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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Der Silhouettenschneider.
Nach einer Zeichnung von W. Zehme.


Als man sie über die Erscheinungen ausforschte, die sie gehabt haben solle, gab sie ohne Zaudern an, wer ihr erschienen sei, wann sie diese Gesichte gehabt und was sie dabei gehört habe. Wenn man die ganz bestimmten und rührend einfachen Bekenntnisse Johannas liest, so schwinden alle Zweifel an ihrer Wahrhaftigkeit; es muß unbedingt zugegeben werden, daß Johanna selbst fest überzeugt war, den Erzengel Michael, die heilige Katharina etc. geschaut zu haben. Ihre Visionen waren Wahngebilde ihrer eigenen Phantasie, aber ohne daß sie es wußte. Für sie hatten sie Wirklichkeit und bestimmten durchaus ihre Handlungen. In ihren Antworten auf die Fragen der Richter macht sie Unterschiede in Bezug auf das, was die Heiligen zu ihr gesprochen haben: manches verweigert sie zu bekennen. Als z. B. der Richter von ihr wissen will, durch welche geheimen Zeichen sie den König von Frankreich dazu gebracht habe, ihr zu vertrauen, versagt sie jede Auskunft. Die Richter dringen in sie, sie bleibt bei der Weigerung. Da läßt man die Folterknechte kommen und ihr die Schrecken der einzelnen Folterwerkzeuge erklären, wie das bei Beginn der „peinlichen Frage“ zu geschehen pflegte. Sie entgegnet: „Wenn der Schmerz mir falsche Zeugnisse abpreßt, so werde ich sagen, daß ich nur durch Gewalt gesprochen habe.“

Man wendete aber die Folter nicht an.

Das Verfahren bei dem Prozeß selbst stand mit allen Begriffen von Recht und Ehre im Widerspruch. Die meisten der Richter waren so rohe und im Eigennutz verkommene Gesellen, daß das Auftreten Johannas, ihr würdiger Anstand, ihr stolzes Unschuldsgefühl gar keinen Eindruck auf sie machte. Nur vereinzelt fand sie Sympathien. Ein Mönch Isambard, der ebenfalls dem Gerichte angehörte, war von ihrem Heldenmuth so ergriffen, daß er während der Verhandlungen versuchte, ihr durch Zeichen und Mienen Warnungen und Rathschläge zu geben. Ja, er ging so weit, sie auffordern zu lassen, daß sie sich an das Konzil zu Basel um Untersuchung ihrer Sache wende. Dafür erklärte dem braven Mann ein Graf Warwick: „Wenn Du Hund nicht aufhörst, dem Weibe Rathschläge zu ertheilen, so lasse ich Dich in die Seine werfen.“ Ein englischer Adliger, der den Sitzungen beiwohnte, wurde von der Erscheinung und dem Stolze der Jungfrau zu dem Ausruf hingerissen: „Fürwahr, wie schade, daß sie keine Engländerin ist!“

Die Form der Verhandlungen war unerhört; man ließ Johanna nicht einmal die nöthige Zeit zur Ueberlegung der Antworten und bedrängte sie dergestalt mit Fragen, daß sie einmal ausrief: „Aber so sprecht doch wenigstens einer nach dem andern!“ Auch die Protokolle sind nicht genau und gewissenhaft geführt. Cauchon hat öfters nachträgliche Aenderungen oder doch Streichungen vorgenommen.

Endlich waren die langen und zahlreichen Verhöre beendet. Gegen das Ende derselben war Johanna, körperlich und geistig furchtbar angegriffen, in eine schwere Krankheit verfallen. Einige Tage schien es, als ob sie erliegen sollte; allein ihre kräftige Natur und die sorgsame Pflege der Engländer, die ihren Zweck noch nicht erreicht hatten, erhielten sie am Leben, und sie genas.

Nach der Gepflogenheit in derartigen Prozessen mußten die Akten, bevor das Urtheil gefällt wurde, an einflußreiche und gelehrte Körperschaften eingesandt und deren Gutachten abgewartet werden. Im vorliegenden Fall sollte unter anderem das Domkapitel von Rouen und die Pariser Universität angegangen werden. Statt nun aber die vollständigen Akten abzuschicken, fertigte Cauchon einen Auszug an, in welchem alles, was zu Johannas Rechtfertigung dienen konnte, böswillig weggelassen, ein Theil ihrer Aussagen entstellt und namentlich mit unheimlicher Kunst den an und für sich wahren Thatsachen eine Beleuchtung und Verknüpfung gegeben war, die den Leser unwillkürlich gegen das Mädchen einnehmen mußte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 717. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_717.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)