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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

gelbe Gewänder tragen. Dem Scheich wird göttliche Unfehlbarkeit zugesprochen und unumschränkte Macht über seine untergebenen Brüder, die ihm sklavischen Gehorsam schulden. Allerdings wird er diese Gewalt kaum mißbrauchen, da er – nach dem Glauben der Moslims – eine so hohe Stufe der Vollendung erreicht hat, daß nur noch milde Frömmigkeit und wahre Menschenliebe sein Inneres beseelen.

Das Ziel eines jeden Bundes soll nämlich sein das Streben nach göttlicher Vollkommenheit. Die Heiligkeit ist eine „Leiter“, deren höchste Sprossen zu erklimmen jedoch nur wenigen vergönnt ist.

Jeder Orden ist gewöhnlich in sieben Grade eingetheilt. Jeder Grad kann – und dies ist namentlich bei den Aïssaua der Fall – nur erworben werden nach jahrelanger Nüchternheit, Enthaltsamkeit und strengster frommer Bußübung, die, mit körperlicher und seelischer Selbstpeinigung verbunden, eine Umstimmung des ganzen psychologischen Lebensprozesses herbeiführt, so daß alsdann auch die unglaublichsten Qualen dem gegen Leiden und Schmerzen gestählten Körper nichts anhaben können. Mit jedem neuen Grade empfängt der Gläubige einen anderen Namen. Erst mit dem dritten Grade heißt er Fakir (persisch Derwisch[1]), d. i. ein Armer, jedoch im mystischen Sinne dieses Wortes, in Anbetracht seines noch unzulänglichen Wissens und seiner noch geringen Macht über die geheimen Kräfte des Menschen und der Natur wie seines noch kurzen Fortschrittes auf der Bahn zur vollkommenen Glückseligkeit. Er entspricht demnach auf dieser Stufe dem brahmanischen Yogi und dem buddhistischen Bickschu. Das höchste Ziel – Versenkung und Aufgehen in Gott, also das Nirwâna der Hindu – wird nur von wenigen Auserwählten des siebenten Grades erreicht, den Tauhîdi, die somit den buddhistischen Arahats oder Mahatmas gleichstehen, denen alle Geheimnisse der Natur entschleiert sind und denen die Gabe verliehen ist, „Wunder zu verrichten“. Alle Brüder bilden zusammen die sogenannte „Kette“, hiermit an die hermetische[2] Kette der Neuplatoniker[3] erinnernd. Die Regeln und Lehren eines Ordens werden streng geheim gehalten und nur hin und wieder auf besondere Vergünstigung hin solchen Fremden und Profanen theilweise anvertraut, die „das Licht suchen“.

Jede Brüderschaft ist vom Ordensgeneral an bis herab zum niedrigsten dienenden Laienbruder streng gegliedert und schärfste Disciplin herrscht überall. Denn nur so kann das End- und Hauptziel erlangt werden: „das Wirken zur größeren Ehre Gottes und die Erhöhung und Ausbreitung des wahren Glaubens“ (d. i. des Islam).

Diesem Zwecke und dieser Lehre gemäß sind die meisten Orden von der gehässigsten Unduldsamkeit gegen Andersgläubige, namentlich gegen die „Christenhunde“ erfüllt. Und es ist noch nicht viele Jahre her, seitdem es den christlichen Reisenden gestattet ist, den Straßenaufzügen und den Versammlungen der Aïssaua anzuwohnen und ihre „heilige Stadt“ Kairuân zu betreten. Warum diese Erlaubniß jetzt ertheilt wird und wie es kommt, daß die Aïssaua, die sich doch ganz besonders durch ihre strenge Rechtgläubigkeit und durch unbiegsame Treue gegen ihre Grundsätze auszeichnen, sogar nach Europa gesandt werden, um den so sehr verabscheuten Christen ihre Wunderthaten zu zeigen, das muß allerdings berechtigte Verwunderung erregen – doch den eigentlichen Grund hierfür kennt wohl der Ordensgeneral allein.

Der Orden der Aïssaua wurde zu Anfang des 16. Jahrhunderts gegründet. Sein Stifter stammte aus königlichem Geschlechte und wurde in der marokkanischen Stadt Mekinez geboren. Nachdem er auf einer Pilgerfahrt nach Mekka in die Geheimnisse der arabischen und ägyptischen Sekten eingeweiht worden war, kehrte er als „Wissender“ in seine Heimath zurück, wo er durch die weisen Lehren, die er predigte, durch das sittenreine Leben, das er führte, und durch die erstaunlichen Wunder, die er that, bald einen zahlreichen Kreis begeisterter Jünger um sich versammelte. Als einer der größten Heiligen des Islam wird er verehrt unter dem Namen Sidi Mohammed ben Aïssa. Aïssa oder ’Yssa (= Jesus oder Jeschuah) ist ein bei den Arabern sehr beliebter Name, nach welchem sich seine Anhänger „Aïssawîjja oder Aïssaua“ nennen.

