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verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Die meisten Frevelthaten, die den „schlechten“ römischen Kaisern zur Last fallen, sind denn auch gegen Mitglieder des ersten Standes gerichtet. Gütereinziehungen, willkürliche Hinrichtungen, Verbannungen und Beschimpfungen treffen fast nur Senatoren. Da nun der Hochadel seinen Sitz ausschließlich in Rom hatte, so tritt das jedenfalls merkwürdige und seltsame Ergebniß zu Tage, daß die meisten der „schlechten“ Kaiser – vor allem Nero – in der Provinz für ausgezeichnete Herrscher galten.

Die rückhaltlose, jedem Versuch einer Milderung abholde Verurtheilung Neros in Sachen der Agrippina wurzelt überdies in dem echt menschlichen Gefühle des Mitleids. Agrippina war die verkörperte Ruchlosigkeit; mit kaltem Blute hat sie alles, was ihrem Ehrgeiz im Wege stand, meuchlings niedergemacht. Aber die Frevel, die sie beging, standen sozusagen im Dienst ihrer Mutterliebe. Ihr Sohn war ihr Abgott; ihm auf den Thron zu verhelfen, ihm die Herrschaft gegen alle wirklichen und vermeintlichen Nebenbuhler zu sichern, das betrachtete sie von Anbeginn als die einzige Aufgabe ihres Lebens. Eigene Herrschgelüste mögen dabei noch so ausgiebig mitgespielt haben: man ist dennoch geneigt, ihre Mißgriffe, ihre Ausschreitungen, ja, ihre Verbrechen minder schroff zu verdammen; wie denn die Mutter in Tennysons „Lady Clare“ keinen besseren Weg zur Verzeihung der Tochter kennt als die Worte:

„Mein Kind, ich sündigte ja für Dich!“

Daß nun die Kaiserin Agrippina durch die Veranstaltungen dieses nämlichen Sohnes, für den sie mit solcher Hartnäckigkeit gekämpft und gewüthet hat, hinterrücks aus der Welt geschafft wird; ja, daß sie den Meuchelmord lange Stunden hindurch gleichsam fühlt und erlebt, weil der erste Anprall mißlingt; daß sie die maßlose Bitterniß auskosten muß, für die lange Kette von Tücken und Missethaten, mit denen sie, ihrem Sohn zu Gefallen, ihr Gewissen belastet hat, nicht einmal so viel Liebe zu ernten wie die Hündin, die den verwaisten Löwen auffängt: das bedeutet ein Schicksal von wirklich erschütternder Tragik – und erzeugt in uns eine Stimmung, die nicht dazu angethan ist, nach abschwächenden Umständen zu suchen.

Etwas anders liegen die Dinge, wenn wir an der Hand nicht zu bezweifelnder geschichtlicher Daten den seelischen Zustand prüfen, in welchem sich Nero befand, als er den Einflüsterungen seiner Umgebung, die ihn seit lange zu dem fürchterlichen Entschluß drängte, schließlich Gehör gab.

Die Sachlage war die folgende.

Die kaiserlichen Rathgeber – der Prätorianergeneral Burrus und der Staatsminister Lucius Annäus Seneca – lagen schon seit geraumer Zeit mit der Kaiserin-Mutter im Kampfe um die Regentschaft – das heißt um Sein oder Nichtsein, um Leben und Tod. Vielleicht in Vertheidigung persönlicher Interessen, jedenfalls aber auch zum Wohle des Reiches, das sie vortrefflich verwalteten, hatten sie den leicht erregbaren Fürsten planmäßig gegen die Mutter verhetzt, deren frühere Einmischnng in die Regierungsgeschäfte dem altrömischen Mannesbewußtsein schroff widersprach, deren späteres Verhalten mancherlei höchst bedenkliche Züge aufwies. Die schöne Poppäa Sabina, deren Einfluß auf Nero damals schon ungeheuer war, diese Todfeindin Agrippinas, schloß sich – natürlich nur aus schnödester Selbstsucht – diesen Bestrebungen an und lieh der mehr theoretischen Thätigkeit der Minister das Praktische, Unmittelbare. Halbvergessene Gerüchte bauschte sie auf; Aeußerungen, die Agrippina im Zorne gethan, deutete sie als unwillkürliche Offenbarungen einer verderblichen Willensmeinung; sie hetzte, sie log – und hatte so bei dem rasend verliebten Cäsar ein leichtes Spiel, zumal ihr die Brusttöne der Ueberzeugung ebenso reich zu Gebote standen wie die Thränen einer erheuchelten Angst und Entrüstung. Nero war thatsächlich des festen Glaubens, Agrippina trachte ihm nach dem Leben – und den Ministern, deren Köpfe nicht sonderlich fest saßen, wenn Agrippina den verloren gegangenen Einfluß wieder gewann, kam dieser Glaube äußerst gelegen. Vielleicht auch dünkte ihnen die Möglichkeit eines feindseligen Vorgehens der Agrippina gegen den Kaiser gar nicht so unwahrscheinlich. Ein Mordanschlag auf den widerspenstigen Sohn war – so konnte es scheinen – nur die Krönung der bisherigen agrippinischen Politik, die logische Blüthe ihrer von Anfang an bethätigten Staatsweisheit.

