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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


der Berryschen Fabrik hat er gearbeitet, der Davis, ein geschickter Mensch, aber halt ’s Wirthshaus hat er nit lassen können. Vor einer Wochen haben’s ihn aus der Fabrik weggejagt. Was kümmern sich die Leut’ um die Frau, um die armen Kinder, da wird sie halt die Verzweiflung packt haben –“

Ein drohendes Gemurmel erhob sich in der Menge. „Ja, was kümmern sich die um unsereinen! Der Berry ist gerade der rechte! Nur hinein ins Wasser mit dem Volke, ’s giebt ja genug – denkt der!“

Der Kutscher hätte schon längst die Fahrt fortsetzen können, doch die Räthin wollte nicht. Sie war wie gebannt –ihr schien es, als seien die starren Augen der Toten anklagend und drohend auf sie gerichtet, sie konnte den Blick nicht wenden von dem verzerrten Gesicht. Was das nur war! Sie hatte ja doch ein Herz für die Armen, niemand ging unbeschenkt von ihrer Thür, und ihr Mann war gewiß auch nicht härter als seine Kollegen und als es eben nothwendig war in einem großen Geschäft, und dennoch glaubte sie eine furchtbare Anklage in diesem Totenantlitz lesen zu müssen!

Claire interessierte sich nur für den Knaben in den Armen der Frau, der sich allmählich erholte und mit großen blauen Augen furchtloser um sich blickte. Er mochte etwa fünf Jahre alt sein.

„Mama, scheuke mir den kleinen Jungen zum Christkind!“ sagte sie plötzlich. „Er heißt ja auch Hansl – die Frau dort hat’s vorhin gesagt. Ich will den anderen gar nicht mehr mit seinem dummen Lachen. Mama, bitte, bitte, kauf’ ihn!“ Sie schlang ihre Aermchen um die Mutter und küßte sie innig.

Die Räthin war überrascht, sie hatte eben einen Gedanken gehabt, der mit dem kindlich thörichten Wunsche ihres Töchterchens nahe zusammentraf. Einen Augenblick besann sie sich noch, dann öffnete sie entschlossen das Fenster und rief den Schutzmann, der dienstfertig herbeikam. Neugierig folgten die Umstehenden und umdrängten das Gespann.

„Ich will den unglückliche Knaben zu mir nehmen, die Frau soll mit ihm einsteigen – oder geben Sie ihn mir gleich herein!“ Die Erregung einer guten That röthete das Antlitz der schönen Frau.

„Das geht nicht, gnädige Frau,“ erwiderte der Schutzmann in bedauerndem Ton. „Ich muß den Jungen auf die Polizeiwache bringen, dort erst kann weiter verfügt werden; doch wenn Sie mir Ihren Namen angeben wollen, kann ich die nöthige Anzeige machen.“

Die Kommerzienräthin zögerte, ihr Blick schweifte über die den Wagen umdrängende, gereizte Menge. Plötzlich sagte sie laut, mit scharfer Betonung, als wolle sie von allen gehört werden:

„Hier meine Karte – Kommerzienräthin Berry; bitte, melden Sie meinen Antrag!“

Dann gab sie dem Kutscher das Zeichen zum Weiterfahren. Die Ueberraschung der Leute war so groß, daß ringsum Stille eintrat, und bis sie zur Besinnung kamen, war der Wagen schon in der Nacht verschwunden.

Die Räthin fühlte sich beruhigt; sie hoffte, durch diese That der Barmherzigkeit das grauenhafte Antlitz der Ertrunkenen aus ihrer Erinnerung zu verscheuchen. Das Bild dieser verzerrten, drohenden Züge sollte ihren heiteren Lebessstraum nicht länger stören. Hatte sie nicht alles gethan, was sie konnte? Wie diese gehässige Menge beschämt sein mußte von ihrer Großmuth! Ein wohliges selbstzufriedenes Gefühl beschlich sie, sie schmiegte sich behaglich in ihren Pelz, eine prickelnde Wärme umspielte ihre Glieder – o, wie entsetzlich, dieser Sprung in den eisigen Strom!

Die kleine Claire lehnte in der anderen Ecke und stellte im stillen einen Vergleich an zwischen dem Hansl bei Tiffany und dem lebenden, wassertriefenden, den sie eben von der Mutter erbettelt hatte. Der Tausch dünkte ihr nicht schlecht. Eine lebendige Puppe, das war doch etwas anderes!

Wie wollte sie ihn aber auch lieb haben! Und er mußte alles thun, was sie wollte, und schöne Kleider mußte er bekommen, das beste Essen, ein feines weiches Bett. Es ist doch wunderschön, eine gute reiche Mama zu haben, die alles kaufen kann! Da wird der Otto schauen am Weihnachtsabend und sie beneiden – und er soll nicht den geringsten Antheil daran haben, ganz allein soll er ihr gehören, der Hansl.

Der Wagen hielt unter der säulengetragenen Einfahrt der Villa Berry. Ein kleiner Herr mit schneeweißem Backenbart und spärlichem Haupthaar, in tadellosem Salonanzug, kam eilig die Treppe herab, einen etwa achtjährigen Knaben führend. Claire sprang ihm in die ausgebreiteten Arme.

