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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

„Fräulein Dora, werden Sie bisweilen an mich denken?“

Der Ton der Frage war so ernst, daß er keine unbefangene Antwort zuließ, Dora senkte den Blick.

„Ich denke, Sie kommen nach Heidelberg?“

„Vielleicht im nächsten Frühjahr. Jedoch bis dahin – haben Sie mich wohl längst vergessen.“

„Nein!“ sagte das junge Mädchen leise aber fest und hob langsam wieder die schönen braunen Augen empor; sie tauchten tief in die des Fragenden, tief und ernst, und er mußte der Versicherung wohl Glauben schenken, denn seine Hand umschloß plötzlich mit festem leidenschaftlichen Drucke die ihrige.

Da öffnete sich die Thür und Professor Herwig erschien. Auch er bemerkte mit dem höchsten Befremden die Oelpracht seines Kollegen, da er aber dessen Empfindlichkeit kannte, so äußerte er nichts darüber, sondern schüttelte ihm die Hand, während Dora in das Haus ging, um Hut und Handschuhe zu holen. Gleich darauf vernahm man drinnen ihre Stimme.

„Wenn ich nur wußte, wo mein Schleier geblieben ist! Er war doch um den Hut gelegt, und jetzt finde ich ihn nirgends.“

Friedel, der mit seinem Blumenstrauß soeben wieder herbeigekommen war, wurde blutroth und schielte ängstlich zu seinem Herrn hinüber. Jetzt mußte dieser doch den vermißten Schleier übergeben, was er bisher wahrscheinlich vergessen hatte, aber seltsamerweise geschah das nicht. Der Professor, der auf einmal auch merkwürdig roth im Gesicht aussah, wandte sich vielmehr zu seinem Kollegen und begann mit krampfhafter Lebhaftigkeit von irgend welchen Moosarten zu sprechen, zur Verwunderung Herwigs, der es etwas sonderbar fand, jetzt, im Augenblick der Abreise, ein wissenschaftliches Thema zu erörtern.

Inzwischen war der Wagen vorgefahren, das Gepäck wurde herausgeschafft und aufgeladen, und die Wirthsleute mit ihrer ganzen Familie kamen herbei, um den scheidenden Gästen Lebewohl zu sagen. Professor Normann aber war noch immer bei den Moosen und Dora suchte noch immer ihren Schleier. Jetzt trat sie heraus und fragte:

„Friedel, Du hast ja meinen Hut gestern abend in das Haus getragen, hast Du den Schleier nicht gesehen?“

Der arme Junge wagte nicht, zu antworten und senkte schuldbewußt den Kopf; da kam ihm die Hilfe von einer Seite, von wo er sie am wenigsten erwartet hatte. Sein Herr wandte sich plötzlich um, nahm ihm den Blumenstrauß ohne weiteres aus der Hand und sagte, ihn der jungen Dame überreichend:

„Hier, Fräulein Dora, ein Abschiedsgruß von Schlehdorf!“

Das war ein glücklicher Gedanke, denn nun kamen die sämmtlichen Hausbewohner mit ihren Blumensträußen gleichfalls herbei und umringten die Scheidenden. Es begann ein allgemeines Abschiednehmen und Händeschütteln, und darüber gerieth der fehlende Schleier glücklich in Vergessenheit. Nur Friedel sah tiefgekränkt aus. Er hatte doch die Blumen gepflückt und zusammengebunden, und nun nahm sie ihm der Herr Professor weg und schenkte sie dem Fräulein, und er selbst stand mit leeren Händen da. Er fühlte sich erst einigermaßen getröstet, als Dora ihn herbeirief und aufs freundlichste von ihm Abschied nahm.

Jetzt saßen die Reisenden im Wagen, noch ein letztes Winken und Grüßen, dann ging es fort, hinein in den sonnigen Morgen. Dem Friedel liefen die Thränen über die Backen, aber plötzlich fiel es ihm ein, daß der Weg um den ganzen See herum führe und daß man von der kleinen Anhöhe, am Ende des Gartens, den See überblicke. Er eilte spornstreichs dorthin, und der Professor, dem das gleichfalls einleuchtete, folgte ihm mit langen Schritten. Da standen sie nun beide und sahen dem Wagen nach, der in der That noch eine ganze Weile sichtbar war. Friedel schluchzte zum Herzbrechen und Normann schalt ihn, aber dabei sah er aus, als hätte er mit dem trostlosen Jungen am liebsten ein Duett angestimmt.

„Flenne nicht!“ sagte er endlich. „Im Frühjahr siehst Du das Fräulein wieder. Wir gehen nach Heidelberg.“

Friedels Thränen versiegten plötzlich, seine Augen leuchteten auf, und fast athemlos vor freudiger Ueberraschung fragte er:

„Ich auch?“

„Natürlich! Fräulein Dora würde mir ein schönes Gesicht machen, wenn ich Dich nicht mitbringen würde, aber erst hast Du gesund zu werden – verstanden? Solch ein Jammerwesen, wie Du jetzt noch bist, will ich nicht mitbringen; ein dicker, rothbackiger Bube hast Du zu werden, damit ich Ehre mit Dir einlege, sonst gnade Dir Gott!“

„Ich geb’ mir schon alle Mühe dazu,“ versicherte der Knabe treuherzig.

