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verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Der größte Schatz des Isländers sind seine Pferde, die, dem Klima und der Witterung angemessen, meist rauhhaarig sind und nur eine geringe Größe erreichen; dagegen sind sie unermüdlich, an Strapazen und Entbehrungen gewöhnt und vermögen lange zu hungern oder mit der elendesten Nahrung sich zu begnügen. In einen Stall kommen sie jahraus jahrein nicht, immer sind sie im Freien, ihre Nahrung sich selbst suchend. Fast jeder Isländer besitzt zum mindesten zwei Pferde; das beste Reitpferd kostet nicht mehr als 200 Mark, ein Pack- oder Lastpferd bedeutend weniger. Auffällig ist bei den isländischen Pferden, daß ihr Kopf fast durchgängig im Verhältniß zu der übrigen Körpermasse zu groß erscheint.

Der Werth des Pferdes für den Isländer beruht darin, daß man auf Island Reisen nur zu Pferde oder zu Schiffe unternehmen kann. Wagen kennt man selbst in der Hauptstadt Reykjavik nicht, und jede Beförderung von Waren geschieht auf Pferderücken. Große Karawanen beleben darum im Sommer das öde Innere oder ziehen längs den Küsten dahin. Straßen nach unseren Begriffen giebt es nicht, ebenso wenig wie Brücken über die vielen tiefen und reißenden Ströme. Die Wege bestehen meist nur aus den Furchen, welche die in langer Reihe einherziehenden Lastpferde – der Kopf des nächsten immer an den des vorhergehenden gebunden – im Laufe der Jahre mit ihren Hufen getreten haben. Die Nachtquartiere auf den zuweilen Wochen dauernden Reisen werden, wo es angeht, in der Nähe eines Bauernhofes, in den Wüsten jedoch bei einer grünen Oase aufgeschlagen, die den Pferden Gras und Wasser liefert.

Die andere Art des Reisens ist die zu Schiffe.

Der große Geysir auf Island.

Zwischen benachbarten Küstenorten kann man, sofern es Wind und Wetter erlauben, Ruder- und Segelboot benutzen. Sonst geschieht die Beförderung durch die Postschiffe, welche zwölfmal im Jahre von Kopenhagen nach Reykjavik kommen, oder mit englischen Dampfern, die im Sommer ebenfalls eine regelmäßige Fahrt einhalten. Die dänischen Postschiffe, von deren zwölf Fahrten nur zwei auf die fünf Wintermonate D[ezembe]r bis April fallen, umdampfen im Sommer fünfmal, di[e englisc]hen Fahrzeuge ungefähr dreimal die ganze Insel, laufen [die haupt]sä[ch]lichsten Häfen an und stellen dadurch eine einigermaßen [r]egel[mäßig]e Verbindung derselben untereinander her. Da jedoch Eis, Wetter oder Meeresströmung den Besuch des einen oder anderen Ortes, ja der ganzen Nordküste verhindern können – was leider häufig genug geschieht – so ist diese Verbindung stets eine unsichere.

Im übrigen ist ein jeder in Island auf sich selbst angewiesen. Darum ist auch jeder in allen Stücken sein eigener Handwerker; vorzüglich geschickt sind die Leute allesammt in der Bearbeitung des Eisens, meisterhaft beschlagen sie ihre Pferde selbst und verfertigen sich Sättel und andere Lederarbeiten. Nur in Reykjavik giebt es einige berufsmäßige Handwerker, die nach dem Grundsatz der Arbeitstheilung ihrer Beschäftigung obliegen; so findet man dort einen Buchbinder und einen Goldschmied. Herbergen und Gasthäuser giebt es auf der ganzen Insel nur in den Hafenplätzen, die allgemein in großartigem Maßstab geübte Gastfreundschaft läßt solche Einrichtungen nicht aufkommen; wem man heute sein gastliches Dach anbietet, der kann morgen schon den Wirth von gestern mit Speise und Trank erquicken müssen. Vor allem sind es die Pfarreien, an welche der Wanderer nicht vergebens anklopft.

Was die Bildung der Isländer anbetrifft, so ist bekannt, daß „damals, als die ganze Welt in Barbarei versunken war, die Wissenschaften und die schönen Künste eine Freistätte in diesem entlegenen Lande fanden und daß man von einem Isländer, der fremde Länder besuchte, immer voraussetzte, daß er nicht bloß ein tapferer Mann, sondern auch ein Dichter sei.“ Dieser poetische Zug ist jedem Eingeborenen in ungewöhnlichem Maße heute noch eigen, wie sich denn überhaupt dieses germanische Völkchen im hohen Norden durch eine reiche Bildung auszeichnet.

Knaben und Mädchen genießen gleiche Schulung im elterlichen Hause, denn die Eltern selbst ertheilen in gewissenhaftester Weise den Unterricht. Junge Leute, welche später eine höhere Schule besuchen wollen oder denen besondere Verhältnisse die natürlichen Lehrer genommen haben, erhalten gewöhnlich Unterricht durch den Pfarrer, bei dem sie oft auch die Hälfte des Jahres hindurch in Pension sind. Bemitteltere Familien schicken ihre Söhne auf die Gelehrtenschule nach Reykjavik, die 1846 von Bessastadir dahin verlegt wurde. Der Unterricht daselbst ist vorzüglich, namentlich werden die „Humaniora“ stark getrieben; die meisten Schüler studieren Theologie, da sie in ihrer Heimath so am besten wirken können. Hinsichtlich des Bauernstandes auf Island darf man sagen, daß es einen aufgeklärteren in ganz Europa nicht giebt. Ph. Schweitzer bezeugt: „Ich habe auf meinen Ritten im Lande ein paar Bauern kennengelernt, die das Gymnasium in Reykjavik besucht hatten, mehrere, die drei Sprachen (Isländisch, Dänisch, Deutsch) sprechen oder wenigstens verstehen konnten, viele, welche neben ihrer Mutterspräche Dänisch verstanden; alle aber waren sie bewandert in Geschichte und Litteratur, nahmen regen Antheil am politischen Leben des Vaterlandes und hatten infolge der Lektüre populär geschriebener Bücher, an denen die isländische Sprache gar nicht arm ist, und ihrer Zeitungen und Zeitschriften ganz gesunde und durchaus nicht auf den nächsten Gesichtskreis beschränkte Begriffe und Anschauungen. Wenn nun viele Reisende den Mangel an äußerer Bildung beim isländischen Bauern hervorgehoben und von diesem, da sie seine Sprache nicht verstanden, auch auf eine tiefstehende geistige Bildung geschlossen haben, so ist das sehr unrecht, jener Mangel aber zu entschuldigen durch die vom Weltverkehr entfernte Lage der Insel und die tyrannische Behandlung, welche ihre Bewohner lange, lange Zeit zu erdulden hatten. Erst in den letzten Jahrzehnten ist hierin eine Aenderung eingetreten.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1892, Seite 410. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_410.jpg&oldid=- (Version vom 10.4.2024)