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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

auf das Mögliche, auf das Verbot der Kopfbedeckung und des Handschuhtragens, sowie auf die Forderung des Barfußgehens, und sogar diese beschränke Rückkehr der zwölfhundert Kurgäste zur Natur soll, zumal bei Damen, anstößig und zugleich komisch wirken.

Immerhin müssen wir aber auf einige Auswüchse der Ueberkultur aufmerksam machen, die beseitigt werden könnten, wenn – die Mode nicht wäre.

Vor allem ist zu sagen, daß bei Kindern, die in der raschesten Entwicklung begriffen sind und deshalb unter die günstigsten Bedingungen versetzt werden müßten, durchaus kein Grund vorliegt, ihren Körper durch übermäßige und zu dichte Bekleidung nahezu jeder Einwirkung des Lichtes zu entziehen. Fast nur die Engländer sind so einsichtig, die Kleinen mit freiem Hals und Nacken, mit bloßen Aermchen und Beinchen eines unbeengten Daseins sich freuen zu lassen; wir Deutsche legen ja auf die körperliche Ausbildung und Kräftigung viel weniger Gewicht, dagegen recht unbedacht viel auf die „Schulbildung“. Kaum daß die jungen Weltbürger ordentlich gehen können, so stecken wir sie schon in Beinkleider und ähnliche anmuthige Schalen; in diesen dürfen sie sich dann nach den Regeln der Grammatik in Zimmern oder in recht schattigen Gärten zwischen den Häusern bewegen, sie dürfen sogar schon „spielend“ mancherlei lernen, damit sie bereits etwas „vorgebildet“ im sechsten Lebensjahre mit ungebräunter, bleicher Haut sicher eine Zierde der „höhern“ Schulbänke werden. Um sie dem Sonnenlichte zu entziehen – denn dieses bräunt die Haut, nicht die Sonnenwärme, obwohl man überall von „sonnverbrannter“ statt von „sonnenlichtgebräunter“ Haut spricht – läßt man heutzutage in „besseren Kreisen“ die Kleinen außerdem Sonnenschirme und Handschuhe tragen. Allein wir sollten gerade hier in dem wichtigen Punkt der Kinderpflege Vernunft walten lassen und bis zum Ende der Schulzeit derartige Errungenschaften der Kultur zu Gunsten einer lichtfreundlicheren Körperpflege vermeiden. Bei Erwachsenen läßt sich ja ohnehin unter den gegebenen Verhältnissen wenig zu Gunsten einer solchen ändern, aus Gründen des Anstandes und der Mode am wenigsten bei den Frauen. Die schattigsten, entsetzlichsten Hutformen, Schleier und Handschuhe darf ja kein Mann verbieten. Eine Pflanze würde bei so geringer Beleuchtung unfehlbar krank werden und zu Grunde gehen, der Mensch dagegen besitzt eine so große Anpassungsfähigkeit, daß sogar das spärliche Licht, welches auch noch durch die dichtesten Kleider dringt, dem Bedürfnisse eben noch genügen muß.

Je weniger sich voraussichtlich in Bezug auf die Hygieine der persönlichen Belichtung wird bessern lassen, desto mehr kann geschehen hinsichtlich der öffentlichen Belichtung der Straßen und weiterhin der Wohnungen.

Bei den Straßen kommt in erster Linie die Breite in Betracht.

Meist entspricht diese nicht den Forderungen der Gesundheitspflege, und zwar nicht nur in alten, sondern häufig auch in verhältnißmäßig neuen Städten. Die Straßen sind oft so eng (10, 8, ja 6 Meter breit und darunter), daß nur ein schmaler Streifen des Pflasters in der günstigen Jahreszeit von unmittelbarem Sonnenlicht getroffen werden kann, während es als Grundsatz gelten müßte, wenn nicht Lichtmangel entstehen soll, daß die Straßen breiter sind als die Höhe der höchsten Häuser auf beiden Seiten zusammen mißt. Dagegen ist in vielen Dörfern, instinktmäßig möchte man sagen, jenem Verhältniß Rechnung getragen, da hier die niedere Bauart der Häuser und die Billigkeit von Grund und Boden günstig einwirken. In den Städten aber sind die Straßen sogar bei Neuanlagen im günstigsten Fall kaum breiter als die größten Bauten der einen Seite hoch sind. Infolge dessen liegt fast immer, zumal im Winter, die eine Häuserreihe ganz im Schatten.

Auch die Richtung der Straßen ist in Rücksicht zu ziehen.

Als die günstigste für möglichst gute Belichtung muß man die von Nord nach Süd und die von Ost nach West bezeichnen, während schräger Lauf der Straßen weniger vortheilhaft ist.

