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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


gekonnt, deren Menschwerdung der Engel oben auf der Spitze des flammenden Christbaumes mit schmetternder Posaune verkündete, die aber fehlte diesem Feste, und mit ihr alles Versöhnende, Ausgleichende, Haßtilgende.

Einige junge Herren, Gäste Berrys, die mit Augengläsern bewaffnet dem weiblichen Theile der Beschenkten eine vorlaute Aufmerksamkeit widmeten, trugen auch nicht dazu bei, eine weihevolle Stimmung herbeizuführen. Nun kam die allgemeine Danksagung als letztes Glied der festlichen Handlung; sie wurde von dem Kommerzienrath mit der Würde und dem Geschick eines Herrschers und mit einem streng nach dem Verdienst eines jeden abgestuften Lächeln in Empfang genommen. Dann aber ereignete sich etwas ganz Neues, unerwartetes: den Beamten, welche stets der folgenden Familienbescherung beiwohnen durften, wurde heute zu allgemeinem Erstaunen erlaubt, eine Deputation von drei Arbeitern mitzunehmen. Das mußte seinen ganz besonderen Grund haben!

Inzwischen hatte die Versammlung in strenger Ordnung, ohne herzliche Erregung den Saal verlassen; die Strahlen der Lichter, welche die Tannenbäume schmückten, hatten nicht gezündet. –

Seine Kinder ließ der Kommerzienrath dieser Bescherung nicht beiwohnen; er fürchtete eine Abspannung ihrer Nerven, welche die volle Freude an den eigenen Geschenken beeinträchtigen könnte. So mußten denn auch heute die beiden Geschwister unter Aufsicht einer Bonne, freilich widerwillig genug, bis zu dem ersehnten Zeichen sich gedulden. Claire war noch nie so gespannt, so erregt gewesen; seit vier Tagen hatte sie nichts mehr von dem Hansl gehört und gesehen, und die Eltern gaben auf ihre wiederholten Fragen keinen Bescheid. Wenn sie sich am Ende doch anders besonnen und anstatt des lebendigen den häßlichen Hansl bei Tiffany gekauft hätten! Und sie hatte alles schon so hübsch ausgedacht und sich dem Bruder gegenüber mit ihrem Geschenk gebrüstet – wenn nun nichts daraus würde! Otto sandte der aufgeregten Schwester einen überlegenen Blick zu. Er begriff nicht, wie man sich freuen könne auf einen solch schmutzigen Jungen, von denen genug im Fabrikhof herumkugelten. Er selbst hatte sich einen Pony zum Reiten und Kutschieren gewünscht, wie der junge Graf Tek, sein Freund, ihn besaß. Wenn er diesen bekam, sollte ihr der Junge gern gegönnt sein.

Endlich das Zeichen! Claire stürmte voran die Treppe hinab. Unter der Flügelthür des Gartensalons standen die Eltern; eine Lichtfluth drang von drinnen auf den Vorraum heraus. Ungestüm drängten die Kinder in das glänzende Feenreich hinein. Da stand in der Ecke auf weichen Polstern von einem Diener gehalten, Ottos Pony, wiehernd und stampfend, gesattelt und gezäumt. Mit einem Jubelruf stürzte der künftige Besitzer darauf zu. Unter dem Baume lagen in buntem Gewirr Spielwaren aller Art, in der Mitte prangte der Automat, der Hansl von Tiffany. Claire stand regungslos, sie ärgerte sich jetzt über sein häßliches höhnisches Lachen, und vor ihren thränenfeuchten Augen schwammen alle Farben durcheinander.

Da öffnete sich eine Seitenthür, und die Mama, welche unbemerkt verschwunden war, kam herein, an ihrer Hand, sich trotzig stemmend, den kleinen Mund zum Weinen verzogen, der wirkliche lebendige Hansl, gerade so gekleidet wie der Automat, in kurzer schwarzer Hose, weißen Strümpfen, rother Weste mit silbernen Knöpfen und mit derselben blauen Wollmütze auf dem Lockenkopf. Herr von Zerbst, ein Verwandter der Kommerzienräthin, hatte die der Kleinen zugedachte Ueberraschung und den ganzen Hergang erfahren und diesen „drolligen“ Gedanken gehabt, dessen Ausführung jetzt mit allgemeinem Beifall begrüßt wurde. Auch der Kommerzienrath fand den Spaß durchaus harmlos und lachte herzlich mit. Als vollends der Kleine, von dem ungewohnten Anblick um sich geängstigt, dicht neben seinem Ebenbild zu weinen anfing, das Gesichtchen wie dieses in beide Hände vergraben, da war die Wirkung eine allgemeine und die Heiterkeit überwältigend.

Nur Claire stimmte nicht mit ein. Mit einem zornigen Blick auf die lachenden Gäste eilte sie zu dem verstörten weinenden Jungen, küßte ihn und stellte sich schützend vor ihn hin. „Lacht nicht über mein Hänschen, ich leid’ es nicht!“ rief sie, mit dem Fuße stampfend.

Ein erstaunter großer Blick traf sie aus des Knaben Augen, der sich ihre Liebkosungen willig gefallen ließ und ihr, schon halb getröstet, zu den Spielsachen folgte.

