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verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

„Auch das. Und sie fühlen sich nicht einmal besonders glücklich darüber.“

„Ist das ein Wunder? Es liegt doch in der menschlichen Natur, stets irgend etwas anzustreben und sich glücklich zu fühlen, wenn es erreicht ist. Wer seine Kinder ein leicht Erreichbares, ein Stück Kuchen, einen Ausflug ins Grüne, erst eine Zeitlang wünschen läßt, der hat es stets in der Hand, sie glücklich zu machen, während der, welcher alles Erreichbare als selbstverständlich giebt, nur erlebt, daß sie dann ihre Wünsche an das Unerreichbare heften – und sich unzufrieden fühlen, weil man ihnen das nicht mehr verschaffen kann!“

„Sie hat eine Zunge wie ein Schlachtschwert,“ sagte Hoffmann anerkennend, „aber manchmal hat sie recht. Na, es hilft also nichts, ich gehöre zur Klasse der schwachen Väter.“

„Trösten Sie sich, Sie haben viele Genossen in Stadt und Land,“ rief sie lachend. „Der Elternwahn beherrscht ja nicht nur die gebildeten Stände, er ist mit andern sozialen Uebeln bereits zu Arbeitern und Bauern gelangt. Auch diese züchtigen ihre Kinder nicht mehr: wenn der Schulmeister einem ungezogenen Jungen eine Tracht Prügel aufmißt, so läuft der Vater, beim Schulzen zu klagen, und die Mutter jammert im Dorf herum. Ich selbst habe diesen Sommer gesehen, wie eine Bäuerin sich von ihrem zornigen Kinde ins Gesicht schlagen ließ, ohne eine Hand dagegen zu erheben, und ich würde diese ‚edle Menschlichkeit‘ in der Erziehung bewunderungswürdig finden, wenn nur nicht so viel freche meisterlose Buben und arbeitsscheue leichtsinnige Mädels von Dienst zu Dienst liefen, um schließlich noch die Anklagebank zu zieren. Und derartige Erscheinungen, zusammengehalten mit der Unbescheidenheit und Blasiertheit unserer eigenen heutigen Jugend, bringen mich immer wieder zu dem Schluß, daß wir aus lauter Menschlichkeit schwachherzig geworden sind. Zucht, ganz ordentliche und tüchtige Zucht sollten wir anwenden, damit aus den merkwürdigen Kindern wieder folgsame und erfreuliche würden. An der geistigen Begabung des Einzelnen ist nichts zu ändern, darin haben Sie recht, allein Pflichtgefühl, Wahrhaftigkeit, Bescheidenheit und Gehorsam – kurz alles das, was die moralische Reinlichkeit ausmacht, das müßte mit derselben Beharrlichkeit ohne alle Rücksicht auf Individualität anerzogen werden, wie man heutzutage die Körperpflege der Kinder überwacht – um daneben ihre Seelen verwildern zu lassen!“

In diesem Augenblick gab es drinnen im großen Zimmer Lärm, und Emmy eilte hinein. An der Thür traf sie mit der eben eintretenden Vilma zusammen, die sich liebenswürdig lächelnd entschuldigte, so herein zu schneien. Ihr Mädchen könne heute abend nicht abkommen, so habe sie selbst die Pferdebahn genommen, um Hedy abzuholen. Emmy begrüßte sie nur flüchtig, denn ihr Mutterohr vernahm aus dem streitenden Kinderknäuel Töne, welche ihr eine eben erfolgende Niederlage ihres Sohnes Moritz mit Sicherheit verkündigten. Eine Partei der Entrüsteten, Hedy an der Spitze, drang nach rückwärts, über ihren Köpfen aber erschienen Armbewegungen, die man bei minder gebildeten Kindern aus eine Prügelei gedeutet hätte.

Dem mütterlichen Ansehen gelang die Trennung der Streitenden, Moritz und Oskar, und die Aufhellung des Thatbestandes, der so bedauerliche Ausschreitungen veranlaßt hatte. Durch zwanzigfaches Zeugniß wurde festgestellt, daß gerade vorher die „Großen“ eine äußerst gelungene Dramatisierung von „Des Sängers Fluch“ aufgeführt hatten. Hedy thronte als rosenwerfende Königin an des wiederversöhnten Oskar Seite, der junge Sänger, eine niedliche Kleine, spielte statt der Harfe die Zuckerschneidmaschine, und den Alten stellte Fritz im weißen Flachsbart mit äußerster Würde vor. Zwar brach das Roß, als er den Sterbenden darauf lud, unter dem Tischtuch entzwei, aber, es schloß sich sofort wieder zusammen, und die im höchsten Pathos heruntergedonnerten Fluchworte fanden stürmischen Beifall. Dadurch war bei Moritz der Ehrgeiz erregt worden. Er fühlte seine Altersklasse überhaupt schon den ganzen Nachmittag von den Großen unterdrückt, gedachte also einen Hauptschlag zu thnn und Schiller zu dramatisieren. Schnell traf er seine Vorbereitungen, zog ein kleines dickes Mädchen, seine besondere Freundin, herbei, hängte ihr und sich die noch daliegenden Tischteppiche um und bestieg mit ihr das Pfeilerschränkchen. Die gewünschte Stille entstand, und der Tyrann Polykrates erklärte mit leidlicher Festigkeit, hier von seines Daches Zinnen mit vergnügten Sinnen auf das beherrschte Samos hinzuschauen. Aber ach! als sein erhabener Gastfreund antworten sollte, da ergab es sich, daß „Aegyptens König“ den Schiller nicht kannte, also außerstande war, auf die Wandelbarkeit menschlichen Glückes in dichterischer Form hinzuweisen!