In Europa traten die Aïssaua zum ersten Male während der Pariser Weltausstellung im Jahre 1867 auf und erregten damals schon ungemeines Aufsehen. Ob sie auch auf der zweiten Pariser Weltausstellung im Jahre 1878 waren, weiß ich nicht; ich wenigstens habe sie damals nicht bemerkt. Wie ganz natürlich, wurden ihre Leistungen vor 20 Jahren als reiner Schwindel, als Taschenspielerei hingestellt, was ja auch heutigen Tages noch von zweifelsüchtigen oder besser gesagt unwissenden Leuten geschieht.

Damals war eine solche Anschauung allerdings wohl zu entschuldigen, denn man kannte ja die verwandten Erscheinungen des Hypnotismus noch nicht genügend, um diese allenfalls zur Erklärung herbeiziehen zu können. Anders verhält sich die Sache gegenwärtig. Nicht länger mehr läßt sich die Echtheit der wunderbaren Vorstellungen mohammedanischer Fakire und indischer Yogins ableugnen. Ihre Thatsächlichkeit ist durch massenhafte, unanfechtbare Zeugnisse unumstößlich festgestellt. Auch die moderne Naturwissenschaft hat sich der merkwürdigen Erscheinungen bemächtigt, sie theilweise schon gründlich untersucht und – soweit es bis jetzt möglich ist – erklärt, oder doch hingewiesen auf den Weg der Erklärung, der schließlich zum Ziele führen muß.

Die Echtheit und Wahrheit der geschilderten Schaustellungen wird erwiesen und bekräftigt: 1) durch das Fehlschlagen mancher Experimente, 2) durch die massenhaft angehäuften, unantastbaren Zeugnisse anderer Leute, bedeutender Reisenden und Gelehrten, welche dieselben Leistungen unter anderen Verhältnissen und an andern Orten gesehen haben, 3) durch ähnliche, von der Wissenschaft angestellte Versuche, welche den oben beschriebenen Experimenten der Aïssaua als Erklärung dienen können.

Anknüpfend an die Bemerkung auf dem Programmzettel, daß mit den Vorstellungen keine Gefahr für die ausführenden Aïssaua verbunden sei, fragte ich den französischen Impresario, ob es niemals vorkomme, daß sich ein Aïssauî verletze. Er antwortete, daß dies bisweilen geschehe, und daß man derartige Leute mit oft tiefen Wunden hin und wieder in Algerien antreffe. Das seien dann solche Ordensbrüder, die – nach der Meinung der Muselmänner – noch nicht „heilig“ genug seien, denn den sittlich völlig reinen Derwischen könne kein Unfall irgendwelcher Art zustoßen. Dieses manchmal eintretende Mißlingen der Vorführungen beweist schlagend, daß das Gelingen nicht gänzlich vom Willen des Ausführenden abhängt, daß die Experimente keine Taschenspielereien sind, denn kein Taschenspieler wird so thöricht sein, sich vorsätzlich und absichtlich vielleicht für sein ganzes Leben durch tiefe, schmerzhafte Verwundungen zu schaden.

Der vertrauenswürdigen Gewährsmänner für die Thatsächlichkeit dieser Vorführungen aber sind es so viele und so gute – wir nennen hier außer den oben erwähnten deutschen und französischen Forschern nur die Deutschen Schweiger-Lerchenfeld, von Maltzan, Graf von Schack, Friedrich von Hellwald, W. Preyer, Eduard Glaser, die Engländer Browne, Lane, Richardson, den Italiener de Amicis, die Franzosen Narcisse Cotte und Benjamin Constant – daß auch der hartgesottenste Zweifler sich überzeugen lassen müßte.

Uebrigens sind jene Erscheinungen ja nichts weniger als neu. Wir finden sie von den ältesten Zeiten an bei allen Völkern und in allen Religionen, so z. B. bei den heidnischen Schamanen in Sibirien, bei den buddhistischen Mönchen in Tibet, bei den brahmanischen Yogins in Indien und schließlich auch bei christlichen Sekten.

Da muß – um nur einen einzigen Fall zu erwähnen – vor allem auf die ungemeines Aufsehen erregenden, eigenthümlichen Vorgänge hingewiesen werden, die im vorigen Jahrhundert (1730 bis 1762) am Grabe des Abbé Paris, des Stifters der jansenistischen Sekte der „Konvulsionäre“, in der Stadt Paris selbst stattfanden, die, so unglaublich und außerordentlich sie auch sind, nicht einmal von den Jesuiten, den heftigsten Gegnern der Jansenisten, geleugnet werden konnten, und die selbst der zweifelsüchtige englische Philosoph Hume und der noch skeptischere französische Schriftsteller Diderot als auf Wahrheit beruhend anerkennen mußten.

Die furchtbarsten Mißhandlungen ihres Körpers dienten


  1. Persisch Der = Thor, Thür, wisch = Bettler; also Derwisch = einer, der an den Thüren bettelt.
  2. Kurz und annähernd durch „Kette der Weisen“ zu übersetzen.
  3. Die letzte griechische Philosophenschule, deren letzte Anhänger im 3. Jahrhundert n. Chr. lebten.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 663. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_663.jpg&oldid=- (Version vom 5.10.2023)