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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Bildungsstand eines Volkes, desto trauriger die Erscheinungen, die der Wahn zu Tage fördert.

Belege für diese Behauptung bieten nicht nur die aller Kultur fernstehenden „Naturvölker“, sondern ebenso andere, die mit der Gesittung in nahe Berührung gekommen sind. Aus Rußland und Indien greifen wir unsere Beispiele heraus.

In den russischen Gouvernements Saratow, Orenburg, Kasan u. a. herrscht der Glaube, daß der infolge starken Branntweingenusses erfolgte Tod eines Menschen Dürre im Gefolge habe, welcher nur dadurch vorgebeugt werden könne, daß man die Leiche ausgrabe und in den Fluß oder in einen Sumpf werfe. In einem großen Dorfe des Gouvernements Kasan führte diese Einbildung vor einigen Jahren zu einem entsetzlichen Drama. Dort lebte mit seiner einzigen Tochter Grunja ein Bauer, der wegen seiner Zurückgezogenheit im Dorfe den Ruf eines Hexenmeisters genoß. Er war ein gutherziger, liebevoller Mensch, den aber verschiedene Schicksalsschläge menschenscheu gemacht hatten. Im Dorfe mied ihn jeder, und als seine schöne Tochter einen Bauernburschen liebgewonnen hatte, da wollten die Eltern des Burschen, der das Mädchen ebenfalls liebte, von dieser Heirath nichts hören. Der Bauer und seine Tochter, von dem Dorfe in die Acht erklärt, zogen sich noch mehr zurück. Da starb der Alte eines Tages eines plötzlichen Todes; aus Gram und Kummer hatte er zuviel getrunken und dadurch sein Ende herbeigeführt.

Als der Mann starb, begann im Dorfe eine große Dürre. Die Bauern waren nun davon überzeugt, daß der „Herenmeister“, welchem man im Leben so viele Unbilden zugefügt hatte, sich jetzt räche und den „Himmel versperrt“ habe, damit kein Regen komme. Eine Anzahl der Bethörten begab sich deshalb des Abends auf das Grab des Verstorbenen, um, dem Aberglauben treu, seine Leiche auszugraben und sie mit Eschenpfählen an die Erde anzunageln. Zur selben Zeit aber war die arme, verlassene Grunja auf das Grab ihres Vaters gegangen, das sie bei Tag nicht zu besuchen wagte, aus Furcht, ebenfalls der Hexerei beschuldigt zu werden. Als die Bauern ein lebendes Wesen am Grabe des „Hexenmeisters“ erblickten, geriethen sie in Schrecken und versicherten einander, dies sei eine Hexe, die gekommen sei, um den alten „Zauberer“ vor der gerechten Strafe zu retten. Flugs schlugen sie auf das unglückliche Mädchen mit einem Beil los, bis das arme Geschöpf ihrer Wuth erlegen war. Sie erkannten dann wohl, daß sie die Tochter des Verstorbenen getötet hatten, kehrten sich aber nicht daran, sondern meinten, „der Teufelsbrut sei recht geschehen,“ verrichteten ihr unheimliches Geschäft und gingen nach Hause.

Wie harmlos klingen nach solchen Vorfällen die anderen „Mittel“ der Bauern gegen die Dürre, wenn man im Gouvernement Tula, um Regen herbeizuführen, einen lebenden Krebs feierlich in die Erde vergräbt, oder wenn man im Gouvernement Minsk mit einem von Weibern gezogenen Pflug den „Fluß ackert“, damit Regen komme!

Aber nicht die Dürre allein kehrt hier die traurigsten Seiten des Aberglaubens hervor. Im Dorfe Tawuschi im Suchumer Gebiet wohnte eine ältere Bäuerin, eine Witwe mit zwei Söhnen. Von diesen erkrankte der jüngere und starb bald eines jähen Todes; einige Zeit später erkrankte auch der ältere Sohn. Die Nachbarn riethen dem Leidenden, sich an die im Dorfe lebende „Wahrsagerin“ zu wenden, um von ihr die Ursache des Todes des Bruders und seiner eigenen Erkrankung zu erfahren. Die Wahrsagerin, reichlich bezahlt, bezeichnete nun die Mutter der beiden Brüder als „Urheberin“ des plötzlichen Todes des einen und der Erkrankung des andern; sie bestand darauf, daß man die „Hexe von einer Mutter“ dem Volke vorführe und sie zwinge, entweder „ihre Sünden zu bekennen“ oder „einer Prüfung mit glühendem Eisen“ zuzustimmen. Der kranke Sohn gestattete den Nachbarn, sich bei ihm abends zu versammeln und das unglückliche Weib der schrecklichen Tortur zu unterwerfen. Nach dem Abendessen, das von der Alten zubereitet war, legten die Nachbarn neben dem Hause des Kranken einen großen Scheiterhaufen an und wendeten sich alle in einer Stimme an die Mutter mit der Aufforderung, entweder ihre Sünden zu bekennen oder sich freiwillig dem Verbrennungstode zu überliefern. Die Bäuerin erschrak darüber so heftig, daß sie die Sprache verlor. Die Unmenschen aber faßten ihr Schweigen als Zeichen der „Bekennung ihrer Sünden“ auf und fielen mit einem glühenden Bügeleisen und glühendem Kupfer- und Messinggeräth über sie her. Als sie trotzdem kein Wort sprach, banden die Barbaren sie an einen langen Pfahl und, die entgegengesetzten Enden des Pfahls in den Händen drehend, begannen sie die Unglückliche über dem Scheiterhaufen zu rösten … Nach kurzer Zeit gab sie den Geist auf. Die Mörder aber begruben sie in aller Eile und Stille.

