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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

„Bitte, holen Sie mir das Fernrohr, Friedrich.“ Rott beendete rasch sein Frühstück, und als ihm der Diener das Instrument überreichte, trat er auf die Terrasse und blickte nach Massow hinüber. Trotz des heftigen Windes und der trüben Beleuchtung erkannte er über dem Gischte der Wogen einen dunklen Körper, welcher dicht vor dem Hbwt zu liegen schien. „Ist noch ein Pferd im Stalle?“ fragte er den Diener, welcher ihm gefolgt war.

„Gewiß, Herr Rott, der Goldfuchs steht immer zu Ihrer Verfügung.“

„So lassen Sie ihn satteln! Ich möchte nach Massow hinüberreiten.“

Rasch holte er Hut und Ueberrock, steckte das Fernrohr ein und schwang sich in den Sattel. Der Fuchs, ein muthiges englisches Jagdpferd, wieherte dem Sturme entgegen, und kaum gab der Reiter die Zügel frei, so jagte das feurige Thier im Galopp die Landstraße hinab.

Der scharfe Ritt brachte den Künstler rasch ans Ziel. Er sprengte durch Massow bis zum Fuße des Höwts, wo er die ganze Bevölkerung des Lotsendorfes am Strande versammelt fand. Sein dampfendes Pferd zügelnd, überblickte er die aufgeregte Menge und sah, daß Ewald und Pischel sich an der Spitze der Lotsen befanden. Auch Bettina war anwesend, sie stand etwas abseits von der Menge auf einer Felsstufe, ein schwarzes Kopftuch umschlang ihr bleiches Gesicht. Als sie den Reiter erkannte, flog es wie ein Freudenschimmer über ihre Züge; ihre Blicke begegneten denen des Geliebten in einem stummen Gruße. Aber im nächsten Augenblick schon hatte sie sich gefaßt, mit einem raschen Entschluß wandte sie sich ab und wieder dem Meere zu, als bereue sie, ihr Gefühl verrathen zu haben.

Rott sprang aus dem Sattel und ersuchte einen halbwüchsigen Fischerjungen, dem er ein Geldstück in die Hand drückte, den Gaul nach dem Gasthof zu führen und ihn dort in den Stall zu stellen; dann trat er auf die Düne und richtete sein Fernrohr auf das gestrandete Schiff.

Es war ein schwer befrachteter Schoner, der richtig auf der Seehundsbank festsaß und in der stürmischen See bereits arge Beschädigungen erlitten hatte. Ein Boot, mit dem die Bemannung Rettungsversuche hätte wagen können, schien nicht mehr vorhanden zu sein. Wahrscheinlich hatten die Wogen den Schiffbrüchigen das Fahrzeug beim Niederlassen gleich aus den Händen gerissen. Hier bedurfte es keiner Nothsignale mehr, um zu erkennen, daß der Schoner mit Mann und Maus untergehen mußte, wenn nicht sofort Hilfe kam. Rott trat auf die von Seewasser triefenden Lotsen zu mit der Frage, warum nichts zur Rettung der Bedrohten gethan werde. Man lachte ihm höhnisch ins Gesicht. „Weil wir nicht hexen können! Wollen Sie das Boot durch die Brandung tragen?“ rief ihm einer entgegen.

Nur Pischel ließ sich auf eine weitere Erörterung ein und erklärte, die Seehundsbank liege zu fern, um dem Schiffe mit dem Raketenapparat beikommen zu können, während die wilde Brandung das Auslaufen völlig unmöglich mache. Sechsmal habe man schon den Versuch wiederholt, und jedesmal sei das Rettungsboot wie eine Nußschale auf den Strand zurückgeworfen worden.

„Hat man dem Lotsenkommandanten noch keine Anzeige gemacht?“ fragte Rott, und Pischel erwiderte, daß der Vorgesetzte gestern nach der Hafenstadt gefahren und noch nicht zurückgekehrt sei.

„So müssen die Unglücklichen dort drüben vor unseren Augen zu Grunde gehen?“

„Wenn de leiwe Gott keen Wunner nich dauht, Herr Rott - -“ entgegnete Pischel achselzuckend und trat zu der Gruppe seiner Kameraden zurück.

Wieder richtete Rott sein Glas auf das Schiff und sah, daß dort im Gischt der Wogen, die über das Verdeck schlugen, einige Männer die Arme emporwarfen, als wollten sie in höchster Noth um Rettung flehen. Er ließ das Glas sinken und stand einen Augenblick schwankend da, dann flammte ein fester Entschluß in seinem Innern auf. Mit raschen Schritten und blitzenden Augen trat er mitten in die Lotsengruppe und rieft „Es ist eine Schmach, daß wir hier müßig stehen, während vor unseren Augen Mitmenschen dem Verderben anheimfallen. Ihr sagt, daß Ihr sechsmal vergeblich versucht habt, das Rettungsboot flott zu machen. Versucht es noch einmal – wir alle wollen Euch unterstützen.“

