Seite:Die Gartenlaube (1892) 087.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

ihm durch eine Unterhaltungsbeflissenheit, die des finster herüberschauenden Oskar Herz mit namenloser, doch leider ohnmächtiger Wuth erfüllte.

Francis erfuhr mittlerweile von dem kleinen Plappermäulchen, daß sie die Schwester Vilmas sei und daß diese wahrscheinlich kommen werde, sie abzuholen. „O, der schöne Weihnachtsengel!“ rief Sigrid, die bis dahin stumm und noch immer etwas verschüchtert neben ihr gesessen hatte. Sie trug einen ungeschickten, von Dienstbotenhänden hergerichteten Anzug und sah sonderbar unkindlich aus unter den andern frischen und beweglichen Gestalten. Hedy hatte Vilma versprechen müssen, sich der Kleinen anzunehmen, und hatte dies auch gethan, allein sie dachte, jede Liebe sei einer Belohnung werth, und hatte als sofortige Abschlagszahlung für ihre Gefälligkeit ein Paar lange dänische Handschuhe und den japanischen Fächer von Vilma mitgehen heißen, den sie jetzt mit großer Befriedigung hin und her bewegte.

„Sehen Sie nur die kleine Kokette,“ sagte, den Blick auf sie gerichtet, im offenen Nebenzimmer der Medizinalrath Hoffmann, der eine Stunde vor der Abholezeit gekommen war, um noch mit den Hauswirthen zu plaudern. „Ja, was ein Häkchen werden will, krümmt sich bei Zeiten, und diese Art liegt im Blut.“

„Hier ebenso in der Erziehung,“ erwiderte Emmy, die gerade einen kleinen Tisch mit Wein und Cigarren zwischen den Medizinalrath, Hugo und Fräulein Linchen hineinstellte und dann selbst bei ihnen Platz nahm, die liebe Jugend für eine Weile ihren eigenen Eingebungen überlassend. „Dasselbe Mädchen würde bei einer wahrhaften und pflichttreuen Mutter anders geworden sein.“

„Sie überschätzen die Macht der Erziehung! Man ändert keine Charaktere, wir gewöhnen den Kindern nur die äußern Unarten ab, hauptsächlich, weil sie uns belästigen. Sie würden das später von selbst ablegen – ich habe noch keinen Achtzehnjährigen gesehen, der mit den Fingern aß!“

„Und Sie halten es für unberechtigte Selbstsucht, sich dieses Schauspiel schon früher am häuslichen Tisch ersparen zu wollen?“

„Das nicht. Aber ich bilde mir nicht ein, die grundverschiedenen Naturen meiner Söhne nach meinem Gefallen zu modeln, indem ich ihre eigenthümlichen Regungen unterdrücke. Wenn sie gut gerathen, so danken sie dies ihrer Natur, nicht meiner Erziehung.“

„Dann würde man ja eine Pädagogik gar nicht brauchen,“ wandte Fräulein Linchen ein.

„Viel Nutzen stiftet sie gewiß nicht, denn sie betrachtet das Kind als ein abstraktes Ding und legt ihm unabänderliche Gesetze auf, um ein vorher berechnetes Ergebniß herauszubringen. Das glückt nicht, und zudem geht die Eigenthümlichkeit verloren, welche die Natur gerade diesem Individuum einpflanzte und welche zu pflegen die Aufgabe einer richtigen Erziehung wäre. Man soll die Natur studieren, nicht sie verbessern wollen.“

„Man erzieht aber doch,“ sagte Emmy, „seine Kinder zum Leben in der Welt, wo der am besten durchkommt, der am wenigsten störende Eigenthümlichkeiten hat. Die große Rücksicht auf Individualität bringt schwer umgängliche Menschen hervor, die stets Ausnahmen für sich verlangen, statt sich der allgemeinen Ordnung zu fügen! Und solche vermeidet man im Umgang, also haben sie den Schaden davon.“

„Na, und gnade Gott jemand, der seine Tage zwischen sechs solcher werdenden Individuen zubringt,“ versetzte Fräulein Linchen trocken. „Ich glaube, mir würden unaufhörlich die Finger jucken.“

„Ja, da haben wir das letzte Auskunftsmittel der alten Erziehung, den Stock! In meinem Hause ist er niemals angewendet worden.“

„Ach du himmlische Güte! Buben ziehen, ohne sie zu schlagen!“ rief sie im höchsten Erstaunen.

