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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Es ist also klar, daß nur die mit größerer Schnelligkeit als die Erde sich bewegenden Kräfte, d. h. die Geschosse, die Elektricität und das Licht, für unsere Betrachtung herangezogen werden können. Da aber die Intensität des Lichtes mit dem Quadrat der Entfernung abnimmt und die Tragweite der Geschosse eine verhältnißmäßig beschränkte ist, so kann ihre Bewegung trotz ihrer hohen Geschwindigkeit auf größere Entfernungen für menschliche Zwecke nicht verwendet werden, und es bleibt uns nur die Elektricität als diejenige Kraft übrig, welche sich andauernd schneller fortbewegt als die Erde. Eine mittels der Elektricität von Ost nach West gesandte Nachricht kann sich also scheinbar selbst überholen, d. h. im Westen anlangen, bevor sie im Osten aufgegeben wurde, weil derselbe Augenblick auf jedem Punkte der Erde einen andern Namen hat, oder mit anderen Worten, weil wir keine allgemeine Weltzeit, sondern ebenso viele verschiedene Ortszeiten haben als es Punkte giebt, die unter verschiedenen Längegraden, Meridianen, liegen.

Welch drastische Verwicklungen aus dem Gebrauche der verschiedenen Ortszeiten entspringen können, dafür will ich in folgendem einige besonders bezeichnende Beispiele anführen. Wir haben uns dabei nicht auf die Grenzen des Reiches beschränkt, weil die Wirkung der Zeitunterschiede bei großen Entfernungen am besten ins Auge fällt.

Am frühen Morgen des 22. November besetzte eine englische Division unter General Samuel Browne die afghanische Festung Ali Musdschid. Der Korrespondent der „Daily News“, Archibald Forbes, ritt sofort nach der Besetzung der Festung nach dem zehn englische Meilen entfernten Dschumrud, wo sich der Feldtelegraph befand, und sandte die freudige Nachricht in einer kurzen Depesche an seine Zeitung. Das Telegramm war datiert von 10 Uhr morgens. Der Zeitunterschied zwischen Indien und England beträgt ungefähr fünf Stunden. Das um 10 Uhr indischer Zeit aufgegebene Telegramm langte deshalb noch so zeitig in der Frühe in London an, daß es in die Morgenausgabe der Zeitung aufgenommen werden konnte und um 9 Uhr morgens zur Kenntniß der Londoner gelangte, während doch das Telegramm erst um 10 Uhr (aber eben indischer Zeit!) aufgegeben war. Dieses scheinbare Ueberholen der Zeit ging noch weiter. Zwischen London und New-York beträgt der Zeitunterschied ebenfalls rund fünf Stunden, so daß dieselbe Depesche, von den Londoner Korrespondenten der New-Yorcker Blätter den „Daily News“ entnommen und über den Ocean telegraphiert, auch in der gewöhnlichen Morgenausgabe der New-Yorker Zeitungen am selben Tage erscheinen konnte. Hier beeilten sich wiederum die Korrespondenteu der amerikanischen Provinzialzeitungen, sie über den amerikanischen Kontinent zu telegraphieren, und so waren die frühen Zeitungsleser in San Francisko, das ein Zeitunterschied von ungefähr dreieinviertel Stunden von New-York trennt, in der Lage, von einem Ereigniß zu lesen, das sich nach ihrer örtlichen Zeitrechnung erst zwei Stunden später in einer Entfernung von 13000 englischen Meilen auf der andern Seite des Erdballs zugetragen hatte.

Ein zweites Beispiel, welches nicht weniger drastisch ist, möge hier folgen:

Als anfangs der achtziger Jahre der Nil in Aegypten infolge andauernden Regens im Hochlande unerwartet rasch stieg, so daß eine vorzeitige Ueberschwemmung eintrat und in den ersten Morgenstunden des Juli ein Damm oberhalb Kairo unerwartet eingerissen wurde, da ward dieses Ereigniß, das eine üble Vorbedeutung für die Ernte war, sofort in die Welt telegraphiert, um auf die Getreidebörsen zu wirken. Die Depesche nach London ging um 6 Uhr morgens in Kairo ab, gelangte nach London und von hier nach New-York, wo sie nach ägyptischer Zeit um 8 Uhr vormittags, nach New-Yorker Zeit jedoch kurz nach Mitternacht in den Händen der neuigkeitslüsternen Zeitungsberichterstatter war. Sei es nun, daß die Hitze der Hundstage oder der bereits sich geltend machende Schlaf ihren unheilvollen Einfluß ausübten – genug, der New-Yorker Korrespondent einer Zeitung von Memphis, einer aufblühenden Handelsstadt im Staate Tennessee am Mississippi, beeilte sich, mit amerikanischer Kürze seiner Zeitung die wichtige Nachricht sofort mitzutheilen, so daß in der frischgebackenen Morgenausgabe der Zeitung die Memphiser Bürger mit großem Erstaunen lasen: „Kairo, den 25. Juli, morgens 6 Uhr. Der Fluß hat in der Nacht einen Damm eingerissen. Wasser steigt rasch; Schaden und Gefahr groß.“