Ewald schielte von dem Sprecher zu Bettina hinüber, die ihren Standort verlassen und sich der Gruppe genähert hatte. „Ihr kennt die See nicht,“ murrte er, „sonst wüßtet Ihr, daß jeder, der ins Boot springt, sein Leben aufs Spiel setzt, und, wohlgemerkt, nutzlos, ohne Rettung zu bringen.“

„Wissen Sie so gewiß, daß an kein Gelingen zu denken ist?“ Rotts Stimme klang rauh vor Erregung. „Nun wohl, ich will sehen, ob Ihr Lotsen zurückbleibt, wenn ich, ein Unkundiger, mich zur Fahrt bereit erkläre. Und daß Ihr’s wißt: wenn einer von Euch heute in seinem Beruf stirbt, so zahle ich seinen Hinterbliebenen tausend Mark. Gehe ich aber unter, so soll alles, was ich besitze, den Genossen dieser Fahrt oder deren Verwandten zufallen. Noch einmal bitt’ ich Euch, helft!“

Die Lotsen sahen bald auf das erregte Gesicht des Künstlers, bald auf die brüllenden Wogen und konnten trotz Rotts Versprechungen zu keinem Entschluß kommen. „Es steiht ’n Hagelstorm in Aussicht,“ meinte der grauhaarige Gehring, „den möten wi erst afwarten.“

„Nein,“ rief Rott, „Ihr dürft hier nicht erst abwarten. Was geschehen soll, muß sofort geschehen, sonst ist’s zu spät!“

In Ewalds Brust hatte vorhin der Groll gegen Rott den Widerspruch erregt, unter Bettinas Blicken aber mochte er nicht für feige gelten und sein Stolz schlug alle weiteren Bedenken nieder. „Er hat recht,“ rief er in barschem Tone den Genossen zu. „Wir müssen das Aeußerste wagen, eh’ es zu spät wird.“

„Ewald, Ewald!“ schrie die alte Monk und erfaßte des Sohnes Arm, „wat gehen Dir die fremden Lüt an! Hör’ nich up den Musikanten!“

„Zurück, Mutter! Der Musikant hat recht. ’s ist unser Beruf, in Seegefahr das Leben zu riskieren. Vorwärts! Greift an!“

Und jetzt streckten sich fünfzig kräftige Hände nach dem schweren Rettungsboot aus. Einen Augenblick wartete man auf das Rückschlagen der Woge, dann gab Ewald das Kommando, und knirschend flog der Bug in die hochaufspritzende See. Bevor die muthigsten unter den Lotsen sich ins Boot schwingen konnten, ging eine Sturzwelle über alle Köpfe weg und das Fahrzeug wurde hoch emporgeschnellt. Aber mit der Kraft der Verzweiflung klammerten sich die Leute an die Kante, und als der Kiel wieder sank, sprangen fünf beherzte Männer ins Boot, unter ihnen Ewald, der das Steuer, und Rott, der eines der Ruder erfaßte. Wieder gaben die in der Brandung stehenden Fischer dem Fahrzeug unter lautem Zuruf einen Stoß, dann setzten die Ruder ein. Glücklich schoß das Boot durch einen Wogenkamm und ließ die Brandung hinter sich.

Die am Strande Zurückgebliebenen liefen auf den Dünenwall und verfolgten mit ängstlicher Spannung den Lauf des Boots. Bettina wählte abseits von den übrigen ihren Standpunkt auf einem von der Brandung umtosten Vorsprung. Der Sturmwind hatte ihr Kopftuch gelockert und die losen Haarsträhnen umflatterten ihr bleiches, angstvoll erregtes Gesicht. Sie hatte sich ein Fernglas geben lassen und konnte so den Kampf der beherzten Männer mit den Wogen genau verfolgen; aber die Hände zitterten ihr vor Erregung – sie mußte das Glas absetzen. Was mochte das Ende des kühnen Unternehmens sein? Diese Frage stürmte durch ihre Seele. Sie ahnte, daß diese Stunde ihr Schicksal entscheide.

Es schien, als werde das Boot gar nicht oder zu spät ans Ziel gelangen; nur langsam rückte es vorwärts, und bei dem hohen Seegang schlug Woge um Woge über Bord. Ging das so weiter, so mußte sich der Kielraum bald mit Wasser füllen und das Fahrzeug sinken. So oft es hinter einem der Wellenberge verschwand, ging ein Beben durch Bettinas Gestalt; reglos stand sie da, kaum daß sie zu athmen wagte. Erst wenn das Boot wieder auftauchte, holte sie tief Athem und flüsterte ein „Gott sei Dank!“

Minute um Minute verging und immer noch hielt sich das Rettungsboot flott, immer näher und näher kam es den Gestrandeten. Nach einer halben Stunde, die den Zuschauern eine Ewigkeit dünkte, schien es dem Ziele ganz nahe zu sein, denn Bettina bemerkte, wie Ewald aufstand, um das Steuer sicherer führen zu können. Sie begriff, daß durch eine falsche Bewegung im Beilegen das Rettungsboot an der Schiffswand

zerschmettert werden konnte. Nur ein Steuermann von großer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 283. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_283.jpg&oldid=- (Version vom 12.5.2020)