Am unheimlichsten indessen wirkt ein Vorfall, der sich von den bisher erzählten hauptsächlich auch dadurch unterscheidet, daß in ihm keinerlei selbstische Zwecke die treibende Kraft bilden. Er spielte im Gouvernement Ufa. Dort starb kürzlich ein Bauer eines unvermutheten Todes; die Angehörigen desselben weinten ein wenig um ihn, und am zweiten Tage nach dem Tode fand das Leichenbegängniß statt. Die gesammte Bevölkerung des Dorfes war versammelt. Als man aber den Sarg eben in die Gruft hinabgelassen hatte, sprang der mit Holznägeln befestigte Deckel plötzlich ab und im Grabe richtete sich, zum Entsetzen der Anwesenden, der in Weiß gekleidete Scheintote auf. Die Bauern, mit dem Pfarrer an der Spitze, ergriffen angsterfüllt die Flucht; der angeblich Tote, der bei dem herrschenden Winterfrost vor Kälte zitterte, folgte ihnen. Er lief ins Dorf, um Obdach flehend; aber alle Bauern schlossen sich in ihre Hütten ein, und nur zufällig gelang es dem Armen, in die Hütte einer alten Bäuerin zu dringen, der es nicht mehr gereicht hatte, ihre Thür zu verschließen. Dies rettete jedoch den Wiederauferstandenen nicht; die Dorfinsassen beschlossen, ihm den Garaus zu machen. Sie bewaffneten sich mit gespitzten Holzpfählen, umringten die Hütte und bemächtigten sich nach kurzem Kampfe des angeblichen „Hexenmeisters“. Erbarmungslos metzelten sie ihn nieder und nagelten ihn mit den Pfählen an den Boden. Der Pfarrer kam dann wohl zur Besinnung; er begriff, daß der arme Bauer einfach einen Starrkampf gehabt hatte und vom „Dorfarzt“ irrtümlich als Toter bezeichnet worden war. Allein als er die Polizei holen ließ, da war es schon zu spät: der Mann war jetzt wirklich tot und die Menge auseinander gegangen, nachdem sie beschlossen hatte, die gräßlich verstümmelte Leiche abends in einen Sumpf zu werfen.

An diese Fälle grausiger Begriffsverwirrung möge sich noch eine Geschichte anschließen, die insofern mit den bisher erzählten sich berührt, als auch sie die unheimliche Macht des Aberglaubens über halb oder ganz ungebildete Völker erläutert: es ist die Geschichte von den Jalwallahs, dem gefürchteten Britenregiment in Indien.

Dieses Regiment, seiner Nummer nach das hundertfünfzigste, ist eins der ältesten und berühmtesten in der britischen Armee. Unter Marlborough kämpfte es 1706 mit großer Tapferkeit bei Ramillies gegen die Franzosen; so blutig hatte es sich da auf dem Blachfeld seine Ehren erworben, daß jeder seiner Soldaten die Auszeichnung erhielt, eine breite rothe Schärpe von der linken Schulter über die Brust zu tragen.

Das Regiment kam dann nach Indien, wo seine wilden, verwegenen Gesellen wegen ihrer Schärpen von den Eingeborenen „Jalwallahs“ genannt wurden. Wie Teufel wütheten sie und keine Heerschar der Inder hielt ihren Angriffen stand. Sie schafften Ruhe im Lande; die von ihnen überwältigten Stämme wagten nicht mehr, der englischen Herrschaft offenen Widerstand zu leisten. In Azimpore, ihrer Garnisonsstadt, ruhten die Jalwallahs dann von ihren Kriegsfahrten aus; aber weit und breit im Lande blieb der Schrecken ihres Namens lebendig. Da kam die Cholera nach Azimpore und raffte so viele vom Regimente dahin, daß dieses nach dem vierzig Kilometer entfernten Ingradar verlegt wurde und dort auch fortan seinen Standort behielt. Die zahlreichen Opfer, welche die Seuche von den Jalwallahs gefordert hatte, waren eine halbe Stunde von Azimpore auf einem Felde an der Heerstraße begraben worden. Eine weiße Mauer wurde um die Begräbnißstätte errichtet, daneben eine Kapelle erbaut und von den abziehenden Kameraden den Gestorbenen auch ein Denkmal geweiht.

Ein Jahrhundert und mehr verfloß, ohne daß sich bei den nördlichen Hindostanern der Ruf der Jalwallahs verlor, obwohl keine ernsteren Kämpfe mehr zwischen beiden zu führen waren und die gefürchteten Truppen ihr Leben in Ingradar meist recht friedlich und bequem zubrachten. Vor allem vererbte sich im Volke die abergläubische Furcht vor dem Kirchhof bei Azimpore. Die Einwohner mieden diese Stelle, von der nach ihrer Einbildung Noth und Tod über sie ausging, und die eigenthümlichen, unverändert gebliebenen Signale des Regiments, welche die Hornisten mit ihren hellen, weithindringenden Trompeten gaben, klangen nicht an ihre Ohren, ohne sie zittern zu machen. Sie schwuren,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 610. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_610.jpg&oldid=- (Version vom 21.9.2023)