In dritter Linie ist die gegenseitige Lage der einzelnen Häuser zu- und nebeneinander von größter Tragweite für das richtige Einfallen des Lichts. Das Vollkommenste in dieser Beziehung wäre, wenn alle Häuser in gehörigen Abständen voneinander auf allen vier Seiten frei liegen würden. Das ist wiederum in Dörfern häufig anzutreffen, wird neuerdings aber auch in den Städten bei sogenannten Villenvierteln durchgeführt. Es sollte jedoch eine derartige Anlage überall angestrebt werden, wo neue Quartiere entstehen; und wo die Erfüllung dieses Ideals nicht möglich ist, da sollte man wenigstens die Häuser nach drei Seiten freihalten. Immerfort aber werden noch ganze Straßenzüge mit unmittelbar aneinander stoßenden, nur durch eine Brandmauer getrennten Häusern gebaut.

Auch die Zahl der aufeinander getürmten Stockwerke ist sehr oft eine zu große: während nur zwei, höchstens drei zugelassen werden sollten, findet man fünf und mehr übereinander, ja in New-York giebt es fünfzehn-, in Chicago gar siebzehnstöckige Häuser! Wie sehr solche Eiffelthürme den Nachbarn das Licht wegnehmen, braucht nicht erst ausgeführt zu werden.

Leichter als den genannten Forderungen hinsichtlich der Belichtung wäre anderen nachzukommen, wenn nicht Gewohnheit und Mode, diese hemmenden Mächte einer richtigen Lebensweise, sich dagegen stemmen würden.

Gewohnheitsgemäß werden die beinahe überall zu kleinen und zu spärlichen Fenster – diese sollten so groß sein, daß alle zusammen dem Bodenraum des betreffenden Zimmers an Fläche gleich- oder doch wenigstens nahekämen – so gründlich verhängt, daß die an sich spärliche Lichtmenge, welche durch sie in unsere Wohnräume eindringen kann, noch erheblich vermindert wird. Vorhänge dicht hinter den Scheiben, meist aus dunklen und dichten Stoffen, allerhand Draperien von oben her setzen dem Sonnenlichte einen dichten Wall entgegen. Weiterhin nehmen dunkle Tapeten und diesen entsprechend dunkel angestrichene Thüren und Vertäfelungen, dunkel gehaltene oder mit düstern Teppichen belegte Fußböden, dunkle Möbel und natürlich dunkle Oefen, zuletzt die sogenannten „eleganten gemalten Decken“ noch einen großen Theil des durch die Fensterhüllen sich durchkämpfenden Lichtes weg. Einem solchen lichtarmen Wohnraum sagt man dann nach, es herrsche in ihm ein „vornehmes Halbdunkel“. Daß vom Standpunkte einer vernünftigen Gesundheitspflege möglichst wenig verhängte Fenster, helle Tapeten, heller, am besten weißer Anstrich der Decken und des Holzwerkes allein gerechtfertigt sind, ergiebt sich aus dem Dargelegten von selbst. In dem „vornehmen“ Halbdunkel gedeiht keine Zimmerpflanze, das wissen die Gärtner, die sie liefern, nur zu wohl; dagegen der Mensch muß der Mode zuliebe seine Gesundheit schädigen. Die Aerzte können erfahrungsgemäß daran nichts ändern, vielleicht gelingt es einem berühmten Wohnungsausstattungsgeschäft oder der Leitung einer Modezeitung, die jetzige Sitte zum Besseren zu wenden. Am schädlichsten wirkt dieses Halbdunkel in den Wohn- und Schlafräumen, besonders in den letzteren; diese sollte man nicht bloß auslüften, sondern auch auslichten, um die schädlichen Ausdünstungsstoffe, die sich hier anhäufen, rasch zu zersetzen. Ganz besonders sollten auch die Betten, so oft es geht, gründlich dem vollen Sonnenlicht ausgesetzt werden.

Die Innenräume des Hauses müssen ferner nach dem Grade ihrer Helligkeit benutzt und für bestimmte Zwecke ausgewählt werden. Vor allem sollen die Schlafräume die hellsten sein, somit nach Süden liegen, oder noch besser von zwei Seiten Licht erhalten, von Süd und Ost oder Süd und West her, je nach der Baurichtung des Hauses; ebenso die Wohnzimmer. Das gebietet schon die Rücksicht auf die Reinlichkeit, da man den Staub doch genau sehen muß, um ihn entfernen zu können. Ebenso soll das Kinder- und Spielzimmer nach Süden oder wenigstens nach West oder Ost liegen und ganz ohne Vorhänge sein. Das sogenannte „gute“ Zimmer mag dann immerhin in Gottes Namen ganz nach Norden gehen und dunkel verhängt sein, das schadet verhältnißmäßig wenig, da es ja meist nur kurz benutzt wird.

Für alle Räume des Hauses jedoch, in denen die Bewohner die größte Zeit ihres Lebens zubringen, also auch für Arbeitsräume, muß der Grundsatz in Geltung bleiben, daß sie möglichst hell sein müssen. Dafür haben die Italiener ein gutes Sprichwort: „Dove non viene il sole, viene il medico,“ deutsch etwa:

„Schließst du Licht und Sonne aus,
Kommt der Doktor dir ins Haus!“

Dr. J. Herm. Baas 

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 571. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_571.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2023)