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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


so köstlich ist, wirkt niederdrückend, man fühlt in jedem Augenblick, daß hier alles tot ist, wenn der Kramladen schließt ... Ich könnte es nicht lange mehr in diesen Straßen aushalten!“

Und während er über die dünne trockene Schneedecke weiter schritt, den Blick geradeaus gerichtet, versanken ihm die nüchternen Häuserreihen und sein inneres Auge wandte sich weit in die Vergangenheit zurück, zu den Sonntagnachmittagen seiner Jugend in der nordischen Heimath. Er sah sich wieder auf den grünen moosbewachsenen Felsblöcken am Ufer des Fjords. Die Frühlingssonne lag warm auf dem Rasen, drüben auf der Anhöhe stand das Kirchlein von Bergsöe, zu dem sie alle am Morgen im Nachen herübergekommen waren. Er hatte dann im Pfarrhause zu Mittag bleiben dürfen, und nachmittags machte er mit Hilde, dem blonden Pfarrtöchterlein, weite Kletterpartien über die Felsen, sie suchten nach den ersten Blumen, legten sich in den warmen Sonnenschein und genossen recht von Herzen das unermeßliche Lebensgefühl der Kindheit. Das waren goldene Zeiten! Dann kamen schwere: der Kampf um die Kunst mit seinem bäuerlichen Vater, die Jahre des Arbeitens und Strebens im fernen Lande, während ihm Hilde daheim in wandelloser Treue anhing, und endlich die kurzen Glückszeiten, wo sie sich angehören durften. Vier Jahre – das letzte getrübt durch ihr schweres Leiden – dann war sie ihm entrissen, die einfache Frau mit dem warmen Herzen. die in ihm ihr Alles auf Erden umfaßt hatte ... Sein nach innen gekehrter Blick sah deutlich ihr Bild – die stattliche Figur, das schlichte aschblonde Haar um das ruhige Gesicht, die anspruchslose Kleidung ... Heute wäre sie vierzig wie er selbst ... sonderbar, er hatte früher nie daran gedacht, daß sie eigentlich alt für ihn war! Und ganz allmählich tauchte hinter dem blassen Bilde der Verstorbenen ein rosiges Köpfchen auf mit lichtblonden Haaren und schaute ihn aus tiefen Augen fragend an.

Seine Schritte beschleunigten sich. „Unsinn, Unsinn!“ murmelte er hastig vor sich hin – wie ihm der Gedanke gerade bei solchen Erinnerungen kam! „Laß Sigrids zweite Mutter nur gut sein!“ hatte sein sterbendes Weib gebeten und, als er im tiefsten Schmerze ein verzweifeltes: „Nie, nie!“ stammelte, sanft hinzugefügt: „Denk’ an dies Wort – nur gut!“ ... Und jetzt mußte er daran denken.

Kleine Gäste.
Nach einer Zeichnung von H. Fechner jun.


War jenes Mädchen gut? Konnte sie die Nachfolgerin seiner reinen edlen Gattin werden, eine Gefährtin seiner einsam gewordenen Seele, eine Mutter für Sigrid? Das letztere wohl am ehesten, das Kind schien ja ganz entzückt von ihr – aber auf die übrigen Fragen fand der zweifelnde Mann keine Antwort. Widerlich war ihm eigentlich alles dort im Hause gewesen, die schäbige Eleganz und erheuchelte Vornehmheit, die entsetzliche Mutter mit ihrem Kreise von Intimen, der unangenehme Blaustrumpf Paula, alles – bis auf die schlanke Gestalt im weißen Kleide, deren unaussprechlicher Reiz, erquickend für das Künstlerauge, immer und immer wieder in seiner Erinnerung lebendig ward ... Seltsam! Nun hatte er lange Jahre ruhig im gewohnten Geleise gelebt, und beim ersten Male, wo er sich hervorlocken ließ, fing gleich die Unruhe an. Karoline Wiesner war eigentlich an der ganzen Sache schuld mit ihren wohlmeinenden Bestrebungen für Sigrid. Oder hatte sie tiefere Absichten? Gestern noch sagte sie scheinbar ganz unbefangen, als von Vilma die Rede war: „Das Mädchen ist vortrefflich angelegt, sie hat die geistige Anmuth, die bei uns so selten ist, und viel gute Eigenschaften. Aber aus ihrer Umgebung müßte man sie bald herausnehmen.“ Galt das ihm? Thormann fühlte sich unbehaglich bei solch mißtrauischem Nachsinnen. Seine gerade Natur war dafür nicht gemacht, er vertraute gerne rückhaltlos; nur wünschte er nicht, von fremdem Willen geleitet zu werden, und konnte sehr schroff sein, wo er derartiges merkte. Freilich, was berechtigte ihn denn bis jetzt, an einen Plan der offenen und ruhigen Freundin zu glauben? Er selbst war nicht unbefangen, das war das Ganze!

