Seite:Die Gartenlaube (1892) 022.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Du nicht, ein gut Theil Humor und Bescheidenheit des künftigen Menschen wächst unter dem von den Geschwistern überkommenen abgelegten Kleidchen? Was gewinnen denn die Kinder an dem vergleichenden Blick auf die andern ,Schultoiletten‘ und an dem Bewußtsein, eine den Begriffen der Klasse völlig angemessene Kleidung zu tragen? Nur jene frühzeitige ,Haltung‘ des Dutzendmenschen, dessen höchste Genugthuung darin besteht, genau so zu sein wie die andern! Und Du selbst, arme Emmy, wie mußt Du Dich an der Nähmaschine plagen, um all diesen Schick zur Saison fertig zu stellen! Es ist ja recht brav von Dir, daß Du’s thust, aber nimm mir’s nicht übel, ich fände es gescheiter, Du führtest die kleine Bande in unscheinbaren Kleidern an die Luft und kämest dann ausgeruht und vergnügt heim, statt daß jetzt am Abend Deine abgespannten Nerven nur nach Stille verlangen und deshalb die Lesebücher vorgenommen werden müssen.“

„Die Kinder gewinnen doch manche Anregung daraus!“

„Anregung! Siehst Du, das ist so ein Wort, welches ich auf den Tod hasse, das heißt auf deutsch: den Brei einem in den Mund schmieren, der noch keinen Hunger hat. Dem geistigen Magen bekommt das ebenso schlecht wie dem körperlichen, er wird überladen und unlustig vom vorzeitigen Essen. Ein tüchtiger Bub und ein gewecktes Mädel, die fühlen sich ganz von selbst ,angeregt‘, ihre Augen in der Welt aufzumachen. Und die dämlichen – die werden durch die schönsten Anregungen doch nicht gescheit, das ganze Gelese ist umsonst, sie könnten in der Zeit ’was Gesünderes thun!“

„Aber Linchen, Du wirst doch nicht im Ernst verlangen, daß man in unserer Zeit seine Kinder nicht lesen lassen soll?“

„Fällt mir gar nicht ein, nur Verdauung, richtige Verdauung ist nothwendig. Ein Buch, wohlgemerkt am Sonntag, nicht in jeder freien Werktagsstunde, und wenn das ausgelesen ist, nochmals lesen, weil man ihnen so geschwind kein anderes giebt, und dann sich hinterher einmal erzählen lassen, was drinnen steht, statt aus der Kinderbibliothek alle paar Tage einen neuen Band heimzuschleppen und durchrasen zu lassen! Auf diese Weise zieht man ja ordentlich die öden und gedankenarmen Menschen!“

„Nun,“ erwiderte Emmy mit einem verdächtigen Zucken der Mundwinkel, „es thut mir leid, wenn Dir meine Kinder so öde und gedankenarm vorkommen, ich habe davon freilich bis jetzt nichts bemerkt.“

„Ja, wenn Du anfängst, übelzunehmen, dann wollen wir das Gespräch aufstecken! Die empfindlichsten Künstler sind doch die Eltern, sie vertragen eine Kritik ihrer Erziehungswerke durchaus nicht, selbst wenn sie ganz allgemein gehalten ist. Na, gute Nacht denn!“

„Nein, nein, Linchen!“ bat Emmy und hielt die Freundin fest, „es war nur so eine Anwandlung. Ich kann die Wahrheit ertragen. Sage mir nur alles, was Dir an meinen Kindern unangenehm auffällt!“

„Ich sprach gar nicht von den Deinen im besonderen. Sie sind ja ganz ordentlich und hören, wenn auch mit Ueberwindung, zu lesen auf, wenn man ins Zimmer hereinkommt. Das ist anderswo nicht der Fall, bei Hoffmanns z. B. lesen die nach freiheitlichen Grundsätzen erzogenen Söhnlein ruhig weiter, ohne den Besuch zu beachten. Die Mama fühlt wohl die Unschicklichkeit, wagt aber nicht, ihnen das zu wehren bei der großen Selbständigkeit, welche die jungen Herren zur Freude ihres Vaters gewonnen haben. Nein, da sind die Deinigen von ganz anderem Holze!“

„Und doch möchtest Du sie anders haben!“

„Nicht sie möchte ich anders haben, sondern theilweise die Umstände, unter welchen sie aufwachsen. Ich möchte sie trotz der Großstadt und ihren Uebeln zu frischen Menschen werden sehen, bei denen die Phantasie auch ihr Theil abkriegt, nicht immer nur das verstandesmäßige Denken. Weißt Du, was ich thun würde, wenn ich an Deiner Stelle wäre, Emmy?“

„Nun?“

„Dann würde ich zuerst den Bücherschrank und den japanischen Tisch und die Goldfische aus dem Eßzimmer hinüberstellen in des Herrn Landgerichtsraths Stube. Er ist doch nicht jeden Abend drin?“

