Seite:Die Gartenlaube (1892) 235.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Haymo lehnte sich gegen die Blockwand, flocht die Hände um das emporgezogene Knie und träumte mit offenen Augen.

Auf dem Herde erlosch die Gluth, Frater Severin schnarchte, und draußen stürmte der Föhn um das kleine Balkenhaus, daß es oft erzitterte in allen Fugen.




3.

Es war nach den schweren Mühen des Tages keine bequeme Rast, welche Haymo auf dem Herdrand hielt. Und dennoch schlief er tief und fest. Nach stillen Stunden weckte ihn ein Windstoß, der gegen die Hütte fuhr, als wollte er sie hinwegtragen in die Lüfte. Auch Walti erwachte; sogar Frater Severin stellte das Schnarchen ein und warf sich auf die Seite.

Haymo verließ die Hütte, um sich an der Quelle zu waschen; der Stand der Sterne zeigte die zweite Morgenstunde. Als er zurückkehrte, hatte Walti ein Feuer entzündet. Frater Severin aber schnurrte schon wieder im Schlaf wie die Säge in einer dürren Fichte.

Heute brauchte Haymo kein Frühmahl, denn er mußte nüchtern bleiben für den Tisch des Herrn. Er schnallte das Wehrgehäng um die Hüfte, warf die Armbrust auf den Rücken und drückte die Kappe über das krause Gelock. Aus dem Schreine nahm er eine ältere Armbrust hervor und einen Bolzenköcher und reichte beides dem Buben, dessen Augen aufblitzten, als er nach der Waffe griff.

„Kannst Du schießen?“

„Auf hundert Schritte treff’ ich wohl einen Baum!“ sprudelte es über Waltis Lippen.

„Gut! Laß den Frater schlafen! Du aber geh, wenn der Morgen graut, und übernimm die Hut!“

„Welchen Weg soll ich machen?“

„Hinüber zur Kreuzhöh’, dann hinauf durch den Wald bis unter die Wände und immer an den Wänden fort … aber nimm Dich in acht vor den Lahnen[1] und spring’ nicht thalwärts, wenn Du sie rollen hörst über Dir, sondern drück’ Dich an die Wand! Zu Mittag such’ Dir einen Platz in der Sonne und raste. Dann hinunter zum Seegrat und durch den Almenwald herauf. Um Pirschzeit mußt Du wieder oben sein beim Kreuz; dort warte, bis es finster wird. Und wenn Du einen Steinbock siehst oder ein Rudel Gemsen, dann halte Dich still und scheuche mir das Wild nicht! Hörst Du? Und wenn Dir einer begegnet, der nichts hier oben zu schaffen hat, dann zeige, daß Du ein richtiger Bub’ bist, und ruf’ ihn an! Es ist Klostergut, das Du hütest!“

Walti nickte nur; aber sein Gesicht brannte, und fester schlossen sich seine Hände um die Armbrust.

„Und nun behüt’ Dich Gott! Und grüß’ mir den Frater Severin!“

Leise, um den Schlafenden nicht zu wecken, verließ Haymo die Hütte. Draußen lag noch die tiefe Nacht mit ihrem Sturm und ihren Sternen. Rüstigen Ganges folgte er durch das rauhe Steinfeld dem thalwärts führenden Jägersteig. Nach einer Stunde erreichte er den dumpf rauschenden Almenwald. Er wanderte durch die Finsterniß, die ihn zwischen den Bäumen umgab, so sicher dahin, als wär’ es heller Tag. Manchmal hörte er flüchtendes Hochwild brechen und Steine kollern. Auf einer Blöße zog ein Uhu mit rauschendem Flügelschlag über ihn hinweg.

Nun theilte sich der Weg; der eine Pfad führte über die bewaldeten Wände steil hinunter zum See, der andre quer durch den Wald, auf einem Umweg bei den Sennhütten vorüber, und dann nach weiten Windungen beim Seedorf in das Klosterthal.

Bei den Sennhütten vorüber! Haymo fühlte, wie es ihn zog und zog. Er hätte so gerne gewußt, ob Gittli die stürmische Nacht auch fahrlos überstanden. Um sich loszureißen mußte er des Zweckes gedenken, der ihn heute hinunterrief ins Kloster.

Mit doppelter Eile folgte er dem immer abschüssiger werdenden Pfade. Das erste Morgengrauen erleichterte ihm den Niederstieg. Die Sterne erblaßten, lichter und lichter wurde der Himmel, und über den Spitzen der Berge erwachte das Frühroth. Ein rosiger Schimmer erfüllte den weiten Felsenkessel, in dessen Tiefe der See mit weißen Wellen schwankte. Als Haymo das steile Ufer erreichte, wurde drüben über dem See, in der Bartholomäusklause,[2] das Glöcklein geläutet. Er zog die Kappe und sprach ein Gebet. Dann stieß er den Einbaum, der zwischen wirrem Gestrüpp an das Ufer gezogen lag, in das Wasser, sprang mit raschem Satz in das schwankende Fahrzeug und griff zum Ruder. Wohl hatte der wehende Föhn zwischen den tiefgesenkten Felswänden nur halbe Macht; Haymo mußte aber doch seine ganze Kraft zusammennehmen, um bei den häufigen Wirbelwinden, die ihn überfielen, den plumpen Kahn auf den rasch sich überstürzenden Wellen in gerader Fahrt zu halten.

