Seite:Die Gartenlaube (1891) 635.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Seufzen um die Häuser. Wehte derselbe seufzende Wind auch über das Grab am Fuß der Pyramide des Cestius und schienen auch dort die mattleuchtenden Sterne durch schnellziehendes Gewölk herab?

Und mit voller Schmerzensgewalt kam die Erinnerung an den toten Freund über den Einsamen.




6.

Nach ein paar Tagen hatte der Frühling auch in der alten Hansastadt seinen Einzug gehalten.

Ist er auch ein launenhafter Gesell, auf den man sich nicht verlassen kann, weil er heute lacht und morgen plötzlich wieder weint, so bleibt er doch immer der beste Freund und Tröster der Menschen; er schmeichelt erwachendes Hoffen in müde Seelen und singt allen zu Grabe getragenen Träumen sein verlockendes Auferstehungslied.

Heute war er in seiner rosigsten Stimmung, er lachte über das ganze Gesicht, hatte weit, weit den tiefblauen Himmel über der norddeutschen Hafenstadt ausgespannt, ließ ein lindes weiches Lüftchen wehen und tauchte die Straßen in freudigen Sonnenglanz, auch das große graue Patrizierhaus auf dem Alsterdamm, das, von zwei Eckthürmen flankiert, einen hohen Glaspavillon und einige Balkons zeigte und eine mächtige, herrlich geschnitzte Eichenthür aufwies, ein wahres Kunstwerk, dessen Entstehung ein paar Jahrhunderte zurückreichen mußte.

Vor dieser nachgedunkelten Eichenthür stand jetzt Waldemar Andree und bewunderte sie mit kundigem Auge. Er hatte einige Tage hingehen lassen, ehe er seinen beabsichtigten Besuch beim Senatar Brühl abstattete. Inzwischen hatte er sich die Stadt ein wenig angesehen, ein paar Theater besucht, war nach Blankenese und Altona hinübergefahren, hatte die Außen-Alster („Buten-Alster“ sagt der richtige Hamburger) beschaut und den Eindruck gewonnen, daß die Gegend bei vorgerückter Vegetation einen schönen und malerischen Anblick gewähren müsse, obwohl jetzt alles noch ein wenig kahl wirke. Auch war ihm ein höfliches Schreiben einer Witwe Wiedekamp aus der Admiralitätstraße zugegangen, in welchem sich diese auf die Empfehlung des Malers Hilt hin anheischig machte, Herrn Andree eine Wohnung von drei Zimmern mit Atelier zu überlassen, falls er bei näherer Besichtigung finde, daß ihm das Logis passe. Das war nun allerdings der Fall: das Atelier war groß und hatte ausgezeichnetes Licht, die Zimmer waren elegant und wohnlich ausgestattet, und die Lage, dicht beim Binnenhafen und der Norder-Elbe, besonders verlockend. Andree fand großes Wohlgefallen an dem Leben und Treiben im Hafengebiet. Weit weniger Wohlgefallen lockte ihm Frau Wiedekamp ab, die Witwe eines ertrunkenen Obersteuermanns. Sie schien nicht ungebildet, aber durch ihre wortreiche Freundlichkeit schimmerte ein Zug von Verschlagenheit, der den Maler unangenehm berührte. Auch war der Preis, den die Witwe forderte, ein unverhältnißmäßig hoher. Indessen, Andree war gut situiert, die Wohnung sagte ihm zu, mit Frau Wiedekamp brauchte er keine Freundschaft zu schließen und so versprach er denn, am ersten Mai nach der Admiralitätstraße überzusiedeln, bis dahin, etwa noch acht Tage, gedachte er in seinem Gasthof zu bleiben. –

Ungewiß, ob er sich bei Fräulein Stella Brühl oder bei ihrer Mutter melden lassen solle – der Senator würde um diese Zeit, halb ein Uhr mittags, ohnehin nicht daheim sein – stand der Maler vor der geschnitzten Thür mit einem nicht ganz ungetheiltem Gefühl: wie würde er Gelegenheit und Worte finden, das junge Mädchen mit dem bekannt zu machen, was sie doch erfahren mußte? Um allem Zögern und fruchtlosen Nachsinnen ein Ende zu bereiten, drückte er kräftig auf den Knauf der Glocke, ein heller Ton lief alarmierend durch die Stille, und sogleich sprang die schwere Eichenthür auf; aber in dem kleinen, seitwärts angebrachten Fenster tauchte kein Gesicht auf, sodaß Andree ohne weiteres das Haus betrat.

Der Treppenflur, in großartigen Verhältnissen und mit vornehmer Nichtachtung der in unserer Zeit überall vorwaltenden Raumersparniß angelegt, empfing ein sanftes bläulichrosiges Licht durch hohe, schmale Glasfenster, was dem Ganzen etwas Feierliches verlieh. Sechs graue Marmorstufen, welche die ganze Breite beanspruchten, führten in das Innere des schönen Raumes, in dessen Hintergrunde eine große Doppeltreppe mit breitem Geländer emporstieg.