Früher schon waren Versuche gemacht worden, den Kaiser zum Einschreiten gegen die Revolutionsbestrebungen Agrippinas aufzustacheln. Junia Silana, gleichfalls eine persönliche Gegnerin Agrippinas, hatte die zwischen Mutter und Sohn bestehende Spannung benutzt, um die erstere des Hochverraths zu bezichtigen: Agrippina sollte den Plan hegen, einen Verwandten des Augusteischen Hauses, Rubellius Plautus mit Namen, auf den Thron zu erheben. Mit klügster Berechuung hatten die Feinde der Kaiserin-Mutter die Stille der Nacht, als Nero im Kreise seiner Vertrauten ahnungslos die Freuden des Bechers genoß, dazu ausersehen, ihm die große Gefahr, in der sein Haupt und sein Thron schwebe, zur Kenntniß zu bringen. Man hoffte, durch diese unvermittelte Plötzlichkeit sofort einen Haftbefehl zu erwirken. Damals war die Sache für Agrippina noch vortheilhaft ausgegangen. Sie hatte sich mit sieghafter Schlagfertigkeit gegen die Verleumdungen Junias vertheidigt.

Jetzt aber, unter dem Einfluß der ränkevollen Poppäa, bekam Altes und Neues ein verändertes Ansehen. Poppäa war unermüdlich im Beibringen neuer „Symptome“; sie bot alle Künste ihres weiblichen Komödiantenthums auf und erzeugte so in der Seele des Kaisers, was ihm fast den Verstand raubte: die Gewißheit eines bevorstehenden Staatsstreiches und hiermit zugleich die eines Mordanschlags auf ihn selbst.

Wenn sich Nero bei diesem Anlaß die Frage vorlegte, ob Agrippina eines so fürchterlichen Verbrechens fähig sei, so durfte er sich diese Frage bejahen. Bis jetzt hatte die Kaiserin-Mutter in der Verfolgung ihrer politischen Pläne keine, aber auch gar keine Schranken gekannt. Weshalb sollte sich ihre Vernichtungswuth gegebenen Falls nicht auch wider den eigenen Sohn kehren? Daß Agrippinas Erbitterung über die Selbständigkeit, die Nero bekundete, stündlich im Wachsen war, daß ihr verwundeter Ehrgeiz sich in den allergehässigsten Ausfällen erging, das war für niemand Geheimniß. Die Kluft zwischen Mutter und Sohn schien fürderhin unüberbrückbar; Agrippina trug zweifelsohne die Schuld daran und gerade dies Schuldgefühl, dies Bewußtsein, unklug und ihrem eigenen Vortheil zuwider gehandelt zu haben, mochte sie rasend machen. Nicht zufrieden mit der Ausübung der ihr zustehenden Pflichten und Rechte, hatte die Kaiserin durch ihre maßlosen Uebergriffe die Opposition der Minister und der Volksmeinung geradezu muthwillig herausgefordert. Nicht viel hätte gefehlt, daß sie gemeinschaftlich mit ihrem damals noch „gehorsamen“ Sohne sich in die Versammlungen des Senates begeben und dort „im Augesichte des Erdkreises“ die eigentliche Herrscherin des Reiches gespielt hätte. Auf die Dauer war diese Weiberherrschaft nicht haltbar. Auch Nero hatte die Ueberzeugung gewinnen müssen, daß die „beste der Mütter“, wie er sie an dem Tag seiner Thronbesteigung genannt hatte, das Ansehen des Staats gefährde.

Der erste Schritt, den er dann – wirklich nothgedrungen – that, um Agrippina in die ihr gebührende Stellung zurückzuweisen, hatte sofort ihren Zorn entfesselt, trotz des Zartgefühls, mit welchem der kleine Wink, fast nur der Kaiserin-Mutter selber verständlich, zur Ausführung gebracht worden war. Es handelte sich um den Empfang einer fremdländischen Gesandtschaft. Nero saß bereits auf dem erhöhten Prunksessel, als Agrippina erschien, um wie eine Gleichberechtigte neben ihm Platz zu nehmen. Da befolgte der Fürst den Rath seines Ministers Seneca. Eiligst erhob er sich, ging ihr entgegen, küßte sie und „vereitelte so – denn die weitere Verhandlnng wurde zur ebenen Erde geführt – durch scheinbare Pietät ihre Absicht, die so sehr gegen alles Herkommen war.“

Hiermit waren die guten Beziehungen zwischen Mutter und Sohn ein für allemal aus den Fugen gebrochen – und Feindseligkeit folgte auf Feindseligkeit.

Als Nero endlich – nach mancherlei mehr oder minder bedeutsamen Zwischenfällen die vornehmste und einflußreichste Kreatur der Kaiserin-Mutter, den Verwalter des Staatsschatzes Pallas, auf Senecas Rathschlag entließ, tobte die beleidigte Agrippina wie eine Wahnwitzige. Unglaublicherweise verstieg sie sich zu der Drohung, sie werde die Prätorianer – die Gardesoldaten – veranlassen, den längst zur Seite gedrängten Britannicus, den rechtmäßigen Erben der Kaiserwürde, durch eine Revolution auf den Thron zu erheben. „Fort mit dem elenden Thronräuber, der nur eines gelernt hat: seine Mutter vor aller Welt zu beschimpfen!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1892, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_014.jpg&oldid=- (Version vom 1.1.2017)