Es war heller Tag geworden, als er nahe dem Seedorf in einer vor dem Sturme geschützten Bucht den Einbaum wieder ans Land zog. Zwischen den rauschenden Fichten stieg er den sanftgeneigten Waldhang empor. Nun verhielt er betroffen die Schritte. Vor ihm auf einem moosigen Steine saß ein Mönch. Netzwerk und Angelschnüre lagen zu seinen Füßen; er hielt die Arme auf die Knie gestützt und das Antlitz in den Händen vergraben. Die Kapuze war zurückgesunken und enthüllte ein edel geformtes Haupt mit kurzgeschorenem, tiefschwarzem Haar; dicht und lang aber quoll der schwarze Bart unter den Händen hervor bis auf die Brust.

In Haymo erwachte die Erinnerung. Dieser Mönch vor ihm, das war wohl „der Schwarze“, von welchem Walti geplaudert hatte, der neue „Pater Fischmeister“, den „sie von Passau hergeschickt“ und von dem Frater Severin erzählt hatte, daß er ganze Tage lang stumm und einsam im beschneiten Klostergarten auf und nieder gewandert wäre „wie ein Gespenst“? Einen Schritt trat Haymo näher, sein eisenbeschlagener Schuh streifte dabei eine Felsplatte, da richtete der Mönch hastig sein gebeugtes Haupt empor und erhob sich. Diese stolze, edle Gestalt hätte wohl eher in den Harnisch gepaßt als in die Kutte; das Gesicht aber, welches der schwarze Bart umrahmte, war bleich wie Schnee; Gram und Seelenpein hatten die Züge verschärft und tiefe Furchen in die weiße Stirn gegraben; um die schmalen Lippen zuckte der Schmerz, und die tiefliegenden Augen brannten wie Feuer – das waren Augen, welche wohl lange schon die Wohlthat der Thränen nicht mehr kannten. Haymo fühlte sein Herz berührt vom Anblick dieses Priesters; er zog verwirrt die Kappe und stammelte:

„Hochwürdiger Vater! Was fehlt Euch? Seid Ihr krank?“

Der Mönch wandte sich wortlos ab, hob die Fischnetze und Angelschnüre auf seinen Arm und wollte gehen.

Doch Haymo vertrat ihm den Weg. „Ich bitt’ Euch, redet doch ein Wort zu mir! Vielleicht kann ich Euch etwas zuliebe thun? Sagt mir … was bedrückt Euch?“

„Das Leben!“ glitt es leise von den Lippen des Mönches, als hätte er dieses Wort für sich allein gesprochen und nicht als Antwort auf die herzliche Frage des Jägers. Dann neigte er das Haupt – es war ein Gruß und eine Abweisung zugleich – und schritt dem Pfade zu, der von der Berghöhe niederführte gegen das Seedorf.

Betroffen blickte Haymo ihm nach; nun aber hob er lauschend den Kopf; eine hellklingende Stimme tönte von einer höheren Stelle des Pfades durch den Wald hernieder. Haymo erkannte diese Stimme, und heiß schoß ihm das Blut in die Wangen. Jetzt sah er auch zwischen den Bäumen schon das rothe Röcklein schimmern. Gittli war es, und sie sang ein Lied, welches Haymo selbst wohl zu hundertmalen schon gesungen:

„Auf steiler Höh’,
Tief unterm Schnee,
Da blüht ein Blümlein grün und weiß.
Es gräbt in Stein
Die Würzlein ein
Und streckt sein Köpflein aus dem Eis,
Schneeweiß!

Die Winterszeit,
Wenn’s eist und schneit,
Das ist sein Lenz auf weißer Hald’!
Doch bringt der Föhn
Den Frühling schön,
Dann siecht es hin und welket bald,
Schneekalt!

Im Herzen tief
Ein Blümlein schlief,
Gar lieblich und an Schönheit reich!
Es blühte roth,
Da kam der Tod
Und trug’s hinunter in sein Reich,
Schneebleich!“

Wie Lerchengesang hob Gittlis Stimme sich über den wehenden Sturm und das dumpfe Rauschen des Waldes. Aber sie sang das Lied nicht zu Ende. Denn kaum, daß sie die letzte Strophe

  1. Lawinen.
  2. Kapelle und Klause, 1234 erbaut, an der Stelle des heutigen Jagdschlosses Bartholomä.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 235. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_235.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2023)