So in tiefe Gedanken verloren, durchkreuzte er allmählich die Altstadt und gelangte, ohne es zu merken, in die Vorstadtviertel gegen den Fluß zu, wo verwahrloste alte Häuschen neben hohen Miethkasernen stehen und am Straßenende die verkrüppelten Weiden der Uferböschung sichtbar werden. Die ungewohnte Umgebung weckte ihn doch allmählich aus seinem Sinnen auf, er musterte im Vorbeischreiten den Kleinhandel der Straße, der durch die Sonntagsfeier nicht beschränkt wird, und las gedankenlos die Firmenschilder der meist aus der innern Stadt hierher verzogenen technischen Betriebe. Plötzlich fiel ihm eines unter den Schildern auf, das die Inschrift „Lehrlingshort“ trug, und zugleich vernahm er Musik und singende Stimmen aus einem Raume zu ebener Erde. Neugierig, einen Blick in die Anstalt zu thun, für die er alljährlich seinen Beitrag zahlte, ohne sie jemals gesehen zu haben, trat er ans Fenster und überblickte von da einen ziemlich großen Saal, den einige Dutzend Knaben in sauberen Sonntagskleidern erfüllten. An Tischen sitzend oder stehend, sangen sie zur Violinbegleitung das Lied vom „guten Kameraden“. Die Violine aber ruhte am Halse einer schlanken dunkelgekleideten Mädchengestalt, welche am obern Saalende stand. Und – Thormann fühlte ein grenzenloses Erstaunen in seinem Innern aufsteigen – dieses Mädchen war keine andere als Paula von Düring, der unangenehme Blaustrumpf, der sich neulich beim Empfangsabend der Mutter so schroff und abweisend gezeigt hatte. Hier stand sie als eine ganz andere, mit anmuthig geneigtem Kopf, freundlich lächelnd, und strich so recht nachdrücklich, daß alle mitkommen konnten, die einfache Weise herunter.

„Mein – guter – Kamerad!“ erscholl es zum Schluß klar aus fünfzig jungen Kehlen; Paula nahm die Violine unter den Arm und klatschte der Kunstleistung Beifall. Dasselbe thaten einige Herren, die jetzt aus dem Hintergrund hervorkamen, und ein junges, sehr einfach gekleidetes Mädchen, das sich Paula näherte. Die beiden gaben sich den Arm und schritten nun auf und ab, bald hier bald dort an den Tischen stehen bleibend, wo die jungen Burschen mit Spielen und Lesen angelegentlich und, wie es schien, sehr vergnügt beschäftigt waren. Der stille Beobachter fühlte sich lebhaft angezogen. Sollte er eintreten? Als Mitglied des Vereins konnte er es. Aber dem großen Manne klebte stets eine gewisse Schüchternheit an, er stand also in unschlüssiger Ueberlegung – da sah er sich von innen bemerkt, und nun galt kein Zögern mehr, er klopfte an und trat ein.

Zwischen den aufstehenden Jungen durch kam der Vorstand des Lehrlingshorts freundlich auf Thormann zu, auch die beiden Mädchen hielten im Gehen inne und Paula erwiderte seinen Gruß mit ruhiger Unbefangenheit. Thormann erklärte etwas stockend seinen Wunsch, die Anstalt zu besichtigen, darauf wurde ihm mit großer Zuvorkommenheit alles gezeigt, die Spiele und Bücher, die

Musikinstrumente, welche die armen Jungen mit Leidenschaft zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 120. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_120.jpg&oldid=- (Version vom 6.5.2020)