Mit finsterem Schweigen waren die drei Arbeiter, die man zu der Feier geladen hatte, unter der Thür stehend, dem Vorgang gefolgt. Nun trat der Kommerzienrath zu ihnen und theilte ihnen mit, der Knabe, den er in seinem Hause zu erziehen gedenke, sei der angenommene Sohn ihres entlassenen Kameraden. Deshalb hatte er sie ja kommen lassen – so konnte die Großmuthslaune seiner Gattin, der er nur ungern Raum gegeben hatte, wenigstens noch für seine eigenen Zwecke nach Möglichkeit benutzt werden. „Seht daraus,“ schloß er, „daß ich stets Euer Wohl im Auge habe und regen Antheil nehme an jedem Unglück, das Euch trifft! Erzählt den Verleumdern, die Euch aufhetzen wollen, diesen Fall, und sie müssen schamroth werden!“

Die Leute drehten verlegen ihre Hüte in der Hand und sahen mit neidischer Verwunderung auf das Kind, das durch ein wunderbares Geschick ihrem dunklen Kreise entrissen wurde. Sie fühlten eine stumme Erbitterung, daß gerade dem Sohne des liederlichen davongejagten Davis dieses Glück werden mußte, während ihre eigenen Kinder darbten und unabänderlich dem harten Los der Väter entgegengingen. Und zugleich weckte die Art, wie man die Wohlthat in Scene gesetzt hatte, und das Gefühl der Demüthigung, die darin lag, ihren Haß gegen diesen stolzen Millionär, der Menschen wie Spielzeug behandelte. So warf die düstere Leidenschaft ihren Schatten auf die That. –

War die Feier in der Versammlungshalle vorhin kalt und nüchtern gewesen – hier wehte, vollends nachdem die Deputation der Arbeiter sich entfernt hatte, eine andere Luft. Berrys starre Züge belebten sich, eine stolze Zärtlichkeit leuchtete aus den grauen scharfen Augen. Er liebte seine Frau, seine Kinder, für sie arbeitete er, scheute er keine Aufopferung. Wer ihn jetzt beobachtete, hätte wohl schwerlich in ihm den Mann gesehen, den die öffentliche Meinung als einen gefühllosen Fabrikherrn bezeichnete, welcher das Ausnützungssystem den Arbeitern gegenüber auf die Spitze treibe.

Hänschen hatte alle Scheu verloren; er wich keinen Schritt von Claire und betrachtete sie mit eigenthümlich forschenden, bewundernden Blicken. Seit sie vorhin so warm für ihn eingetreten war, schien sie ihm das Christkind selbst zu sein, das vom Himmel heruntergeflogen war, um ihn in die weichen Arme zu schließen. Und neben diesem Bilde tauchte vielleicht, als er die warmen Lippen des Mädchens auf der Stirn fühlte, plötzlich ein bleiches, abgehärmtes Antlitz vor ihm auf und lächelte ihm zu, das Antlitz der Mutter. Niemand mehr hatte ihn geküßt seit jener schwarzen Nacht an dem gurgelnden Wasser – aber die Lippen damals waren kalt und bebten.

So innig und vertraulich der Knabe mit Claire verkehrte, so verschlossen war er gegen ihren Bruder, der ihm zwar auch seine Geschenke zeigte, aber in einer befehlenden hochmüthigen Weise. Und als Hans einen blitzenden goldeingelegten Säbel, den jener zum Geschenk bekommen hatte, neugierig betrachtete, schlug ihn der eifersüchtige Besitzer auf die Finger.

„Das ist ein Offizierssäbel, das ist nichts für Dich! Du kommst einmal in solch ein Haus da“ – dabei zeigte er auf eine getreu nachgebildete Kaserne mit Soldaten, Gewehren, Trommeln, Feldbetten – „und ich kommandiere Dir dann ‚Rechts um!‘ ‚Links um!‘ und lasse Dich einsperren, wenn Du nicht folgst!“

Hänschen verstand das alles nicht, aber der Ton, die verächtlichen Bewegungen empörten sein Kinderherz; die weiße kleine Stirn zog sich in Falten, ein boser Blick leuchtete in seinem Auge auf.

Man ging zur Tafel. Claire gab keine Ruhe, bis ihr Weihnachtsgeschenk neben ihr untergebracht war, trotz der Bedenken des Vaters, der eine solche Annäherung nicht beabsichtigte. Die gebrochenen Reden des Knaben, die drollige, in diesen Kreisen fremd klingende Ausdrucksweise und Sprache, seine naive Verwunderung über all die nie gesehenen Dinge und Speisen machten ihn zum Mittelpunkt der Unterhaltung.

„Da sieht man wieder das blinde Walten des Schicksals,“ bemerkte einer der Herren. „Die Trunkenheit des Vaters macht den Jungen glücklich, schleudert ihn in eine neue Bahn, die im Verhältniß zu der ihm von Geburt bestimmten jedenfalls eine glänzende ist. Wäre dieser Davis nüchtern und fleißig gewesen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 458. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_458.jpg&oldid=- (Version vom 26.6.2021)