Seite:Die Gartenlaube (1892) 492.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

keine Ruhe mehr; der Gang sollte hinter ihm sein, bevor er seine Stellung antrat. Heute stand er noch nicht im Dienste des Herrn Berry, morgen hätte er sich ein Gewissen daraus gemacht, gegen den ausdrücklichen Willen des Kommerzienraths zu handeln.

Die Stadt war ihm nicht fremd, aber die Kleegasse war schwer zu erfragen, sie befand sich am äußersten Ende der westlichen Vorstadt, gerade in entgegengesetzter Richtung von der Fabrik.

Nach langem Umhersuchen kam er in die Gegend, wo nach den Beschreibungen sein Ziel liegen mußte. Ein Netz von Sackgassen nahm ihn auf – überall niedere, ärmliche Häuschen, vermengt mit kasernenartigen Neubauten, bevölkert von lärmenden Kindern, ärmlich gekleideten Frauen, trunkenen Männern. An der Ecke eines engen übelriechenden Gäßchens, das bergab tief hinein in das alte Winkelwerk zu führen schien, las er endlich: „Kleegasse“.

Ein kalter feuchter Wind zog aus der dunklen Straße herauf; das Schelten einiger Weiber, johlender Gesang und das Klimpern eines Klaviers drang heraus. Hans zögerte einen Augenblick, es war ihm bang zu Muthe, er fühlte, daß er einen entscheidenden Schritt thue. Wenn Claire von diesem Gange wüßte!

Ein Mann schwankte den holperigen Weg herauf – nun entschloß er sich, nach dem Hause, das er suchte, zu fragen. „Nummer 36?“ Der Fremde sah ihn groß an mit gläsernen Blicken.

„Nummer 36? Was kümmern mich die Nummern?“ Er lachte roh.

„Eine Wirthschaft ist in dem Hause,“ erklärte Hans schüchtern, dem Wankenden ausweichend.

„Eine Wirthschaft? Ja, das ist ’ne Nummer, Junge! Das hättest Du gleich sagen sollen! Aber es giebt mehr so verdammte Nummern da unten! Da ist die ‚Fackel‘, der ‚Jörgl‘, der ‚Prasser‘ – aber ich bin ein guter Kerl, komm’ nur, das rechte Wirthshaus, das find’ ich immer!“ Er packte Hans beim Arme und zog ihn mit sich fort.

In dieser Umgebung, unter diesen Menschen also lebte sein Vater! Unsagbarer Jammer erfaßte Hans, zugleich das klare Gefühl, daß er ihn herausreißen müsse aus solchem Abgrund, sonst tauchte er wohl eines Tages daraus auf und riß den Sohn mit sich ins Verderben. Er konnte sich keine Vorstellung machen, wie das geschehen konnte, er sah nur die verkommene wankende Gestalt seines Begleiters und stellte sie im Geiste neben Claire – unter dem Zwange dieses Bildes folgte er willig seinem Führer.

Es dunkelte schon; die rothen Vorhänge an den Fenstern der Kneipen glühten im Scheine der Lichter dahinter und warfen blutrothe Reflexe auf das feuchte Pflaster.

„Das ist der ‚Prasser‘ – doch der Teufel sehe die Nummer!“ stammelte der Fremde, vor einem Schanklokal stehenbleibend. „Aber hör’ einmal, Junge, wen suchst Du denn eigentlich? Dann haben wir’s gleich; bin gut bekannt hier und kenne die – die Eintheilung.“ Er warf einen prüfenden Blick auf Hans. „Doch es wird schon recht sein beim Prasser! Da sitzen die Jungen, die Arbeit suchen und keine finden. Eine traurige Bude!“

Hans, der an dem Hause eine andere als die gesuchte Nummer entdeckt hatte, ging ohne zu antworten weiter.

Der Mann lachte.

„Gelt, das magst Du nicht? Hast recht, der Teufel hole die Arbeit – ist auch mein Gusto nicht. Nun haben wir noch den ‚Jörgl‘ gleich da vorn.“

Wieder blieb er stehen und blickte forschend, die Hand in der Tasche, an Hans herab. „Da bist Du mir noch zu grün, Junge, und es ist noch zu früh am Tage, oder bist Du doch –“ Er lachte verschmitzt.

Die Klänge des Klaviers tönten jetzt nahe aus einem einstöckigen Hause, das unter den Tritten Tanzender zu erzittern schien.

„Da wär’s“ Der Trunkene stellte sich vor dem Hause auf. „Magst?“

Hans las die Nummer über der Hausthür. „24.“ Er athmete erleichtert auf und eilte vorbei.

„Na, dann bleibt nur noch die ‚Fackel‘, rief ärgerlich sein Begleiter. „Bursch, wenn Du mich zum Narren hast, so nimm’ Dich in acht! Was willst denn Du in der ‚Fackel‘? Da sitzen die Krakehler, die Revolutzer und halten lange Reden über Arbeit und Kapital; pfui Teufel! Und was nutzt’s? Die Katz’ fällt doch allweil auf die alten Füße!“

„Führen Sie mich zur ‚Fackel‘!“ sagte Hans fast befehlend. Der Mann sah ihn spöttisch an und lachte hell auf.

