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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


„Und das gewiß herzlich gern.“

„Natürlich, ich erkaufe mir damit das Recht zum Schimpfen. Wenn ich einen Werth dagegen eingetauscht hätte, müßte ich ja stille sein.“

„Das heißt, Sie ziehen vor, die Wohlthätigkeit rein auszuüben,“ sagte Emmy freundlich. „Hoffentlich denken recht viele eben so.“

Ein undeutliches Brummen kam statt der Antwort. „Wir sind doch in der That gewaltig fortgeschritten,“ nahm nach einer Pause Hugo das Wort. „Derartige Veranstaltungen, die uns heute selbstverständlich vorkommen, wären früher unerhört gewesen. Man kann wohl sagen: das öffentliche Gewissen ist erwacht.“

„Es dürfte noch ganz anders erwachen,“ kam es jetzt langsam und ironisch von den Lippen des alten Herrn, der mit am Tische saß und bisher scheinbar theilnahmlos vor sich hingestarrt hatte. „Entschuldigen Sie meine Freiheit,“ er lüftete mit leicht zitternder Hand den Hut und verneigte sich gegen die Drei, „aber Sie sprechen hier von Dingen, über die ich selbst unablässig nachdenke. Mein Name ist Mayer. Professor Mayer. – Glauben Sie nicht, daß riesige Summen herauskommen müßten, wenn jeder das geben würde, was er sich an Luxus leicht abstreichen könnte, ohne Noth zu leiden?“

Von Namen kannten sie alle den etwas absonderlichen Gelehrten, der große Entdeckungsreisen gemacht und wissenschaftliche Bücher geschrieben hatte. Man freute sich also der persönlichen Bekanntschaft, und Hugo fuhr nach der Gegenvorstellung gleich im angefangenen Thema fort:

„Ich glaube, Herr Professor, Sie überschätzen unsern Luxus. Die meisten haben nicht viel übrig zum Geben.“

„Ich berechne mir nur manchmal die Summen, die täglich in der Pferdebahn über das Pflaster rollen und beim schönsten Wetter von Leuten bezahlt werden, deren Zeit durchaus nicht immer Geld ist; jeder dritte Schuljunge ist ja heute zu faul, seinen Heimweg von einer halben Stunde zu Fuß zu machen, und fährt im Schülerabonnement! Das ist weggeworfenes Geld, ebenso wie die Spielverluste, die den ganzen Nachmittag über an den Tischen der Kaffeehäuser bezahlt werden. Es empört nich stets, wenn ich im Vorübergehen die Säle voll junger müßiger Leute erblicke. Man sollte sie wegjagen können, an die Arbeit, wie es der alte Friedrich Wilhelm ganz vernünftiger Weise gethan hat. Und erst die Summen für Bier, [die] in unserer guten Stadt allabendlich verschleudert werden! Was könnte für die Armen geschehen, wenn jeder Bürger nur einmal in der Woche einen Abend lang Wasser trinken wollte!“

Diese Zumuthung empörte den Medizinalrath, der Wasser nur zum Zahnputzen verwandte.

„Mein lieber Herr Professor,“ begann er, „Sie sprechen als Menschenfreund und Idealist. Das erstere bin ich auch, aber als Mann der Praxis kann ich Sie versichern: mit Geld allein ist unsern sozialen Schäden nicht zu helfen. Das Hauptübel liegt in der ganz unglaublich gesunkenen Tüchtigkeit und Sparsamkeit. Das verschweigen stets die, welche über das Massenelend jammern. Geben Sie Geld, soviel sie wollen, Sie werden dem Elend nicht steuern, nur die Unzufriedenheit vermehren.“

„Wenn ich sage: Geld für die Armen,“ erwiderte der Professor, und seine hellen Augen blitzten unternehmend unter der starkgewölbten Stirn hervor, „so ist das nur ein kurzer Ausdruck für: Mittel, die Rohheit, die Unwissenheit, das Laster zu bekämpfen, Mittel, die Leute, welche mit uns gemeinsam arbeiten sollen, zu erziehen und auf unseren sittlichen Standpunkt zu heben.“

„Das ist unmöglich bei der tiefen Kluft, die ihre Bildung von der unserigen trennt!“

„Aber schauen Sie doch um sich! Besteht denn diese Kluft nicht zwischen den sogenannten Gebildeten selbst? Auf der einen Seite die kleine Zahl derjenigen, die unsere wundervollen Kulturmittel zur höchsten Geistesfreiheit und schönen menschlichen Pflichterfüllung verwenden; auf der andern die große Menge, die trotz dieser Mittel kein anderes Ziel kennt, als äußeren Luxus, die sich den Winter über regelmäßig ihr Karlsbad für den Sommer anißt und antrinkt – Menschen, welche jählings statt in ‚stilvollen‘ in Zimmern mit Spitalmöbeln wohnen würden, wenn auf einmal ein Zauberspruch die Umgebung eines jeden auf den Rang seiner Gedankenwelt einstellen könnte! Und diese Leute geben heute im öffentlichen Leben den Ton an. Soll das so fortgehen – die Jagd nach Genuß, die unbedenkliche Ausnützung jedes Vortheils, das Streberthum in jeder Gestalt? Wahrlich, es wäre Zeit für das öffentliche Gewissen, wirklich zu erwachen, sich zu erinnern, daß der Zuwachs an Reichthum nicht die eigene Genußsucht ins ungemessee steigern darf, sondern daß er dringende Verpflichtungen fürs Allgemeine auferlegt. Wie ganz anders könnten unsere öffentlichen Zustände sein, wenn sich die Besitzenden dessen erinnern wollten!“

„Es wird doch viel gethan!“ sagte Hugo.

