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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

jene Diebe, welche eine besondere Neigung für Billardbälle, Gasarme, Thürklinken u. s. w. haben – eine Liste, die wir noch vielfach fortsetzen könnten.

Festnahme eines Taschendiebes.

Was alles in Berlin gestohlen wird, ist wirklich mehr als erstaunlich – Lackstiefel und Oberhemden, Kaviarbüchsen und eiserne Nägel, wollene Unterkleider und Schachteln mit Zahnpasta, Theekannen und Fettpuder, medizinische Bücher und angerauchte Meerschaumpfeifen, vernickelte Stahlkämme und Dosen mit Insektenpulver, Suppenterrinen und eingemachte Früchte, selbst mehrere Dutzend Flaschen mit „Antidiphtheritis“ und Leberthran beschlagnahmte beispielsweise die Polizei bei einem einzigen Hehler. Wurde doch vor wenigen Jahren vom Tegeler Schießplatze das Bronzerohr eines Vierundzwanzigpfünders gestohlen, und die Entdeckung erfolgte nur, weil man wegen eines in derselben Nacht gefallenen leichten Regens noch die tiefen Räderspuren des Fuhrwerks, auf welchem das Rohr fortgeschafft[WS 1] worden war, verfolgen konnte: es war höchste Zeit, denn die „Kanonendiebe“ waren bereits eifrig daran, die Bronze zu zersägen! Mehrfach ist es vorgekommen, daß die Zinkdächer einzelner abseits liegender Gebäude theilweise oder ganz abgedeckt und die Platten zentnerweise auf Handwagen fortgeschafft wurden. Auch einen „fetten Braten“ verschmähen die Spitzbuben nicht; mit langen Stangen haken sie abends die an den Küchenfenstern hängenden Hasen, Gänse, Rehkeulen etc. ab. Einem dieser Diebe stach einst ein feister Martinsvogel in die Augen, aber seine Mühe, ihn abzuheben, war vergeblich, weil der zu fest angebunden war; durch das Geräusch mochte das Dienstmädchen aufmerksam geworden sein und sie öffnete das Fenster, worauf der Dieb ihr warnend zurief: „Sie, Rieke, eben war ein Mann hier, der die Gans mausen wollte, sehen Sie sich vor!“ Natürlich beeilte sich die Küchenfee, den Braten loszubinden, im selben Augenblick aber, als sie den Faden gelöst, erhielt sie mit dem Stocke einen solchen Schlag auf die Hand, daß sie erschrocken die Gans fallen ließ, mit welcher der eigennützige Warner flugs verschwand. –

Auf die unzähligen, täglich in Berlin verübten anderen Gaunereien und Schwindeleien einzugehen, würde uns hier zu weit führen; die einst so gefürchteten „Bauernfänger“ sind infolge der polizeilichen Maßregeln und der steten Zeitungswarnungen fast gänzlich verschwunden, nur sehr Dumme fallen den wenigen Uebriggebliebenen in die Hände. Dagegen ist das Hochstaplerthum bei der enormen Vergrößerung Berlins und dem wachsenden Fremdenzufluß üppig emporgeblüht.

Im Gegensatz zu anderen Weltstädten giebt es in Berlin keine eng verbundenen größeren Verbrecherbanden, die hintereinander eine Reihe planmäßiger Raubzüge unternehmen und zuweilen eine wahre Schreckensherrschaft ausüben. Nur gelegentlich des Dickhoffschen Prozesses (1883), der ja in ganz Deutschland Aufsehen erregte, wurde eine ganze Schar Hand in Hand arbeitender Verbrecher entlarvt oder eigentlich noch mehr nur vermuthet. Im allgemeinen „arbeiten“ die Berliner Verbrecher in kleinen, aus höchstens vier bis sechs Personen bestehenden Gruppen, und auch in solcher Zahl bloß, wenn es sich um etwas ganz Besonderes handelt. Die einzelnen Gruppen und Verbrecher aber haben selbstverständlich untereinander Fühlung und verkehren „kameradschaftlich“ zusammen; sie treffen sich, falls sie sich der Freiheit erfreuen, in bestimmten Lokalen, denen man äußerlich keinen Unterschied von anderen Kneipen anmerkt, helfen sich gegenseitig vor dem Kriminalkommissar und dem Untersuchungsrichter oder wo sonst einer des anderen Unterstützung bedarf. Dieser „Corpsgeist“ ist ein ganz außerordentlich reger und erstreckt sich auch auf materielle Hilfe, wenn dieser oder jener Kumpan in Noth gerathen ist, er läßt ferner fast nie Streitigkeiten aufkommen und regelt auch ohne Zwist die Theilung der Beute, ja, er geht soweit, daß ein Dieb gern die Schuld seines bei einem gemeinsamen Unternehmen betheiligten Genossen auf sich nimmt, weil er weiß, daß jener wegen seiner Vorbestrafungen eine empfindlichere Strafe als er selbst zu erwarten hat.

