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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Landesherrn eingeforderten Steuern mit einer gewissen Freiheit unter ihre Hintersassen vertheilen. Dies schlug thatsächlich dazu aus, daß die Steuern. welche der Landesherr ausschrieb, von den Hintersassen getragen, von Rittern, Prälaten und Stadtmagistraten nur vermittelt wurden: die Landesunmittelbären waren thatsächlich in gewisser Beziehung steuerfrei; ihrem Grundbesitz war die Steuerfreiheit theilweise ausdrücklich gewährleistet. Wenn zu Zwecken der landesherrlichen Verwaltung persönliche Dienstleistungen verlangt wurden, Botendienste, Vorspanndienste, Wegebauten u. a. m., so stand dem Landesunmittelbaren vielfach eine Befreiung von diesen Dienstleistungen zu. Als Ganzes bildeten die Landesunmittelbaren einen Landtag neben dem Landesherrn wie die Reichsunmittelbaren einen Reichstag neben dem Kaiser. Wie jeder, der Sitz und Stimme im Reichstag zu Regensburg hatte, ein „Reichsstand^ genannt wurde, so war jeder, der zum Erscheinen im Landtag berechtigt war, ein „Landstand“.

Der Aufbau des Staatswesens glich einer großen Pyramide. Ueber der breiten Unterlage der Land- und Stadtbewohner erhob sich die engere Schicht der Prälaten, Ritter und Magistrate, über diesen die noch engere der Reichsfürsten und Reichsstädte, während an der gemeinsamen Spitze der Kaiser stand. Dieser Staatsaufbau stammte aus einer Zeit, in der er berechtigt war. In niederen Kulturstufen hat sich überall in Europa die Sammlung der Staatskräfte in kleinen Kreisen, und erst allmählich ihre Zusammenfassung in größere vollzogen. Während man aber überall sonst zu einer stärkeren Zusammenfassung der Staatskräfte vorgeschritten war, verharrte Deutschland in dem alten Zustand, der das viel beklagte Bild der Zersplitterung in Kleinstaaten gewährte. Den letzten Stoß versetzte diesem Staatswesen der Zusammenprall mit dem revolutionären Frankreich. In den Jahren 1802 bis 1815 sind in den verschiedensten Richtungen Staatsveränderungen in Deutschland unternommen worden. Sie gingen theils von Napoleon, theils von seinen Gegnern aus, stimmten aber alle darin überein, daß sie die unendliche Vielheit kleiner Staatssplitter zu beseitigen trachteten. Selbst die deutsche Bundesakte vom Jahre 1815, die nach Möglichkeit bestrebt war, alle fürstlichen Rechte in früherem Umfang wiederherzustellen, hat doch statt der einhundertundsechzig Souveräne, welche es vor der französischen Revolution in Deutschland gab, nur fünfunddreißig wieder zugelassen, welche seit damals den „Deutschen Bund“ bildeten. Der ganze Rest der kleinen Herzöge, Fürsten und Reichsgrafen wurde endgültig für einverleibt erklärt. Die ehemals reichsunmittelbaren kleinen Herren wurden von da ab Unterthanen des Souveräns, in dessen Gebiet sie saßen. sie wurden „mediatisiert“. Wenn man seit damals diese Häuser die „reichsunmittelbaren“ genannt hat, so meint man damit die ehemals reichsunmittelbaren. Die Oberhäupter dieser Familien werden auch „Standesherren“ genannt.

Die Familien als solche verloren ihren fürstlichen Charakter nicht. Sie blieben den regierenden Fürstenfamilien Deutschlands und Europas ebenbürtig und bilden mit ihnen zusammen den „hohen Adel“, während alle übrigen, Grafen, Barone, Ritter etc., den „niederen Adel“ bilden.

Welche Stellung sollte nun diesen Familien innerhalb der einzelnen Staaten angewiesen werden? Es war selbstverständlich, daß man sie nicht schlechter stellen konnte als den niederen Adel daselbst. Wenn jeder Ritter zum Erscheinen im Landtag berechtigt war, so mußten um so mehr die Mediatisierten die jetzt in den Adel des Landes eintraten, zum erblichen Sitze im Landtag an der Spitze des gesammten Adels berechtigt sein. Wenn noch in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts jedem Ritter auf seinem Rittergut Gerichtsbarkeit und Polizei zustand, so mußten diese Rechte um so mehr den Mediatisierten auf ihren Domänen bewilligt werden. Wenn der gesammte Ritterstand eine weitgehende Befreiung von persönlichen Dienstleistungen genoß, wenn er sich nicht geringer Steuerprivilegien erfreute, so durfte man jene ehemals reichsunmittelbaren Familien zum mindesten nicht schlechter behandeln. Nach der deutschen Bundesakte „sind die Häupter dieser Häuser die ersten Standesherren in dem Staate, zu dem sie gehören; sie und ihre Familien bilden die privilegierteste Klasse in demselben, insbesondere in Ansehung der Besteuerung.“

