Seite:Die Gartenlaube (1892) 016.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Kapiteln Schritt für Schritt an den Gang der Geschichte anschließt; innere Gründe für eine ABweichung von dem kritisch geprüften Kerne der Ueberlieferung lagen nicht vor.

In ihrem Landhause eingetroffen, schickte Agrippina unverzüglich den Freigelassenen Agrinus nach Bajä und theilte dem Kaiser mit, die Huld der Götter habe sie aus schwerer Gefahr errettet. Sie bitte ihren geliebten Claudius Nero, seinen Schreck zu bezwingen und sie vorläufig nicht zu besuchen; sie bedürfe der Ruhe.

Nero wußte bereits durch seine Spione, daß Agrippina unversehrt in ihre Villa heimgekehrt war. Ohnehin durch die jüngsten Erlebnisse bis zum Wahnwitz erregt, wurde er jetzt von der fiebrischen Angst ergriffen, Agrippina werde nun keine Grenze für ihre Rachsucht mehr kennen. Seneca, dessen Mitschuld an dem Verbrechen nicht klar ist, mag gleichfalls gefühlt haben, daß es hier kein Zurück gab. Er spielte um seinen Kopf und mußte also das Spiel um jeden Preis zu gewinnen suchen.

Vom Kaiser um Rath befragt, legte der Staatsminister dem Gardegeneral Burrus die Frage vor, ob von den Kriegern der Leibwache wohl jemand geneigt sein würde, Agrippina niederzustoßen.

Burrus verneinte. Das Andenken des Vaters der Agrippina, des edlen Germanicus, sei bei sämmtlichen Gardesoldaten noch viel zu lebendig, als daß man ihnen die meuchlerische Beseitigung der Tochter zumuthen dürfe. „Aber“ – so fuhr er fort – „weshalb vollendet denn nicht Anicetus das Werk, das er angefangen?“

Diese Berathungen fielen noch in die Zeit vor dem Eintreffen jenes Boten der Agrippina. Wie der Bote nun kam, ward durch einige schlaue Kunstgriffe der Schein erweckt, als habe der Mensch bei Ueberreichung des Briefes den Kaiser töten wollen. Durch dieses Manöver sollte der Mord, den Anicetus nun selbst in die Hand nahm, beim Volke das Gepräge eines Selbstmords gewinnen, begangen aus Scham und Verzweiflung über den rechtzeitig noch entdeckten Mordanschlag auf das Leben des Sohnes.

Anicetus, der sich sofort gegen Barzahlung einiger weiteren Millionen bereit erklärt hatte, den Henker zu spielen, raffte die verwegensten aus der Schar seiner Leute zusammen und eilte nach Bauli. Erließ das Landhaus umzingeln. Die wenigen Mannschaften, die am Thore Wache hielten, waren bald niedergemetzelt.

Nun drang der Mordbube in das Schlafgemach, wo Agrippina mit einer einzigen Sklavin halb in der Dämmerung saß und sich den trübsten Ahnungen hingab, weil noch keine Nachricht von ihrem Sohne gekommen, und nicht einmal der Freigelassene Agrinus, den sie als Boten gesandt, heimgekehrt war.

„Auch Du verlässest mich,“ sagte sie seufzend, als sich das Mädchen beim Nahen der Schritte erhob, um zu sehen, ob nicht endlich die längst erwünschte Kunde von Bajä eintreffe.

In diesem Augenblick gewahrt die Fürstin das Halunkengesicht des Anicetus im Thürrahmen. Sofort wußte sie, daß alles verloren war.

Und nun zeigte sich, daß dieses fürstliche Weib, trotz aller Verbrechen, die ihr zur Last fielen, mehr von jenem halbvergessenen Heroismus der alten Republikaner besaß als die meisten ihrer männlichen Zeitgenossen.

Sie erhob sich voll ruhiger Würde und verlor selbst dann nicht die Fassung, als ihr einer von den Begleitern des Anicetus, der Schiffskapitän Herculejus, mit dem Stock über den Kopf schlug – ein bezeichnender Zug für dies rohe Gesindel!

Mit königlicher Gebärde sagte sie stolz und verächtlich:

„Triff dies Herz, Anicetus – unter dem Herzen hier trug ich den Muttermörder.“

Von drei Schwertern durchbohrt, sank sie neben die Bettstatt.