Dem Zweck eines festen Zusammenschlusses dienen auch die Verbrechersprache und die Verbrechernamen. Hat die Berliner Spitzbubenzunft einen neuen Genossen erhalten, so wird ihm sofort ein Beiname zugelegt, der in irgend einer Beziehung zu ihm steht und den er sein Lebtag nicht wieder verliert, über dem seine Gefährten alsbald seinen eigentlichen Namen vergessen und der oft noch nach seinem Tode lange Zeit in der Erinnerung der übrigen weiterlebt. Derartige Namen sind beispielsweise: „Blechkopf“, „der schöne Robert“, „der Regierungsrath“, „Pulverkopf“, „Schuster-Karl“, „Opernsänger“, „Glatter Adolf“, „Schiefmaul“, „Plattbein“, „Sonntagsreiter“, „Blücher-Max“, „Langer Ede“, „Platzmajor“, „Gärtner-August“, „Strippen-Friedrich“, „Spitzmaus“, „Staatsanwalt“, „Droschken-Karl“, „Mohrenschmidt“, „Goldfasan“ etc. Daß auch die Verbrecherinnen hierbei nicht leer ausgehen, beweist folgende Blumenlese: „Chokoladen-Minna“, „Falsche Gräfin“, „Keller-Jette“, „Lange Klara“, „Schottische Marie“, „Bouillonkopf“, „Blubber-Juste“, „Schiefe Laterne“, „Langnasige Pauline“, „Spitzbuben-Ida“, „Mohren-Hedwig“, „Perl-Agathe“, „Dragoner-Anna“, „Königin der Nacht“ und „Bankierswitwe“. –

Die Sprache der Berliner Verbrecher, das „Gaunerdeutsch“ oder „Gaunerrothwelsch“, hat einen großen Vokabelreichthum dem Hebräischen entnommen; aber im Laufe der Zeit sind die Worte etwas verändert oder auch theilweise berolinisiert worden und weisen daneben häufige Anklänge an die Zigeunersprache auf. Der Neuling auf der Verbrecherbahn wird sich bemühen, dieses Idiom sobald wie möglich zu erlernen, und es bereitet ihm wenig Schwierigkeiten, denn die Unterhaltung wird in „diesen Kreisen“ eben nur in dieser Sprache geführt. Der „berufsmäßige“ Dieb heißt „Gannew“, der Einbrecher „schwerer Junge“, der Taschendieb „Torfdrücker“, der Kollidieb „Johlegänger“, der Bodendieb „Flatterfahrer“, der Schaufensterdieb „Abhänger“, der Ladendieb „Schottenfeller“, der Bauernfänger „Thürmer“, der gewerbsmäßige Spieler „Zocker“, der Bettler „Schmalmacher“. Vereinigen sich mehrere Diebe, so bilden sie eine „Chawrusse“, stehlen sie gelegentlich, so „schießen“ sie, während der Diebstahl selbst mit „Masematten“ bezeichnet wird; fast immer wird dieser, wie oben geschildert, „ausbaldowert“, während die Helfer „Schmiere“ stehen. Alles ist vorher aufs genaueste „bedibbert“ (besprochen) worden, und zwar „betuch geschmust“ (sehr leise); ist der mit den „Kabbern“ (Gefährten) unternommene Diebstahl „koscher“ (gut) gegangen und hat das „Geschäft“ (die That) gelohnt, so wird die „Sore“ (Beute) sofort zum „Schärfer“ (Hehler) gebracht, der sie „verschiebt“ (weiter befördert) und den „Draht“ (das Geld) „abladet“ (hergiebt). Oft geht aber alles nicht so „keß“ (gut), die „Schmieresteher“ „bekommen Lampen“ (wittern Gefahr) und „stechen Zinken“ (geben ein Zeichen), worauf, wenn diese Störung nur eine vorübergehende ist, alles „verduftet“ (kurze

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: fortgeschafst
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 815. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_815.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)