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verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Zenza nickte nur zum Dank; die Münzen schob sie in die Tasche, den Stutzen Rothwein leerte sie auf einen Zug, Brot und Selchfleisch nahm sie in die Hand und begann zu essen, während sie weiter wanderte.

Abermals zwei Stunden, und der Untersberg lag hinter ihr. Weit und eben, noch von den zarten Nebeln des Morgens überflossen, dehnte sich das Grödiger Moos. Bald verwehte ein frischer Wind den grauen Duft, der über die Landschaft gebreitet war, und im Glanz der Morgensonne, stolz und schön, winkte ihr die leuchtende Stadt entgegen. Auf den ragenden Zinnen der Hohensalzburg, auf dem steilen Dach des Domes zu St. Peter, auf dem schlanken, zierlichen Thurm der Franziskanerkirche, auf jedem Herrenhaus, überall wehten die weißen und rothen Fahnen des Festes.

Als Zenza das Nonnthaler Thor erreichte, begannen schon alle Glocken zu läuten. Der junge Thorwächter hielt ihr die Hellebarde vor und wollte die Mauth von ihren Lippen erheben; aber statt eines Kusses zahlte sie mit einem Nasenstüber, schlug den Spieß beiseite und rannte die enge Gasse dahin, im Strom der Leute verschwindend, die zum Domplatz eilten. Sie überließ sich dem schiebenden Gedränge, rathlos, was sie nun beginnen sollte. Das Heim der Domfrauen würde sie wohl erfragen können. Aber wie sollte sie ins Kloster gelangen? Wie sollte sie Gelegenheit finden, Gittli ohne Zeugen zu sprechen? Während sie grübelte und sann, wurde sie gedrückt und geschoben; vom Hall der vielen Glocken, der alle Lüfte zittern machte, begannen ihr die Ohren zu singen; und mitten in dem hundertstimmigen Lärm, bei dem klappernden Getrappel der Pferde, bei dem Geschrei der vor den Hufen Flüchtenden wurde ihr völlig wirr und taub zu Sinne. Schließlich stand sie mitten in einem Knäuel Menschen auf einem großen Platz: rings umher Kirchen und ragende Gebäude, alle reich geziert mit Fahnen, Bildern, kostbaren Teppichen und Stickereien, mit Birkenbäumchen, Laubgewinden und leuchtenden Blumen.

Das Geläut der Glocken hatte ausgesetzt; nun mit einmal begann es wieder, und mit ihm vermischten sich, aus einer nahen Gasse schallend, die schmetternden Klänge der Posaunen, die hellen Töne der Zinken, die dumpfen Wirbel der Pauken, dazu ein mächtig anwachsender Gesang von Kinder-, Frauen und Männerstimmen, welche durcheinanderflossen wie brausende Wellen … Vor Zenzas Augen, deren Herz erzitterte in frommem Schauer, entwickelte sich mit funkelnder Pracht und überwältigender Wirkung die Prozession. Voran auf weißen Rossen die Herolde in goldgestickten Wappenröcken, dann die bunt gewandete Truppe der Bläser, Zinkenisten und Pauker, eine Schar Kriegsknechte, ein rasselnder Reitertrupp, die Fronboten und alles Gesinde des erzbischöflichen Hofes, die Richter im Scharlachkleid, die Räthe in schwarzen Talaren, mit schweren Goldketten; auf tänzelnden Pferden die Lehensritter in funkelndem Harnisch und mit blanken Schwertern, welche blitzten in der hellen Sonne; eine schier endlose Reihe von Mönchen und Laienpriestern, flackernde Lichter tragend; zwischen allen Gruppen wehende Kirchenfahnen und gaukelnde Laternen, heilige Statuen und Reliquienschreine; und jetzt der Baldachin, strotzend von Gold, mit nickenden Straußenfedern auf jeder Stange, behangen mit Bändern und Goldschnüren, deren Quasten in den Händen schmucker Edelknaben ruhten, umgeben von gepanzerten Wächtern, umwallt von duftenden Weihrauchwolken … und unter dem schwankenden „Himmel“ die Domherren im goldschweren Levitenkleid, in ihrer Mitte Herr Heinrich von Pirnbrunn, der neuerwählte Erzbischof von Salzburg, die weiße, goldgebänderte Inful auf dem Haupt, um die Schultern den von edlen Steinen blitzenden Rauchmantel, in den Händen die strahlende Monstranz …

Es stockte der Zug, der Erzbischof bestieg die Stufen des unter freiem Himmel erbauten Altars, der Gesang verstummte, die Posaunen und Zinken schwiegen, das Geläut der Glocken setzte jählings aus, über dem von Farben, Silber, Gold und Sonne leuchtenden Platz lag athemlose Stille … da schrillten die Klingeln, die Weihrauchwolken wallten, es hob sich die Monstranz, alles Volk sank in die Knie.

Ein Augenblick ... und alles war wieder Bewegung und Gewoge, Gesang und Tönen, Klang und Geläut’, Funkeln und Geflimmer …

Der Baldachin war an Zenza schon vorübergezogen, aber sie hatte immer noch zu schauen und zu staunen in Hülle und Fülle. Da kamen in prächtigen Gewändern die Edelherren und Edelfranen in langer, langer Reihe, dann wieder Mönche und Priester, singende Knaben und Mädchen, und jetzt …

Durch Zenzas Herz zuckte ein heißer Schreck, und mit brennenden Angen starrte sie in den Zug.