„Ja, das thut mancher!“ brummte der Professor – er sprach nicht aus, was er dachte: daß es jedenfalls leichter für den Friedel sei, dick und rothbackig, als für ihn selbst, „menschlich“ zu werden, wie es von gewisser Seite gefordert wurde und leider mit Recht. Es ging doch nicht an, daß man ein grimmiger Sonderling, ein menschenfeindlicher Einsiedler blieb, wenn man – nun wenn man nach Heidelberg wollte.

„Friedel,“ sagte er, das Auge noch immer auf den schon weit entfernten Wagen gerichtet. „Wie war doch der Singsang, den Du gestern gelernt hast, das Lied von Heidelberg? Kennst Du die Melodie noch?"

Friedel nickte und begann sofort mit seiner schwachen, aber wohllautenden Stimme:

„Alt-Heidelberg du Feine!“

Er hatte Text und Melodie noch vollkommen im Kopfe und sang ganz richtig die Strophen herunter; als er damit zu Ende war, geschah etwas Unerhörtes, Unglaubliches, Herr Professor Normann fing selbst an zu singen. Ja, er sang wirklich und wahrhaftig, und als der Friedel ihn ganz entsetzt mit offenem Munde anstarrte, sang er allein den letzten Vers noch einmal. In greulich falschen Tönen, jedoch im kräftigsten Baß klang es über den See, dem eben verschwindenden Wagen nach:

„Auch mir bist du geschrieben
Ins Herz gleich einer Braut,
Es klingt wie junges Lieben
Dein Name mir so traut!“




In seinem Studierzimmer zu Heidelberg ging Professor Herwig ungeduldig und ein wenig ärgerlich auf und ab. Von Zeit zu Zeit warf er einen Blick auf die Uhr und dann trat er wieder an das Fenster, das auf die Straße hinausging.

Der Bahnzug war schon vor geraumer Zeit eingetroffen, und die Reisenden, die er gebracht hatte, mußten längst in der Stadt sein, aber noch immer ließ sich kein Wagen vor dem Hause blicken.

Man erwartete den Professor Normann, der die Berufung an die Universität Heidelberg nun in der That angenommen hatte und heute eintreffen sollte. Er kam vorläufig nur auf einige Tage, um die Uebersiedlung vorzubereiten, die erst im nächsten Monat stattfinden sollte, und hatte für diesen kurzen Aufenthalt die angebotene Gastfreundschaft des Herwigschen Hauses angenommen.

Jetzt aber schlug die Uhr zwölf, eine volle Stunde war über die festgesetzte Zeit verstrichen, und es blieb nur die Annahme übrig, daß der Professor aus irgend einem Grunde den Zug versäumt habe. Wahrscheinlich traf im Laufe des Tages eine Nachricht von ihm ein, jedenfalls kam er jetzt nicht mehr. Etwas verstimmt über diese Unpünklichkeit verließ Herwig endlich das Zimmer, um seiner Tochter, die sich im Garten befand, mitzutheilen, daß der erwartete Gast ausgeblieben sei.

Der Professor bewohnte eine der höher gelegenen Villen, und der Garten derselben, der am Bergeshang lag, bot den vollen Ausblick über die Stadt und deren Umgebung. Es war in den ersten Frühlingstagen, ringsum keimte, sproßte und grünte das Frühlingsleben. Die Bäume standen bereits in voller Blüthe, überall, in den Gärten, zwischen den Häusern, am Bergeshang leuchteten die weißen oder zartrosigen Schleier, und drüben auf den Höhen schimmerte ein wahres Meer von duftigem Blüthenschnee. Blitzend und funkelnd zogen die Wellen des Neckars dahin, im hellen Mittagssonnenschein, weit hinaus in das schöne Neckarthal, und wie in silbernen Duft eingehüllt verschwamm die Ferne. Das Lied hatte wohl recht, der Frühling hielt auf seinem Wege nach dem Norden wirklich hier Rast und webte der Stadt aus feinen Blüthen „ein schimmernd Brautgewand!“

Herwigs Blicke schweiften mit stiller Freude über die Landschaft, die ihm so lieb geworden war. Er begriff es nicht, daß man gleichgültig dagegen sein konnte wie Kollege Normann. Ja freilich, dieser Sonderling machte ihm und der Universität vielleicht noch mancherlei zu schaffen. So hoch er dessen wissenschaftliche Bedeutung schätzte, so sehr er die Berufung als einen Gewinn ansah,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 834. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_834.jpg&oldid=- (Version vom 21.11.2023)