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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

„Ach, Signore, das ist es ja! Ich hasse jedes Gewühl, solch ein Stoßen und Drängen, das ist nichts für mich! Aber meine Luisella behauptet, sie habe unsern Signore Troost vor ein paar Stunden da hineingehen sehen –“ er wies nach der Dunstwolke hinüber – „und er sei nicht wieder herausgekommen, und sie hat scharfe Angen, die Luisa! Sie hat mir keine Ruhe gelassen und meine Frau auch nicht, und so bin ich herübergelaufen und beinah in Stücke gerissen worden und konnte doch nichts Genaues erfahren; denn natürlich von denen, die in der Casa Bortenyi drinnen sind, haben sie noch keinen gefunden!“

Da erschütterte ein neuer Lärm, stärker noch als zuvor, die Luft, und die beiden drängten näher hinzu und fragten, was es gebe.

„Sie haben einen herausgebracht – einen Maurer, dort bringen sie ihn!“

Es waren schon Tragbahren, Seile, gerollte Decken zur Stelle, auch ein paar Aerzte aus dem nächsten Hospital mit Heilgehilfen, die Verbandzeug bereit hielten. Die Soldaten und Feuerwehrleute arbeiteten mit Heldenmuth weiter. Zerschunden und blutend, von herabfallenden Trümmerstücken getroffen, geblendet von dem scharfen feinen Kalkstaub, der ihnen das Sehen erschwerte und den Athem nahm, gruben und hoben sie unaufhörlich; sie ließen sich an Seilen herab und krochen durch Spalten und Risse, sie schleppten die schwersten Lasten, wanden sich unter schief übereinandergethürmten Quadern und Deckentrümmern hindurch, die jeden Augenblick von neuem einzustürzen drohten, und retteten so mit eigener Lebensgefahr die leblos daliegenden Arbeiter aus dem noch immer nachstürzenden Hagel von Mauerstücken und Steinen.

Die achte Tragbahre wurde soeben fortgetragen. Der Arbeiter, dessen Leiche darauf ruhte, war ein fleißiger. tüchtiger Mann gewesen, Vater von fünf hilflosen Kindern. Seine Frau war an der Bahre in die Kniee gesunken und erfüllte mit ihrem Wehgeschrei die Luft, während ein anderes Weib stumpfsinnig auf die formlose, unkenntliche Masse starrte, die man zu ihren Füßen niedergelegt und die sie an den Kleidern als ihren Mann erkannt hatte.

Und über all diesen Jammerscenen lächelte der mildeste Himmel, athmete der holdeste Vorfrühlingstag. Weich fächelte ein lindes Märzlüftchen, das einen deutschen Maiwind hätte beschämen können, über die vielen erhitzten, verweinten Gesichter, spielte mit den Haaren der Kinder und suchte die schweren Thränen zu trocknen, die in zahllosen Augen standen. Wie so oft, so war auch diesmal die heiter lachende Natur im schroffsten Widerspruch zu dem Elend der Menschen.

Der dicke Weinwirth hatte sich von seinem Kellner, der sich das seltene Schauspiel ebenfalls ansehen wollte, einen Schemel aus seinem Hause herbeischleppen lassen, auf diesen war er mit einiger Mühe hinaufgestiegen und konnte nun von seinem erhöhten Standpunkt so ziemlich alles übersehen, was bei der zerstörten Casa Bortenyi geschah. Sowie ein neuer Toter oder Verwundeter herbeigetragen wurde, berichtete er dem neben ihm stehenden Maler: „Es ist wieder nicht Werner Troost!“

Endlich, bei der zehnten Tragbahre, stutzte er, reckte sich hoch empor, um noch besser zu sehen, und sprang dann mit dem Ausruf: „Eccolo!“ von seinem Schemel herunter, so gewandt wie ein Jüngling.

„Schnell, schnell, Signore!“ rief er und zog den Maler an der Hand mit sich. „Raum für uns! Nur ein wenig Raum für uns!“ fuhr er zu der Menge gewendet fort und suchte sich einen Weg zu bahnen. „Wir haben einen Freund dort entdeckt – man bringt ihn soeben!“

„Macht Platz!“ – „Sie haben einen Freund gefunden!“ – „Laßt sie durch!“ hieß es von allen Seiten, und der Menschenschwarm theilte sich wie durch ein Wunder.

Blaß und leblos hingestreckt, die eine Hand wie im Krampf geballt, die andere lässig geöffnet, lag der kaum fünfundzwanzigjährige Mann auf der Tragbahre. Sein flottes samtenes Künstlerröckchen war zerrissen und befleckt, der rechte Aermel aufgeschlitzt und blutgetränkt – das feingeschnittene Antlitz aber mit dem schwarzen Bärtchen und dem gelockten Haar ganz unversehrt und mit den friedlich geschlossenen Augen einem Schlummernden täuschend ähnlich.