„Das sind die Domfrauen,“ sagte ein Weib an ihrer Seite, „und die adeligen Fräulen!“

Voran ging die Oberin mit sechs Schwestern, in schlichten blauen Gewändern, die blassen Züge überschattet von weißen Hauben, am Gürtel den Rosenkranz aus rothen Korallen. Ihnen folgte, einem wandelnden Blumengarten vergleichbar, eine blühende Mädchenschar, alle gleich gewandet, in weißen schleppenden Kleidern, die entblößten Schultern und Arme von zarten Schleiern übergossen, weiße Rosenkränzlein im gelösten Haar. Und von den Schönen die Schönsten, sechs an der Zahl, trugen auf duftender Blumenbahre ein liebliches Marienbild.

An einer dieser Trägerinnen hing Zenza mit starren Augen. Als die Bahre vorüber war, fuhr sie auf, wie aus einer Betäubung erwachend. Mit stoßenden Ellbogen drängte sie sich aus dem Knäuel der Menschen hinaus in die freie Gasse.

Der Zug hatte gewendet und zog nun an sich selbst vorüber. Es gab ein wirres Gedränge, bei welchen es niemand auffiel, daß eine neugierige Bauerndirn’ fast mitten in die Schar der adeligen Fräulein hineingestoßen wurde. Aus nächster Nähe starrte Zenza in das Gesicht der Marienträgerin, über deren schmächtige Wangen eine brennende Röthe flog.

„Kennst mich?“ flüsterte Zenza, während in der vorüberziehenden Spitze des Zuges die Posaunen schmetterten und die Zinken klangen.

„Kennst mich, Gittli?“ wiederholte sie und flüsterte weiter: „Deinetwegen bin ich gekommen! Du mußt davonlaufen aus dem Kloster! Noch heut’! Ich wart’ vor dem Klosterthor … den ganzen Tag … und wenn’s sein muß, die ganze Nacht. Aber kommen mußt Du ... Du mußt … der Haymo stirbt!“

Zenza hatte kaum ausgesprochen, als ein Stadtknecht sie mit unsanftem Arm zurückstieß in das Gedränge.

Der Zug gerieth in Stockung. Eine der Marienträgerinnen war ohnmächtig geworden, und als sie niedersank, konnten die hinzuspringenden Mädchen nur mit Mühe noch das heilige Bild vor dem Sturz bewahren. Zenza sah, wie Gittli von zwei Domfrauen an den Armen gestützt und fortgezogen wurde.

Es währte noch eine volle Stunde, bis die Feier vorüber war und das Gewoge der Menschen sich löste. Von Gasse zu Gasse fragte sich Zenza bis zum Heim der Domfrauen. Auf einem Eckstein kauerte sie sich nieder und wartete, bis die Domfrauen mit ihren Pfleglingen in das Kloster zurückkamen. Gittli war nicht dabei. Zwei Schwestern hatten sie schon vorher nach Hause geführt und zu Bett gebracht; die Ohnmacht wurde dem Staub und der Hitze zugeschrieben, und man legte es für Schwäche aus, als Gittli auf keine Frage Antwort gab. Geduldig ließ sie alles mit sich machen, nahm die stärkenden Tropfen, die man ihr reichte … und nun lag sie in ihrem Nestlein, von einer Schwester behütet, und starrte mit angstvollen Augen ins Leere. Wohl war es ihre erste Regung gewesen, auf den Knien und mit aufgehobenen Händen zu betteln: „Lasset mich heim!“ Aber das hatte sie ja seit jenem Tag, der sie ins Kloster brachte, schon zu hundert Malen nutzlos gethan. Sie mußte schweigen und den günstigen Augenblick zur Flucht erwarten; den Weg für eine solche Flucht hatte sie sich schon lange ausgesonnen, doch immer hatte ihr der Muth gefehlt, ihn zu betreten. Jetzt aber mußte sie fort, sie mußte. „Der Haymo stirbt!“ … dieses Wort hätte ihr den Muth gegeben, sich durch Feuer und Wasser hindurch zu schlagen. „Der Haymo stirbt!“ Immer, immer hörte sie nur dieses eine Wort. Das Herz schlug ihr wie ein Hammer, und dennoch rann das Blut so kalt wie Eis durch ihre zitternden Glieder. „Der Haymo stirbt!“ War er denn nicht genesen? Hatte Herr Heinrich gelogen, als er ihr diese Botschaft sandte … diese erste und einzige Freude, welche sie hier zwischen den dumpfen, ihren ganzen Lebensmuth erdrückenden Mauern erfahren hatte? Oder war Haymos Wunde wieder aufgebrochen? Oder hatte ihn neues Unheil getroffen? War er auf seinen gefährlichen Wegen gestürzt? Oder hatte ein Raubschütz, ein wildes Thier ihn angefallen?

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verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1892, Seite 506. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_506.jpg&oldid=- (Version vom 16.8.2021)