„So ein Bürschl will befehlen, will auch schon mitthun mit den Schreiern! Närrisch, ganz närrisch! Na, dann adieu, in der ‚Fackel‘ hab’ ich nichts zu suchen. Mir langt’s, und wenn’s nicht langt – nachher muß man halt ein bißl nachhelfen, aber ganz still, ganz still.“

Er wandte sich um und zwischen den engen Häusern hintappend wiederholte er, immer noch lachend. „So ein närrisches Bürschl! So ein Bürschl!“

(Fortsetzung folgt.)

Tragödien und Komödien des Aberglaubens.

Der Teufel im Backobst. – Gleiche Ursache, verschiedene Wirkungen.

Daß der Böse sich zur Versuchung des Menschengeschlechts mit Vorliebe frischer Obstsorten bedient, ist eine schon durch den ersten Sündenfall hinlänglich beglaubigte Thatsache. Wie vorsichtig man aber selbst im Genuß von gedörrtem Obste sein muß, von sogenannten „Hutzeln“, denen das beliebte Hutzelbrot, freilich aber auch das schon stark ins Dämonische hineinreichende Volk der Hutzelmännchen seinen Namen verdankt, das lehrt das Beispiel eines Knaben, dem auf diesem Wege nicht weniger als zehn Teufel in den Leib praktiziert wurden und zwar durch eine bis dahin unbescholtene Frau, welche dem Jungen aus reiner Gutmüthigkeit eine Handvoll Hutzeln geschenkt hatte, von den bösen Teufeln selbst aber später als Hexe denunziert wurde. Man denke sich die Vorstellung, die sich im Volksmund an die Redensart knüpft, daß einer oder eine den Teufel im Leibe habe, ins Zehnfache gesteigert, um sich ein Bild von dem Zustand des armen Kindes zu machen. Alle Gesetze der Natur und der christlichen Moral schienen wie mit einem Schlage in ihr Gegentheil verkehrt; der Knabe züchtigte seine Eltern aufs grausamste und vergriff sich in schnöder Wuth an allem, was guten Kindern sonst heilig ist.

Ein glücklicher Zufall aber wollte es, daß sich in der Nähe des Orts, wo sich dieser schreckliche Fall zutrug, ein Kapuzinerkloster und in diesem ein streitbarer Mönch, Namens Pater Aurelian, befand, welcher mit Zustimmung seiner geistlichen Oberbehörde den Kampf mit den zehn Teufeln muthig aufnahm und ihnen in viermal wiederholtem Anlauf mit Stola und Rauchfaß und der heiligen Kreuzpartikel so heiß zusetzte, daß sie, wenn auch widerwillig und ohne die verlangte Angabe ihrer Personalakten, stöhnend und seufzend in die Hölle zurückfuhren. Allein erst nachdem sich der vorsichtige Exorcist durch die wiederholte Frage. „Seid Ihr auch glücklich dort angekommen?“ – worauf ihm ein schauerlich de- und wehmüthiges, schon durch die Klangfarbe den unterirdischen Ort seiner Herkunft verrathendes „Danke, ja“ entgegenschallte – von dem Ausschluß jeder möglichen Täuschung überzeugt hatte, löste er die Bande des an Händen und Füßen gefesselten Knaben, und zu dem Tedeum, mit welchem die gläubige Gemeinde nunmehr diesen Sieg feierte, fehlte als charakteristische Begleitung eben nur noch das Knistern des Holzstoßes, auf dem man die freundliche Hutzelspenderin verbrannt hätte. Daß dies unterblieb, ist sicherlich nicht die Schuld des wackeren Pater Aurelian, nach dessen urkundlichem Bericht die „Kölnische Zeitung“ den nicht etwa im dunklen Mittelalter, sondern im Jahre 1891 zu Wemding im Königreich Bayern spielenden Vorgang der erstaunten Mitwelt so ausführlich geschildert hat, daß wir uns hier mit diesem gedrängten Auszug begnügen können.

Kurz zuvor hatte sich die Strafkammer des Landgerichts Saargemünd mit einem ganz entgegensetzten Falle des Aberglaubens zu beschäftigen gehabt, in dem nicht die Dämonen, sondern die Heiligen selbst die Hauptrolle spielten und der trotzdem zu einer Anklage wegen Betrugs führte. Die solchen Vergehens Angeklagte war die Tochter einfacher Bauersleute, Katharine Filljung, in dem Dorfe Büdingen geboren. Von Jugend auf kränklich und – nach ihrer Angabe – durch eine wunderbare Erscheinung der Mutter Gottes, welche sie in der katholischen Kirche zu Saargemünd hatte, geheilt, war es ihr auf Grund dieser

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 492. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_492.jpg&oldid=- (Version vom 8.4.2024)