„Die Zucht ist danach,“ dachte Emmy, und laut fügte sie hinzu: „Wie haben Sie es aber gemacht, um den Gehorsam zu erzwingen, wenn die Kinder eigensinnig wurden?“

„Erzwungen habe ich ihn überhaupt nie,“ erwiderte er. „Wenn der Zornanfall vorüber ist, sehen die Kinder die Zweckmäßigkeit des Befohlenen selbst ein und handeln danach.“

„Na, ich danke!“ rief nun Linchen entrüstet. „Da müssen Sie manchmal nette Tage durchleben, bis die verschiedenen Zornanfälle vorüber sind! Lieber Himmel, da ist es doch kürzer, den Kindern, die noch keine Vernunft, nur einen unbändigen Willen haben, den Standpunkt etwas klarer zu machen und sie in den ersten Jahren wie kleine Thierchett mit Schlägen an Folgsamkeit zu gewöhnen. Einem Zweijährigen entwickelt man ja doch die schönsten Gründe umsonst!“

„Das ist der alte verbrauchte Grundsatz,“ sagte überlegen der Medizinalrath und streifte die Asche von der Cigarre. „Die heutige Zeit stellt andere Aufgaben an die Jugend als die des sklavischen Gehorsams.“

„Aber doch keine größere,“ nahm nun Hugo das Wort, „als die der Achtung vor dem Gesetz, das über uns allen ist. Das Bewußtsein davon sollte auch in dem Kinde früh geweckt werden, denn man will einen künftigen Staatsbürger aus ihm erziehen. Als sichtbares Gesetz stehen seine Eltern da; ihrer Vernunft muß es so lange gehorchen, in Güte oder mit Zwang, bis die seinige entwickelt ist. Und da das Parlamentieren mit einem thörichten Kinderkopf eine unfruchtbare Sache ist, so bin ich auch dafür, auf die endlosen: ‚Warum?‘ einfach zu antworten: ‚Weil ich es Dir befohlen habe‘. Dabei muß er sich beruhigen.“

„Das ist immer wieder der patriarchalische Zustand, dem unser ganzes öffentliches Leben vollständig entwächst. Er ist auch im Hause nicht mehr aufrecht zu erhalten!“

„Erlauben Sie! Für Unmündige ist der aufgeklärte Despotismus die beste Regierungsform. Den erwachsenen Kindern kann man dann die parlamentarische Verhandlung zugestehen, gerade wie den mündig gewordenen Völkern.“

Die Malerin sah während dieser letzten Reden der Männer hinaus in den spielenden Kinderschwarm und bedauerte ordentlich die blassen Hoffmanns-Söhne wegen der vielen Schläge, die sie nicht gekriegt hatten und die ihnen unzweifelhaft ein viel frischeres Aussehen verliehen haben würden.

Derweil sagte Emmy nachdenklich:

„Ein neuer Rousseau sollte einmal einen modernen ‚Emile‘ schreiben, einen Wegweiser für die Erziehung unserer Zeit.“

„Ja,“ lachte Linchen, „darin möchte ich auch ein Kapitel übernehmen, und dieses müßte heißen: ‚Der Elternwahn!‘ Vor Ihnen darf man davon reden, denn wenn auch der Herr Medizinalrath seine Söhne aus Grundsatz nicht prügelt, so gehört er im übrigen doch nicht zu den entzückten Vätern!“

„Leider nein, ich sehe ihre Schattenseiten deutlicher, als mir lieb ist.“

„Nun, und diese beiden hier sind ebenfalls vernünftig. Aber sehen Sie sich weiter um: lauter entzückte Eltern, lauter merkwürdige Kinder, stetes Erzählen vor diesen, was sie gestern und heute wieder für denkwürdige Aussprüche gethan haben, damit sie doch ja in kürzester Frist gezierte, verlogene Krabben werden. Die alte Klugheitsregel, daß man seine schwarze Wäsche nicht auf offenem Markt waschen soll, wird neuerdings dahin verstanden, daß man alles Ungünstige an seinen Sprößlingen verschweigt und ihre Vorzüge hell ausposaunt, ohne zu bedenken, wie man dadurch die Kinder zur Unwahrheit erzieht und obenein den Respekt von ihrer Seite völlig einbüßt. O, was war dieser altmodische Respekt für eine gute Sache! Bei uns zu Hause wurden berechtigte Eigenthümlichkeiten, Nerven und Scenen einfach nicht in Ansatz gebracht. Warf eines die Thüre zu, so mußte es auf der Stelle wieder herein und sie vor aller Angesicht sachte zumachen. Erschien man mit verweinten Augen bei Tisch, so hieß es ruhig: ‚Du scheinst krank zu sein, lege Dich zu Bett!‘ Und man munterte sich sofort auf, um diesem Schicksal zu entgehen. Was hat sich nicht unsere gute Mutter erspart durch die Verfügung: Gesichter werden vor der Thür gemacht, und Launen giebt es hier im Hause nicht! Wie strenge wurden die kleinen Rücksichtslosigkeiten und Pflichtvergessenheiten geahndet, die heute den Kindern ohne weiteres hingehen! Soll das eine falsche Erziehungsweise gewesen sein, welche einfache Pflichttreue, Bescheidenheit und jene tiefe Dankbarkeit gegen die Eltern erzeugte, die der Gewährung folgt, eben weil man weiß, daß die Bitte auch versagt werden kann.“

„Ja, ja,“ versetzte der Medizinalrath, „das letztere ist nicht ohne. Man giebt den Rangen mehr, als sie eigentlich haben sollten.“

„Und alles übertriebener, als ihnen gut ist.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_087.jpg&oldid=- (Version vom 27.12.2019)