Ein Gelächter erhob sich, das dicke Lottchen brach in Thränen aus, und so nahm die Vorstellung ein ruhmloses Ende. Moritz war wüthend, er stieß die weinende Gefährtin seiner Schmach von sich, da traf ihn ein Hohnwort Oskars, das hinzunehmen keine Gastfreundschaft der Welt gebieten konnte. Der Erwiderung „Schafskopf!“ folgte das Handgreifliche mit einer Kraft und Schnelligkeit, die man dem prügellos erzogenen Sohn Hoffmanns gar nicht hätte zutrauen sollen. Moritz hieb blind dagegen, und so standen die Sachen, als Emmy dazwischen trat und ihrem Söhnlein mit Flammenworten das Erniedrigende seiner Handlungsweise gegen den Gast klarmachte.

Es bedurfte trotzdem noch geraumer Zeit und der Einmischung beider Väter, um die Geister soweit zu beruhigen, daß ein friedliches „Wie lieben Sie’s?“ in Gang kommen konnte. Draußen ertönten indessen bereits einzelne Züge an der Klingel, das wirkte zauberhaft auf die Wiederherstellung der guten Stimmung, denn bekanntlich ist es unmittelbar vor dem Abholen immer am schönsten.

Vilma hatte während des Streites die kleine Sigrid, welche vereinsamt und unbehaglich dastand, mit sich nach dem Ecksofa genommen. Dorthin stürzte sich auch der junge Amerikaner, der nur in Hoffnung auf ihr endliches Erscheinen bisher ausgehalten hatte. Nun pflanzte er sich an ihre Seite mit der naiven Selbstverständlichkeit, die überhaupt sein Auftreten kennzeichnete. Francis Weston war ein langer schlanker Junge, stets tadellos gekleidet und mit einem Ausdruck harmloser Lustigkeit in seinem gutmüthigen Gesicht, der rasch für ihn einnahm. Mit der Unergründlichkeit der deutschen Satzverbindung stand er in bitterer Feindschaft, es gelang ihm aber nichtsdestoweniger, sich verständlich zu machen, und mehr begehrte Mister Weston nicht, besonders einem so reizenden Mädchen gegenüber. Heiter und liebenswürdig antwortete Vilma auf seine lebhaften Bewunderungsreden und auf Sigrids zwischendurchfahrende Fragen. Und zugleich prüfte sie innerlich mit ganz kalter Betrachtung die Schattenseite ihres Unternehmens. Ein unangenehmes Kind! Verzogen und unbequem, von gewöhnlichen Gesichtszügen – wohl der Mutter ähnlich, die er natürlich weiter vergötterte … Alles in allem, eine sehr lästige Zugabe! – Vilma streichelte, während sie das dachte, der anschmiegenden Kleinen die Haare aus der Stirn und beantwortete ihre dringende Frage, ob sie auch einmal zu ihr kommen dürfe, mit dem verlockenden Hinweis auf eine Kindergesellschaft, die nächstens bei Hedy stattfinden werde. Sigrid jubelte und Vilma empfand eine lebhafte Genugthuung. So waren die Fäden gelegt, ganz wie sie es sich vorher ansgedacht hatte; es mußte gelingen. Die Hand dieses Mannes bedeutete Reichthum, Ansehen, Befreiung von der bisherigen Armseligkeit – sie würde ihn zu gewinnen wissen, durch das Kind den Vater und den Mann durch ihre eigene Anziehungskraft. Vilma schätzte die Stärke derselben aus vielfacher Erfahrung ganz richtig; was ihr bisher noch nicht geglückt war, nämlich das Festhalten, das gedachte sie diesmal mit der vorsichtigsten Klugheit zu erreichen.

Aufstehend schob sie Sigrids Arm in den ihren und führte sie dem Kinderkreis zu neuem Spiele zu. Während sie sich anmuthig niederbeugte, um die Kleine auf einem Sessel zurechtzurücken, fiel ein Blick unter ihren gesenkten Lidern seitwärts und nahm den Gegenstand ihrer Gedanken wahr, der im Gespräch mit dem Hausherrn auf der Schwelle stand. Augenblicklich wandte sie den Rücken nach dieser Richtung und begann ein heiteres Gespräch mit Emmy, deren geheime Abneigung unter dem Eindruck von Vilmas einfacher Liebenswürdigkeit zu schmelzen anfing. Vielleicht hatte sie dem Mädchen doch Unrecht gethan!

„Da sehen, Sie, wie vergnügt Sigrid ist,“ sagte mittlerweile Linchen zu Thormann und schob ihn lebhaft über die Schwelle herein. Er ließ sich’s gern gefallen, denn so schwer er sich im ganzen zum Hierherkommen entschlossen hatte, so behaglich umfing ihn jetzt die gemüthliche Wärme in diesen Zimmern. Als nun vollends Sigrid den Kinderkreis durchbrach und sich mit einem jubelnden „Papa, Papa!“ an seinen Hals hing,

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1892, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_090.jpg&oldid=- (Version vom 27.11.2019)