Daß Nero bei diesem schauderhaften Verbrechen weniger schob als geschoben wurde, dafür spricht vor allem auch sein Verhalten bei Empfange der Todesnachricht. Wäre der junge Fürst wirklich mit jeder Faser das blutgierige, gefühllose Scheusal gewesen, dessen Ausmalung die Geschichtschreiber anstreben, so hätte er – wie einst Agrippina bei dem Tode des Claudius – frohlocken müssen. Statt dessen ergreift ihn die helle Verzweiflung. Laut giebt er seiner verzehrenden Reue Ausdruck. Er flucht sich selber. Er regt sich so fürchterlich auf, daß er Nächte hindurch keinen Schlaf findet und von Wahnvorstellungen der bedenklichsten Art heimgesucht wird. Diese Wahnvorstellungen, in Ton- und Geräuschempfindungen bestehend, werden so stark, daß er die Ufer des Golfes, wo seine Mutter verblutete, schleunigst verlassen muß.

Das alles erzählt uns der dem Kaiser höchst feindlich gesinnte Dio Cassius, ohne zu ahnen, daß er uns hier einen Menschen gezeichnet, dessen öde Erbärmlichkeit zwar unseren Abscheu erregt, dem aber trotzdem noch etwa inne wohnt, was wie ein Rest von Gefühl und Gewissen aussieht.

Senecas erste Sorge war denn auch die, den Verzeifelten zu beruhigen. Das Staatswohl, die Nothwendigkeit einer Wahl zwischen Handeln und Leiden – das war der Kern der unablässigen Zusprüche, die der kalt rechnende Philosoph unter vier Augen ihm spendete, während man dem Senat und dem Publikum gegenüber den Mythus von dem Selbstmord der Agrippina aufrecht erhielt. Abordnungen der Offiziere mußten auf Senecas Veranstaltung hin den Kaiser beglückwünschen, daß er den furchtbaren Nachstellungen Agrippinas entronnen sei Die Priester des ganzen Reichs erhielten die Weisung, den Göttern für die Errettung des Imperators Dankopfer zu entzünden. Der Senat – der heimliche Gegner des Kaisers – überbot sich in Ausdrücken sklavischer Huldigung und in lächerlichen Beschlüssen zur Verherrlichung des Gewaltigen, über dessen gesegnetem Haupte Jupiter sichtbarlich seine beschirmende Hand gehalten. In der ganzen Versammlung fand sich nur ein einziger Mann, der Stoiker Thrasea, der den Muth hatte, den Sitzungssaal zu verlassen, und so still schweigend gegen diese Unwürdigkeit Verwahrung zu erheben.

Wen überrascht es, wenn so der Kaiser nach und nach an sich selbst irre ward, seine Reue unlogisch fand und sich schließlich jenem Unfahlbarkeitswahn überließ, der da spricht: „Was ich thue, ist gut – wei ich es thue!“ In den Armen Poppäas, in dem Strudel der unerhörtesten Lustbarkeiten, der nun toller als je im Palatium brandete, vergaß er nur allzubald die dampfende Blutlache an der Bettstatt der baulischen Villa und war von Tag zu Tag reifer für das größte Verbrechen, das ihm zur Last fällt: für die physische und moralische Tötung seiner Gattin Octavia.




Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Der Zeitgeist im Hausstande.

Bilder aus dem Familienleben.
Von R. Artaria.
1.

Alte Freunde nach längeren Jahren wiederzusehen, ist selten ein ungemischtes Vergnügen. Allzu lebhaft wird man an das Dichterwort erinnert:

„Der Mensch wird schließlich mangelhaft,
Die Locke wird hinweggerafft …“

und trauernd betrachtet man die Stätten früherer Herrlichkeit. Freilich, jünger und schöner sind auch wir inzwischen nicht geworden, obwohl wir uns unvergleichlich besser konserviert haben als der gute X oder die arme Y. Wir haben also Grund, die Veränderungen des Aeußeren bei unseren Freunden mit mildem Auge zu betrachten.

Aber im Innern – o Himmel! Dort hat der Zahn der Zeit manchmal Hohlräume genagt, welche die frühere Freundschaft unerbittlich mit Einsturz bedrohen. Ist jene dicke berechnende Ballmutter wirklich die poetisch zarte Schwärmerin von ehemals? Jener wohlerhaltene Fünfziger, dessen Seele stundenlang am Skattische angenagelt ist, während seine Lippen kaum ein anderes WOrt entflieht als: „Ich reize!“ oder „Ich passe!“ – müssen wir in ihm den liebenswürdigen, dem „ewig Weiblichen“ zugewandten Gesellschafter von ehedem wiedererkennen, ohne dessen Gegenwart zu Wasser und zu Lande, zu zwei und zu vier Händen überhaupt nichts „los“ sein konnte? Und nun gar der feurige Freiheitsschwärmer aus schönen Studententagen, der jetzt als griesgrämiger Melancholikus herumschleicht, weil er letztes Neujahr wieder einmal mit dem grünen Bärenorden fünfter Klasse übergangen wurd?! – – Ja, die Zeiten ändern sich und wir mit

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1892, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_016.jpg&oldid=- (Version vom 3.1.2022)