Die Leute drängten von allen Seiten herzu. „O, der schöne junge Mann.“ – „Wie schade!“ – „O, Jammer!“ – „O, der arme Junge!“ – „Ist er tot?“ – „Lebt er?“

Sie klagten alle durcheinander, Weiber, Männer und Kinder, und einer erzählte es dem andern: das sei der deutsche Bildhauer, dem der Graf Bortenyi Auftrag gegeben habe, seinen Musiksaal und seine Bibliothek mit Bildwerken zu schmücken, wunderschön habe er alles gemacht und gewiß wäre der unbekannte junge Mensch bald ein berühmter Meister geworden – und nun?

Der blonde Maler kniete indessen neben der leblosen Gestalt nieder und sah ihr angstvoll ins Gesicht. Die Züge schienen sich zu bewegen. Ein ganz leises, zitterndes Seufzen, ein Zucken der Wimpern, dann ein kurzer Aufblick von zwei großen dunkeln Augen, verständnißlos, nebelumsponnen …

Auch das hundertstimmige Aufschreien: „Er lebt! Er lebt!“ mußte dem jungen Bildhauer nicht zum Bewußtsein kommen, seine Augen fielen von neuem zu, und aus der Wunde am Arm tröpfelte es roth und langsam auf den Boden und bildete dort eine kleine dunkle Lache.

„Ich vermag noch nichts zu sagen!“ erwiderte der Arzt, ein älterer Mann, auf die zahllosen aufgeregten Fragen. „Aeußerlich scheint er mir unverletzt, denn die Wunde am Arm ist nicht bedenkich – aber ich kann hier nicht feststellen, ob nicht innerliche Verletzungen stattgefunden haben, und welcher Art sie sind. Weiß jemand zufällig die Wohnung des jungen Mannes, oder soll ich ihn ins Hospital schicken?“

„Nein! Nicht ins Hospital!“ Der blonde Maler hob sich von den Knieen empor. „Via del Babuino! Dort wohnt er und hat eine sehr brave Wirthin, die gut für ihn sorgen wird, und wir alle, seine Freunde, werden helfen – er soll die beste Pflege haben!“

„Gut also!“ Der Arzt wandte sich einem andern Hilflosen zu.

„Ich leite den Transport!“ sagte der Maler und winkte ein paar Leute heran, die müßig herumstanden. „Dann muß ich aber zu Andree,“ fuhr er halblaut mit sich selbst sprechend fort. „Herrgott, was wird Andree sagen? Wie werde ich’s dem nur beibringen? – Hier faßt an – so! Langsam, vorsichtig! Ich komme mit Euch!“

Die Leute mit der Tragbahre schreiten langsam davon, zu Anfang noch von zehn, zwölf Neugierigen begleitet, die sehen möchten, wie es dem schönen jungen Menschen weiter ergeht, ob er noch einmal erwacht, ob das Bewußtsein ihm zurückkehrt. Da sie während einer ganzen Weile nichts anderes an ihm bemerken können, als daß er die Augen nach wie vor geschlossen hält und unbeweglich in derselben Lage bleibt, erlahmt ihre rasch aufgeflammte Theilnahme ebenso rasch, sie bleiben zurück und lassen den blonden Maler allein neben der Bahre.

Dessen offenes, ein wenig unbedeutendes Gesicht trägt einen sehr ernsten. nachdenklichen Ausdruck. Seitdem er in Rom ist – und das ist schon länger als zwei Jahre – kennt er niemand von der ganzen deutschen Künstlerkolonie, der ihm soviel Hochachtung als Mensch und soviel Bewunderung als Künstler abzugewinnen weiß als der Maler Andree. Alle, die ihn kennen, achten und loben ihn. Andree aber hat nur einen einzigen wahren Freund unter all den guten Bekannten, das ist Werner Troost, der hier durch die Straßen getragen wird, jedenfalls schwer, vielleicht tödlich verletzt! –

Die Freundschaft der beiden war sprichwörtlich geworden. Den jungen schwärmerischen Bildhauer verwöhnten sie alle, keiner jedoch trieb diesen stillen Kultus mehr mit ihm als Andree. Dieser äußerte sich zwar nie darüber, aber man hätte blind und taub sein müssen, um es nicht zu merken, wie er, der soviel ältere berühmte Maler, nicht ohne Werner Troost leben konnte, wie ihm der Bildhauer einfach unentbehrlich war. Kein Tag verging, ohne daß er Troost so oder so zu treffen wußte, sei es in der Casa Bortenyi, sei es in Werners Atelier in der Via del Babuino oder in dem Restaurant, das die deutschen Künstler sich zu ihren Zusammenkünften auserwählt hatten. Einer von ihnen, ein ausgelassener Oesterreicher, hatte den Witz gemacht, eine niedliche Tafel zu malen, auf deren einer Seite mit großen Goldbuchstaben zu lesen stand: „Ich bin bei Troost“, während die andere Seite die Worte wies: „Ich bin nicht bei Troost!“ Dies Täfelchen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 599. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_599.jpg&oldid=- (Version vom 19.9.2023)