Was war nun natürlicher, als daß die Memphiser glaubten, es handle sich um ihren Fluß, den Mississippi, sintemalen außerdem etwa 30 geographische Meilen stromaufwärts im Staate Illinois an der Mündung des Ohio in den Mississippi eine Stadt liegt, welche mit ihrem verhängnißvollen Namen „Kairo“ das fatale Mißverständniß heraufbeschwor und in den Köpfen eine ägyptische Finsterniß verursachte! Denn hätten die Memphiser bedacht, daß ein um 6 Uhr morgens im amerikanischen Kairo abgegebenes Telegramm bei aller erdenklichen Hochachtung vor der amerikanischeu Fixigkeit unmöglich um dieselbe Stunde auch schon in ihrem Lokalblatt schwarz auf weiß zu lesen sein konnte, so wären sie nicht kopflos mit Uebergehung des dampfenden Frühstücks an das Ufer ihres Flusses gerannt, der ruhig seine gelben Wogen daherwälzte und trotz allen Wartens eben nicht gefahrdrohend steigen, auch keine Trümmer des Kairoer Dammbruches ihnen zutragen wollte. Wer denkt aber auch soweit, wenn das Gute, in diesem Falle das amerikanische Kairo, so nahe liegt!

Bei dem dritten Beispiel handelt es sich nicht um so große Entfernungen, und doch spielt dabei die Ortszeit eine hochwichtige Rolle.

Ein Engländer, Mister Fox, hatte seine Frau böslich verlassen. Er reiste einige Zeit in Italien herum und verliebte sich schließlich in Messina in eine schöne Tochter des Aetna. Um sie heirathen zu können, gab er sich kurzweg für ledig aus. Das zweifelhafte Ehebündniß ward eines Tages auf einem im Hafen von Messina ankernden englischen Kriegsschiffe geschlossen und der Trauungsakt als um 11 Uhr vollzogen protokolliert. Und Mister Fox hatte mehr Glück, als er verdiente. Denn kurze Zeit danach erhielt er von London die Nachricht, daß seine verlassene Frau daselbst an einem gewissen Tage um 10 Uhr morgens verstorben sei. Das geheime Bangen, das Mister Fox wegen seiner Vielweiberei immer empfunden, löste sich in die seligste Ruhe auf, als der saubere Ehemann bei näherer Betrachtung des Datums gewahrte, daß der Todestag seiner ersten Frau der Tag der Hochzeit mit der zweiten gewesen, und daß ihm, da er somit ja eine Stunde nach dem Tode der ersten Frau die zweite geheirathet, die Ehegesetze seines Landes nichts mehr anhaben könnten.

Er sandte daher das Protokoll des Trauungsaktes nach London, um sich daselbst als neuvermählt in das Standesamts-Register eintragen zu lassen. Aber die englischen Behörden dachten nicht wie Mister Fox. Die Sache kam ihnen etwas verdächtig vor, und sie verfielen endlich darauf, die Ortszeit von Messina mit derjenigen von London zu vergleichen. Der Vergleich ergab, daß in dem Augenblick, als die erste Frau in London starb, d. h. um 10 Uhr morgens, die Uhr in Messina bereits 11 Uhr 2 Minuten 42 Sekunden zeigte. Mister Fox hatte also seine zweite Frau 2 Minuten 42 Sekunden zu früh geheirathet und war demgemäß des Vergehens der Vielweiberei schuldig, weil das Protokoll des Marinepfarrers die Trauung als um 11 Uhr in Messina vollzogen angab. So groß wie anfangs die Genugthuung über das unerhörte Glück wäre jetzt Mister Foxens Niedergeschlagenheit über diesen unerwarteten Ausgang gewesen, hätte nicht ein guter Freund ihn darauf aufmerksam gemacht, daß die Uhr in Messina nicht die Messinaer, sondern die mittlere Römer Zeit zeigt, und daß nach dieser seine erste Frau um 10 Uhr 50 Minuten 19 Sekunden, d. h. vor seiner Trauung mit der zweiten, gestorben war.

Die beiden großen Prinzipien, Ortszeit und Einheitszeit, werden im Deutschen Reiche am 1. April d. J. zum ersten Male äußerlich aufeinander stoßen. Einige süddeutsche Bahnverwaltungen haben beschlossen, von diesem Zeitpunkt ab die sogenannte M. E. Z., d. h. die mitteleuropäische Eisenbahnzeit, auch in die für das Publikum bestimmten Fahrpläne einzuführen, nachdem Oesterreich damit bereits vorangegangen ist. Es wird sich bald zeigen, ob das bürgerliche Leben sich anschließt, oder ob es an seiner althergebrachten Ortszeit festhält. Nach den Nachrichten, welche bis jetzt z. B. aus Württemberg vorliegen, scheint das erstere der Fall zu sein.

H. Gauß.     




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_143.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)