Fügte sich so in den Jahren 1802 bis 1815 der hohe Adel in die feudale Verfassung ein, wie sie damals in den einzelnen Staaten vielfach noch bestand, so unterlag seine Stellung allen Aenderungen, denen in der Folgezeit die feudale Verfassung unterlag. Ueberall in Deutschland führte man eine einheitliche staatliche Gerichtsverfassung ein, Gerichte, welche durchweg im Namen des Landesfürsten Recht sprachen und nicht mehr im Namen des Grundherrn. Man setzte bis in die untersten Stufen hinab eine landesherrliche Polizei an Stelle der adligen. Es kamen neue persönliche Dienstleistungen für den Staat auf, welche von Anfang an mit dem Anspruch auftraten, daß sich ihnen niemand entziehen dürfe. Die Pflicht, als Geschworener oder als Schöffe zu dienen, die Pflicht, Aemter der bürgerlichen Selbstverwaltung zu übernehmen, machte nicht wie einst die Pflicht der Frohnden und Wegebauten vor den Thüren der Paläste Halt. Mit einer größeren Ausdehnung der indirekten Steuern war eine steigende Verallgemeinerung derselben verbunden; wenn eine gemeinsame Zolllinie zuerst den preußischen Staat, dann ganz Deutschland umschlang, so wurden an der Grenze die eingehenden Waren verzollt ohne Rücksicht darauf, für welche Klasse von Unterthanen sie bestimmt waren. Aber auch bei einer Neuregelung der direkten Steuern gingen die deutschen Staaten vielfach mit Beseitigung der vorhandenen Ausnahmerechte vor.

In Preußen entwickelte sich die Stellung der Mediatisierten unter beständigen Stößen und Gegenstößen. Die preußische Verfassungsurkunde vom 5. Dezember 1848 sprach die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz und die Aufhebung aller Standesunterschiede aus. Kurz darauf, als eine gegentheilige Richtung im ganzen Staatsleben die Oberhand gewann, erfolgte auch hierin ein Rückschlag. Nicht nur daß man die bereits beseitigte Ausnahmestellung der Mediatisierten im Wege der Gesetzgebung wiederherzustellen unternahm, man ließ sich sogar dazu herbei, sie im Wege des Vertrags zwischen dem König von Preußen und seinen ehemals reichsunmittelbaren Unterthanen zu bewerkstelligen; ja, man kam auf den Gedanken, den letzteren für gewisse Verzichte eine Entschädigung anzubieten. Auch die neuere Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches hat sich zu den verschiedenen Rechten, welche die Mediatisierten für sich in Anspruch nahmen, verschieden gestellt. So ist die Befreiung von der Wehrpflicht durch das Reichsmilitärgesetz allen ehemals reichsunmittelbaren Familien ausdrücklich bestätigt worden, während die standesherrlichen Gerichte durch die Reichsgesetzgebung mit einem Federstrich vernichtet und auch die übrigen Privilegien der Standesherren in Justizsachen bis auf verschwindend geringe Ausnahmen beseitigt wurden.

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Will man über die heutige Stellung des hohen Adels in Deutschland zu einem Urtheil gelangen, so muß man die verschiedenen Privilegien voneinander sondern. Das Recht der Ebenbürtigkeit, welches diese Familien für sich in Anspruch nehmen, ist wohl von allen das eigenartigste. Wenn etwa ein Prinz von Hohenlohe die Tochter des Fürsten Bismarck geheirathet hätte, so würde dies eine Mesalliance gewesen sein; die Kinder aus einer solchen Ehe wären nicht berechtigt, an dem standesherrlichen Familiennamen oder an dem standesherrlichen Vermögen der Hohenloheschen Familie theilzunehmen. Eine solche Konsequenz mag uns sonderbar anmuthen, aber sie ist doch nur eine Folge davon, daß die eigenthümlichen Hausordnungen des Privat-Fürstenrechts und damit auch dessen völkerrechtliche Seite in allen monarchischen Staaten als maßgebend anerkannt sind. Solange noch der Grundsatz zu Recht besteht, daß in regierenden Häusern nur die „ebenbürtige“ Ehe volles Erbrecht gewährt, haben wir in Deutschland gerade ein Interesse daran, daß der Kreis der Ebenbürtigkeit innerhalb Deutschlands sich nicht verengere: dieses Privileg der standesherrlichen Familien ist in Deutschland ein gewisser Schutzwall dagegen, daß unsere zweiundzwanzig regierenden Familien nicht allzuviel in auswärtige dynastische Interessen hineingezogen werden. Die sonstigen Ehrenrechte, welche den standesherrlichen Familien zukommen, wie das Recht, sich eine Ehrenwache mit bestimmter Uniform zu schaffen, das Recht auf gewisse Ehrentitel (die Gerichte dürfen in Prozessen eines Standesherrn nur von dem „Herrn“ Kläger oder dem „Herrn“ Beklagten reden) u. a. m. sind nicht von ernstlicher Bedeutung. Und das Recht auf Sitz und Stimme im preußischen Herrenhaus ist, solange dieses Haus in seiner heutigen Verfassung besteht, als gerechtfertigt allgemein zugegeben.

Von diesen Privilegien verschieden sind alle die, welche sich auf Staatshoheitsrechte und auf Unterthanenpflichten beziehen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 350. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_350.jpg&oldid=- (Version vom 25.8.2020)