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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


und August von Goethe“. Im Herbst des vorigen Jahres endlich ist in der auf die Schätze des Goethearchivs gegründeten Neuausgabe der Werke des Dichters eine Schrift zu Tage getreten, welche den stark angezweifelten historischen Werth der oben erwähnten Bettinabriefe in einer Weise außer Zweifel stellte, wie sie kaum noch erhofft und erwartet wurde. Es ist nun erwiesen, daß die Briefe, welche der „Briefwechsel mit einem Kinde“ von und über die Mutter Goethes enthält, echt sind, daß sie wirklich auf Veranlassung des Dichters geschrieben wurden, der, als er an seine Selbstbiographie ging, sich an die junge Frankfurterin Bettina Brentano mit der Bitte um ihre Hilfe wandte, da sie ja der Mutter eigenstes Wesen, ihre Märchen und Geschichten, ihre Eigenheiten und Eigenschaften aus jugendfrischem Gedächtniß darstellen könne.

Diesem Wunsche entsprach das kluge, den Dichter schwärmerisch verehrende Mädchen mit treuem Fleiße und mit der ihr eigenen Begabung lebendig stimmungsvoller Schilderung. Die zahlreichen Blätter unterwarf dann Goethe einer Bearbeitung mit der Absicht, sie im Zusammenhang unter dem Titel „Aristeia der Mutter“ der Selbstbiographie einzufügen. Aristeia – so nannte Homer die Gesänge, welche der besondern Verherrlichung eines Helden galten. So sollte die „Aristeia der Mutter“ Zeugniß geben, „wie die Mutter einst sich herrlich hervorgethan hat unter den Frauen“. Die Ausführung dieses Vorhabens unterblieb. Erst jetzt sind die Kapitel ans Licht getreten. Und nunmehr gewinnt auch neben dem Bild der Mutter Goethes aufs neue das Mädchenbild der Tochter des ehrenfesten Frankfurter Stadtschultheißen Johann Wolfgang Textor bedeutsame Geltung.

Die Familie Goethe.
Nach dem im Besitze von Herman Grimm befindlichen Gemälde von J. K. Seekatz.

Die romantische Liebe der jungen Frankfurter Schulzentochter für den unglücklichen schwermüthig schönen Kaiser Karl VII., dessen Krönung sie als elfjähriges Mädchen mit hatte anwohnen dürfen und der in den folgenden Jahren als ein Flüchtling in seiner getreuen Krönungsstadt weilte, darf nun auch vom Historiker zu ihrer Charakteristik verwandt werden. Und gleichgültig für das Werden des Goetheschen Genius ist es wahrlich nicht, daß seiner Mutter tiefstes Herzenserlebniß eine solche selbstlose Hinneigung zu einem unerreichbar über ihr Stehenden war. Die uneigennützige, muth- und begeisterungsvolle Mädchenliebe, die ihr Sohn später in dem Klärchen seines Egmont gefeiert hat, war als Knospe auch in dem Herzen lebendig, das seinem Gemüthsleben die Eigenart mitgab. Ist es nicht ein diesem Klärchen verwandtes Bild, das vor uns aufersteht, wenn wir bei Bettina und jetzt in der „Aristeia“ als Bekenntniß der alten Frau Rath lesen: „Da er einmal offne Tafel hielt, drängte ich mich durch die Wachen und kam in den Saal anstatt auf die Galerie; es wurde in die Trompeten gestoßen, bei dem dritten Stoß erschien er in einem rothen Mantel, den zwei Kammerherren abnahmen; er ging langsam mit gebeugtem Haupt. Ich war ihm ganz nah und dachte an nichts, noch daß ich auf dem unrechten Platze wäre; seine Gesundheit wurde von allen anwesenden großen Herren getrunken, und die Trompeten schmetterten dazu, da jauchzte ich laut mit, der Kaiser sah mich an und nickte mir.“

„Sie sagte mir,“ schließt Bettina ihren Bericht, „daß sie’s zum ersten Male in ihrem Leben erzähle; das war ihre erste rechte Leidenschaft und auch ihre letzte.“

Das früh entwickelte Mädchen, das von ihren Schwestern schon vorher wegen ihres eigenartigen Wesens, ihrer Vorliebe für Märchenpoesie und künstlerischen Zeitvertreib „die Prinzeß“ genannt wurde, war damals vierzehn Jahre alt. Ein Jahr später starb der Kaiser in München und sein Tod hinterließ ein „weihevolles Gefühl innigster Verehrung und Liebe“ in ihrer Seele. Zwei weitere Jahre gingen hin und Elisabeth reichte die Hand zum Lebensbund dem kaiserlichen Rath Johann Kaspar Goethe, einem fast vierzigjährigen Manne von Charakter und Ansehen und ruhigem Wesen, dem Wunsche der Eltern folgend, „ohne viel nachzudenken“. Und wieder ein Jahr darauf ward ihr Sohn, ihr ältester, der später ihr einziger blieb, Johann Wolfgang Goethe, geboren. Wenn wir lesen, was Frau Aja als Greisin der jungen Brentano von der Entstehung jener frühesten Herzensneigung gebeichtet, die in ihrem Herzen als „etwas Großes“ aufging, wie sie den bleichen Kaiser mit den melancholischen dunklen Augen im Dome hatte beten sehen – so theilt sich uns die Empfindung mit: nicht nur die „Frohnatur“ und die „Lust zu fabulieren“ hat Deutschlands größter Dichter von seiner Mutter geerbt, sondern auch die Großartigkeit des Empfindens, die alles Kleinliche abwies, jenen Zug zur Hingabe an das Bedeutende, welche das Geheimniß seiner Größe als Dichter ist.

Nun da wir neuerdings auch über eine sorgfältige biographische Zusammenstellung all der Zeugnisse über ihr Leben und Wesen verfügen, wie sie auf Grund des gekennzeichneten neuen Materials und kleinerer Beiträge Karl Heinemann in dem Buche „Goethes Mutter“ (Verlag von A. Seemann in Leipzig) hat erscheinen lassen, nun läßt sich leicht nachweisen, wie

dieser Zug zum Großen den eigentlichen Grundton der vielgerühmten „Frohnatur“ von Frau Aja gebildet hat. All die kleinlichen Bedenken, welche die Mehrzahl der Menschen verhindern,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_113.jpg&oldid=- (Version vom 17.10.2019)