„Papa! Papa! Rath’ einmal, was wir gekauft haben! Otto, rath’ einmal!“

„Gekauft in der Weihnachtswoche? Warte, Claire, da wird das Christkind einfach wegbleiben, es läßt sich nicht gern ins Handwerk pfuschen,“ sagte lachend der Kommerzienrath.

„Ach, was wird es denn sein – wieder einmal eine Puppe, weiter nichts!“ meinte Otto geringschätzig.

„Aber was für eine Puppe!“ erwiderte die Kleine triumphierend. „Eine ganz lebendige Puppe, die geht, steht, ißt, trinkt, schläft. Na, was sagst Du jetzt? Und daß Du’s nur weißt, ich ganz allein bekomme sie, Du bist viel zu grob für so feines Spielzeug.“

Der Kommerzienrath küßte zärtlich seine Gattin.

„Aber so lange ausbleiben, Emilie – ich war sehr besorgt bei dem Wetter. Oder hat Dich die Puppe aufgehalten, von der Claire schwärmt?“

„So ist’s, Juliüs, die Puppe. Komm’, laß Dir erzählen – Du wirst mich vielleicht schelten, doch mein Herz zwang mich zu handeln, wie ich gethan habe.“

Mit diesen Worten reichte sie ihrem Gatten den Arm, und langsam folgten sie den Kindern, die vorausgeeilt waren. Sie erzählte ihr Erlebniß, ihren Entschluß, den armen Knaben zu erziehen. „Eine unerklärliche Angst bestimmte mich, und dann – Claire wäre tief unglücklich gewesen, wenn ihr Wunsch nicht erfüllt worden wäre; Du kennst sie ja,“ schloß sie ihren Bericht.

Der Kommerzienrath war nicht sehr begeistert, besonders als er hörte, daß ihr Schützling der Sohn eines von ihm entlassenen Arbeiters sei. Die Geschichte war zum mindesten lästig. Immerhin wollte er sich seiner geliebten Frau gegenüber nicht hart zeigen.

„Du hast ein gutes edles Herz – ich will Dir keinen Vorwurf machen; doch Du kennst diese Menschen nicht. Ich fühle, Du wirst Undank ernten. Unsere besten Absichten werden verkannt, in das Gegentheil verkehrt. ‚Zuerst die Mutter in den Tod getrieben und dann den Sohn wie einen Sklaven in Beschlag genommen,‘ werden sie sagen. Doch es sei, wie Du willst; wir wollen es einmal versuchen mit Eurem Hänschen.“

„Tausend Dank, Julius! Mir war wirklich bang, was Du dazu sagen würdest,“ entgegnete erfreut die Räthin. „Aber es war mir hauptsächlich auch um Claire; sie hat sich den Kleinen in den Kopf gesetzt, und hätte sie ihn nicht bekommen, ganz Weihnachten wäre ihr verpfuscht gewesen. Wir lieben ja doch das gute Kind so sehr!“

„Als Gescheuk für Claire – so meinst Du es, hm!“ Der Kommerzienrath wurde plötzlich ernst. „Nun, das Ergebniß ist am Ende dasselbe; aber nicht wahr, Emilie, Du läßt diese Absicht nicht laut werden, ich bitte Dich darum!“

*  *  *

Die Leiche der unglücklichen Marie Davis war in die Morgue gebracht worden, auf deren Bleidach unermüdlich der Regen niederprasselte. Den kleinen Hans, den sie hatte mit hinunternehmen wollen in die Ruhe des feuchten Grabes, hatte der Schutzmann auf die Polizeiwache geführt.

„Maria Davis, laut Aussage von Frau Schmidt die Frau des Jakob Davis, früheren Maschinisten in der Berryschen Fabrik, leblos aus dem Flusse gezogen von einem gewissen Thomas Wachhorst, Säger in der Stadtmühle, in die Morgue verbracht; deren sechsjähriger Sohn Johann Davis, lebend übergeben vom Schutzmann Nr. 6 des X. Bezirkes. Dominik Kirner.“

So lautete das Protokoll des wachhabenden Beamten. Als es aufgesetzt war, spritzte der Protokollführer mit wichtiger Miene die Feder aus, dann trat er in dienstlicher Haltung an den Vorgesetzten heran und sagte: „Gestatten der Herr Assessor die Bemerkung, daß ein Jakob Davis seit gestern sich hier auf Nr. 10 in Haft befindet. Er wurde völlig betrunken aufgegriffen. Wenn es sich vielleicht darum handelt, die Richtigkeit der Aussage dieser Frau Schmidt festzustellen, so könnte man vielleicht –“

„Sie haben recht, lassen Sie den Gefangenen sofort vorführen!“ befahl der Angeredete trocken, ohne den Kopf von der Schrift vor ihm zu erheben. „Das Kind kann hier bleiben.“

Der kleine Hans wurde auf die für eingebrachte Delinquenten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 455. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_455.jpg&oldid=- (Version vom 22.6.2021)