Von dieser Doppeltreppe her kam ein starker Lärm, der die stille Weihe, welche diesem Raum sonst innewohnen mußte, auffallend beeinträchtigte. Noch konnte Andree nicht gewahr werden, von wem dieser Lärm ausging; da weit und breit kein Diener zu sehen war, an den er sich mit seiner bereitgehaltenen Karte hätte wenden können, ging er entschlossen auf die Doppeltreppe zu und erstieg einige Stufen.

Nun hörte er allerdings besser und sah auch!

Anfangs hatte er geglaubt, es müsse eine ganze Gesellschaft da oben versammelt sein, die aufgeregt durcheinander schreie, jetzt überzeugte er sich, daß es nur eine Gruppe von drei Personen war, die sich hier tummelte, und daß die Akustik des ungewöhnlich großen und hohen Raumes den Schall der Stimmen so erheblich verstärkte. Auf den obersten Stufen rangen zwei halbwüchsige Jungen miteinander. Der eine kniete dem andern auf der Brust, aber der zu unterst liegende hatte den Kopf des Knieenden zu sich herabgezogen und riß ihn bald abwechselnd bei den Haaren, bald bearbeitete er ihn mit den Fäusten; dabei schrieen und schimpften beide durcheinander, und jetzt rollten sie, immer noch unlöslich verbunden, zwei oder drei Stufen hinab.

Die dritte Persönlichkeit im Bunde war ein junges, hoch emporgeschossenes Mädchen, das für seine Größe etwas zu kurze Kleider trug und einen mächtigen dunkelfarbigen Zopf über den Rücken herabhängen hatte. Mehr war nicht von ihr zu sehen, da sie sich tief zu den Ringern hinabgebeugt hatte, offenbar bemüht, sie zu trennen. Ihre Stimme, die einen tieferen Klang hatte als die der Knaben, mischte sich in deren Geschrei, und Andree konnte einzelne Worte verstehen.

„Loslassen! Auf der Stelle! Wolfgang, Du Taugenichts, Du drückst ihm den Brustkasten ein. Heinz, Du schlägst jetzt nicht mehr! Ruhe, Jungen! Loslassen! Hört Ihr nicht? Dann werdet Ihr’s fühlen – Ihr sollt es erleben, daß ich Euch auseinander bringe!“

Und sie erlebten es wirklich. Mit einer Körperkraft, die gewiß niemand in dem schmächtigen jungen Geschöpf geahnt hätte, riß sie den Knieenden mit beiden Händen in die Höhe, daß er taumelnd auf die Füße zu stehen kam, und dann raffte sie den andern, der laut keuchte, von der Erde auf und hielt ihn fest, bis er sich an das Geländer gelehnt hatte. Athemlos von ihrer Anstrengung stand sie da und musterte mit zornigen Blicken die Jungen, die einander wie zwei erboste Kampfhähne anstarrten und nicht übel Lust zu haben schienen, noch einmal anzufangen.

„Wie Ihr ausseht! Wolfgang, das ist die neue Hose, die kannst Du nicht mehr tragen! Und Heinz, Du hast ihm ein ganzes Büschel Haare ausgerissen, mach’ die Hand auf. ich hab’ es ja gesehen! Ihr dummen Bengel! Was? Noch einmal wollt Ihr anfangen? Untersteht Euch!“ Sie langte nach ihrem schweren, langen Zopf und gab damit jedem der Jungen ein paar scharfe Hiebe über den Rücken. „Jetzt marsch!“

„Das ist recht, gnädiges Fräulein!“ ließ sich eine breite Männerstimme vernehmen, und ein großer dicker Portier in voller Gala stand, wie aus der Erde gewachsen, neben der Gruppe. „Heinz, Schlingel, wie kannst Du Dich unterstehen und dem jungen Herrn die Haare vom Kopf reißen?“

„Ach, Unsinn! Der junge Herr ist nichts besseres als Ihr Heinz, Oehmke, und hat außerdem angefangen. Wenn einer auf mir knieet und mich bald abwürgt, dem werd’ ich wohl eine Hand voll Haare ausrupfen dürfen. Die Jungen taugen alle beide nichts! Heinz, mach’, daß Du wegkommst, und Wolf kommt mit mir!“

Es war keine anmuthige Scene gewesen, die Andree da mit angesehen hatte: eine regelrechte Prügelei, in die sich ein Mädchen gemischt hatte – ein Mädchen, das Kraftausdrücke gebrauchte und mit einem langen Zopf um sich schlug, und doch mißfiel ihm das Ganze durchaus nicht, wenn es ihn auch stark befremdete. Er war auf etwas Derartiges im Hause des Senators Brühl nicht gefaßt gewesen. Ob dies seine jüngeren Kinder sein konnten? Und wenn sie es waren – wie kam es, daß sie so unbeaufsichtigt hier im Treppenflur umhertoben durften?

Der Portier zog mit seinem Sprößling nach der andern Hälfte der Doppeltreppe ab, und das junge Mädchen versuchte Wolfgangs Anzug etwas in stand zu setzen. Sie rückte an seinem Schlips und Hemdkragen, glättete ihm mit einem Taschenkämmchen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 635. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_635.jpg&oldid=- (Version vom 2.2.2024)