„Lange nicht das, was gethan werden müßte,“ fiel der Professor eifrig ein, „wenn wirklich überall tüchtige Einrichtungen zum öffentlichen Besten entstehen sollten. Dem Egoismus, den unser wirthschaftliches Emporkommen großgezogen hat, muß jetzt der ‚Altruismus‘, die Sorge für den andern, aufgesetzt werden, das sieht jeder, der diese Zeit und ihre ungeheuren Aufgaben mit aufmerksamem Auge betrachtet. Es wird eine geistige Umwälzung dazu nöthig sein, so tief als die der Reformation und der großen Revolution, aber sie wird vollzogen werden ...“

„Und den sozialistischen Staat begründen,“ sagte ironisch der Landgerichtsrath, der seinen Mann zu haben glaubte.

„Und endlich die Moral des Christenthums wirksam machen,“ erwiderte dieser lächelnd, „nachdem man sich seit Jahrhunderten für seine Dogmen die Köpfe blutig schlägt.“

„Ich verstehe Sie ganz gut, Herr Professor,“ versetzte jetzt Emmy uachdenklich. „Sie meinen, jedes sollte die Augen über den eigenen Familienkreis hinausrichten und sich nicht nur mit Geld, sondern mit eigener Sorge und eigenem Handeln der öffentlichen Uebelstände annehmen?“

„Genau das meine ich, und außer dem Vortheil, der fürs Ganze dabei herauskäme, würde eine Menge bisher müßiger unzufriedener Menschen ganz nette Freuden kennenlernen, die nur kostet, wer einmal selbst einen verwahrlosten Jungen auf den rechten Weg brachte, einen Genesenden warm bekleidete oder den Lichterbaum in eine Stube schickte, die sonst dunkel und traurig geblieben wäre.“

„Wir Frauen gehen schon auf diesem Weg,“ versetzte Emmy, „unsere Wohlthätigkeitsvereine wirken viel Gutes. Allein Sie haben recht, es könnte noch mehr geschehen, und für das Wort Wohlthätigkeit müßte ‚Pflicht‘ gesetzt werden. Jede von uns leidet unter der Untüchtigkeit und Leichtfertigkeit der weiblichen Dienstboten und Arbeiterinnen; ich habe noch jede Köchin kochen, noch jede Wäscherin waschen und jede Putzerin putzen lehren müssen. Wenn man es in eigenen Anstalten die jungen Mädchen gleich recht lehren würde und ein anständiges Benehmen dazu, dann wäre wohl viel geholfen. Und ähnlich wird es auch bei den männlichen Arbeitern sein.“

„Es ist das derselbe Zweck, dem die Knaben- und Lehrlingshorte, die Fachschulen und Sparkassen dienen,“ erwiderte der Professor. „Um die Heranwachsenden handelt es sich in erster Linie, denn Erziehung und nur Erziehung heißt die Losung, um die unzufriedenen Genußsüchtigen der unteren Klassen zu fleißigen, ihre Verantwortung fühlenden Menschen zu machen und der ungeheuren sozialen Gefahr immer steigender Verwilderung und Verbitterung zu begegnen.“

„Eine Riesenarbeit,“ sagte der Medizinalrath kopfschüttelnd. „Ich gestehe, ich bin nicht Idealist genug, um an ihre Ausführbarkeit zu glauben.“

„Alle neuen Gedanken, die ein Zeitalter bewegten, waren zuerst Forderungen der Idealisten und sind dann realisiert worden – denken Sie nur drei Jahrhunderte zurück! – Und der Schluß auf die Zukunft ergiebt sich sicher durch den Blick auf die Vergangenheit. Den Weg, den wir bisher gingen, werden wir weiter gehen, aus ursprünglicher Rohheit und Verfinsterung zur allgemeinen Bildung und zum menschenwürdigen Dasein, von dem heute so viele noch weit entfernt sind!“

Er hatte sich während der letzten Worte erhoben, grüßte nun mit einer gewissen Feierlichkeit und entfernte sich langsam.

„Amen,“ sagte der Geheimrath. „Es giebt doch merkwürdige Käuze. Uebrigens, was Karlsbad betrifft, da hat er recht, sehr recht. Nur ist es grausam, zu denken, was aus Hummer und Gänseleber werden sollte, wenn gebildete Menschen sie nicht mehr essen würden.“

(Fortsetzung folgt.)




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_063.jpg&oldid=- (Version vom 27.2.2019)