würde, stand außer Frage. Ich athmete auf, ich war dankbar bewegt. Die Einladung klang so harmlos, die Bürger wollten mir Lebewohl sagen. Einen Händedruck hatte ich mir vielleicht dennoch verdient. Was ich dann während und nach der Feier litt – Ihr Wort: ‚der treue Hüter der Gesetze‘ – o!“

Nach einer Pause ließ Vitus die Hand sinken, die er über die Augen gelegt hatte, und fuhr entschlossen fort: „Recht muß Recht bleiben, hier bin ich. Es werde dem Gesetz wie dem Schuldigen sein Recht: die Sühne!“

„Sie sind ein furchtbarer Mensch!“ rief der andere. „Welche Gedanken wühlen Sie in mir auf! Wenn Sie geschwiegen hätten –“

„Würde mein Gewissen jemals geschwiegen haben?“ erwiderte Vitus schlicht. „Wie sollte ich Recht sprechen ohne den Glauben an dessen Unverletzlichkeit? Hätte ich immer eine Maske tragen, mit der Maske sterben sollen? Excellenz, nicht leicht war mein Kampf, aber daß ich siegte, zeugt für das Recht und die Richter!“

Der Minister sah scheu den Redlichen an, dem eine Thräne über die Wange rann. Auch er wurde von einer tiefen, unwiderstehlichen Rührung ergriffen und hingerissen, er nahm die Rechte des ehemaligen Genossen in beide Hände. „Vitus!“ sagte er, „verzeihen Sie mir! – Sie sind ein ehrlicher Mann.“

„Ein bedauernswerther armer Mann, Excellenz. Schuldig, aber nicht gewissenlos.“

Imhof ging nachsinnend im Zimmer auf und ab. Dann blieb er vor Vitus stehen. „Ich muß mit dem Schnellzug in die Hauptstadt. Seine Hoheit erwartet mich morgen früh zum Vortrag. Lassen Sie mir zur Anzeige Zeit bis morgen. Versprechen Sie mir, gegen jedermann von der Sache zu schweigen, bis Nachricht von mir eintrifft.“

„Ich bin meiner Frau Wahrheit schuldig.“

„Gut, sprechen Sie mit der Baronin, aber nur mit ihr! Denken Sie nicht bloß an das Recht, sondern auch an mich. Ich bin Vater, und in dem Punkt – o Gott, ich fühl’s! – nicht standhafter als Sie. Vitus!“ er warf sich dem Bestürzten plötzlich an die Brust, „schweigen Sie bis morgen!“

Die Jugendfreunde hatten sich – wenigstens in diesem Augenblick – gefunden. Schon im nächsten hatte der Minister Fassung und Haltung wieder gewonnen; er klingelte dem Diener und befahl den Wagen. Noch während jener anwesend war, wandte er sich an den Richter:

„Sie machen Besuche? Ich werde mich unterdessen bei den Damen verabschieden. Grüßen Sie den Bürgermeister! Er schoß gestern den Vogel ab. Auf Wiedersehen!“

Vitus verbeugte sich und ging. –

Ida erwartete ihren Gemahl voll Ungeduld. Helmuth war in der Burg, als sein Vater zum Abschied erschien. Der Minister hatte für Mutter und Tochter die gleiche Artigkeit wie immer; er entschuldigte sich, daß er ihnen seinen Sohn für einen Augenblick entführe, und küßte der Hausherrin beim Lebewohl die Hand. Dennoch wurde Ida, nachdem die beiden sich verabschiedet hatten, das Gefühl nicht los, daß etwas nicht in Ordnung sei. Beim Zusammentreffen mit Helmuth hatte Excellenz, freilich kaum merklich, die Stirn gerunzelt; als Ida vom Wiedersehen in der Hauptstadt sprach, hatte er verlegen gelächelt. Sie war in der schweren Zeit empfindlich wie die Armuth geworden.

Endlich kam Vitus heim, nicht gesprächig, aber keineswegs finster; verändert, doch zu seinen Gunsten. Ida verwandte bei Tisch keinen Blick von ihm. Sobald sie allein waren. warf sie sich an seine Brust.

„Vitus,“ sagte sie, „hab’ ich Deine Liebe nicht mehr? Du hast Herrn von Imhof ins Geheimniß gezogen!“

Müller löste sich sanft aus ihrer Umarmung und ergriff ihre Hände. „Es mußte geschehen,“ erwiderte er, „und lieber ihn, als Tannhauser oder einen Fremden.“

„Du erzähltest ihm doch nur vertraulich –“

„Vertraulich? Dem Minister?“

„Aber – er wird schweigen –“

„Wie kann er das! Die Klage geht ihren Weg.“

Ida stieß einen Schrei aus, jetzt verstand sie ihn. War’s möglich? Er selbst, ohne Noth, freiwillig! Sie sah ihn mit entsetzten Augen an; der Wahnsinnige, der Unbegreifliche!

„Höre mich!“ sprach er. „Alle Einwände, die Du machen kannst, wurden von mir erwogen. Die Wahl blieb immer dieselbe: zwischen Wahrheit und Lüge, Sühne und Schuldbewußtsein, Heilung und Krankheit.“

„Zwischen Ehre und Schande!“ flel Ida leidenschafttich ein. „Die Welt wird nicht die Wahrheit, sondern das Schlimmste glauben. Aus der entschuldbaren That des Augenblicks wird ein Verbrechen! Wir bleiben lebenslang gebrandmarkt.“

„Unsere Bekannten mögen mich verdammen, Dich wird man nur tief bedauern. Uebrigens ist die Welt groß. Der Richter Müller verkriecht sich nach verbüßter Strafe in irgend einen Winkel, für die Baronin Gatterburg öffnen sich alle Thüren.“

„Rede keinen Unsinn!“ entgegnete sie weinend. „Ich kann Dir nicht ausdrücken, wie zuwider mir in diesen Tagen alle Titel wurden. Ich bin Deine Frau, Du durftest nicht hinterrücks einer abgeschlossenen Sache eine neue Wendung geben!“

„Eben weil die Sache nicht abgeschlossen war, brachte ich sie zum Austrag.“

„Die Wahrheit würde ein Geheimniß zwischen uns Zweien geblieben sein. Ein gemeinschaftliches Geheimniß ist ein Band mehr!“

„Auch ein unseliges Geheimniß? Als sie mich gestern so lobten, wagte ich nicht, Dich anzusehen. Ida kennt mich besser, dachte ich.“

„Freilich kenn’ ich Dich besser als alle, und eben darum haben sie mir Dich bei weitem nicht genug gelobt. Schau, Vitus, ich weiß ja, wie alles kam und daß wir beide nichts Gemeines wollten, daß nur Deine unverhoffte Versetzung uns das Elend brachte. Wenn wir einen Fehler begangen haben, ist er mit unsern Todesängsten hundertmal gebüßt. Der Himmel war uns gnädig, er führte die Sache zum Guten; nun machst Du sie schlimm. Das ist ein Frevel!“

„Die himmlische Nachsicht ist kein Rechtstitel. Weißt Du nicht, daß zu einer Lüge ungezählte andere gehören? Ein verlogener Richter! Ida, ich will wieder ein rechtschaffener Mann sein!“

Die Baronin trocknete ihre Thränen. „Nun wohl, mir geschieht recht, aber Verena, was kann Verena dafür? Glaube mir, Excellenz will mit Helmuth hoch hinaus. Jetzt hat er einen Vorwand zum Rückzug.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 566. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_566.jpg&oldid=- (Version vom 6.8.2023)