„O nein,“ erwiderte Emmy ein wenig gepreßt, „er geht jetzt fast regelmäßig abends aus. Nach der ermüdenden Bureauarbeit, die dem Geist ja gar nichts bietet, bedarf er dringend der Erholung und Anregung. Ich muntere ihn selbst dazu auf.“

Auch Anregung!“ dachte Fräulein Karoline und sah Emmy einen Augenblick prüfend an. „Nun,“ fuhr sie dann in leichtem Ton fort, „also hinüber mit den Sachen, oder auf den Speicher, wenn’s nicht anders geht! Und dann würde ich aus dem Eßzimmer eine helle, gemüthliche Kinderstube machen und mich abends mit den Vieren um den runden Tisch setzen, aber nicht zu einem Lesekabinett. Sie müßten mir bei allerhand leichter Handfertigkeit ihre Augen ausruhen lassen, und dann würde ich ihnen erzählen, Geschichten und Theaterstücke und Jugenderinnerungen, wobei man sich zur Aneiferung immer fünfzig Prozent braver machen kann, als man wirklich war; dann müßten sie mir Räthsel rathen und aufgeben, dadurch wird der Verstand viel aufgeweckter als vom Geschichtenlesen, oder man fängt mit einer Knittelverszeile an und der nächste muß mit einem Reim weiterspinnen und so fort, je lustiger je besser. Es giebt ja tausend solche Spiele, die zugleich Beschäftigung sind und die man nicht immer erst hervorzuholen braucht, wenn ,Gesellschaft‘ da ist. Das Beste dünkt mich hier für den Hausgebrauch gerade gut genug. Soll aber doch einmal gelesen werden, so gieb einem der Großen ein Buch und laß vorlesen. Auch das ist eine Kunst, die heutzutage in Vergessenheit geräth, gerade wie das Erzählen. Und wie ganz anders wirkt doch das lebendige Wort auf die Kinder als das gelesene! Sie sind ja glücklich darüber und verlangen stets nach mehr! – Siehst Du, Emmy, so ging es in unserer Kinderstube zu, es sind tüchtige Menschen darin aufgewachsen, die heute noch mit inniger Rührung an ihre goldene Jugend denken und an die kluge gütige Mutter, aus deren Hand sie jene empfingen.“

„Auf diese Art käme man eigentlich gar nicht mehr zu sich selbst,“ sagte Emmy nach einer kurzen Pause. „Ich bin immer froh, wenn sie beschäftigt sind, damit ich auch einmal etwas lesen oder schreiben kann.“

„Du kannst sie ja früh zu Bett schicken, aber im übrigen, liebe Emmy, nimm es mir nicht übel: wer vier Kinder hat, der darf, glaube ich, zehn Jahre lang nicht in solcher Weise an sich denken. Vier Menschen fürs Leben erziehen, das ist ein so gewaltiges Geschäft, daß es mir ordentlich davor graust!“

„Wenn alle Leute das so schwer nehmen wollten –“

„Dann gäbe es viel weniger unvernünftige, schlecht erzogene und unnütze Menschen auf dieser Welt, davon bin ich überzeugt. Aber das trifft Dich ja nicht, Du bist eine gute und sorgsame Mutter, nur in dem einen Punkt würde ich es anders machen.“

Emmy saß nachdenklich da, sie fühlte etwas Wahres aus den Worten ihrer aufrichtigen Freundin heraus, zugleich aber fragte sie sich, was für Gesichter wohl ihre Bekannten machen würden, wenn sie plötzlich ihr reizendes Eßzimmer so vereinfachen wollte! Gerade daraus hatte sie sich bisher einen besonderen Stolz gemacht, daß man ihm die Kinderstube nicht ansah, die es eigentlich war. Aber allerdings – wie viel Wehren und Ermahnen hatte es auch gekostet, um das durchzusetzen! – Sie erinnerte sich, sogar von Hugo ein paar anzügliche Bemerkungen darüber gehört zu haben ...

„Es ist doch recht schwer, ein moderner Mensch zu sein!“ in diese Worte faßte sie schließlich das Ergebniß ihrer Betrachtungen zusammen.

„Gerade im Gegentheil!“ meinte lachend die Künstlerin, „es ist sehr bequem, man macht sich alle modernen Erfindungen und Künste zu nutze, wenn man sie brauchen kann, und schließt im übrigen vor dem nervösen Zeitgeist hübsch die Thür zu. Mache ich’s nicht immer so? Und kommt Ihr nicht mit vielem Vergnügen in meine ,paradiesische Einfachheit‘ da oben? Uebrigens ...“ rief sie plötzlich wie elektrisiert, „ich vergesse ja über unserm Gerede ganz, warum ich heute abend da bin, ich wollte Dir erzählen, daß sie zu mir kommt, daß ich sie malen darf!“

„Wer ist ,sie‘?“

„Vilma von Düring, das reizende Geschöpf!“

„Die allerliebste Katze!“

„Siehst Du, Emmy, hier bist Du ganz abscheulich ungerecht. Du hast geradezu ein Vorurtheil gegen Vilma!“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1892, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_022.jpg&oldid=- (Version vom 1.7.2023)