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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Beifällig nickte man dem Sprecher zu, obwohl den abgespannten Gesichtern und den milden, lässig hingestreckten Korpern keine besonders begeisterte Theilnahme anzumerken war. Die Gluthhitze des eisernen Ofens dicht neben dem Tische löste alle Begeisterung in eine laue Schläfrigkeit auf; allmählich schienen auch die beiden Wortführer davon ergriffen und wurden stiller.

Die Wirthin setzte sich zu Hans und lauerte sichtlich auf ein Gespräch mit ihm. In diesem Augenblick ging die Thür, ein Schutzmann trat ein, wohl derselbe, der vorhin draußen sichtbar gewesen war; die Gespräche verstummten, die Arbeiter stießen sich heimlich mit den Ellbogen.

Der Polizist ging musternd durch das Zimmer und ließ sich an der Schenke ein Gläschen Schnaps eingießen; dabei schaute er unverwandt zu Hans hinüber, der sich unter diesem forschenden Blicke wie ein Verbrecher vorkam.

„Ist Ihnen ’was?“ fragte die Wirthin, der es auffiel, daß er plötzlich ganz blaß wurde.

Er überhörte die Frage. Indessen hatte der Schutzmann ausgetrunken und kam gerade auf ihn zu. Hans fühlte seine Knie zittern, er ärgerte sich darüber und zwang sich zu einer trotzigen Miene.

Der Mann stellte einige oberflächliche Fragen an die Wirthin, offenbar nur zum Scheine, sein Auge ruhte unverwandt scharf auf Hans. Wenn es dem Argwöhnischen einfiel, ihn nach Namen und Stand zu fragen! Dann wurde wohl die ganze Sache sofort Herrn Berry berichtet, und er selbst war verloren!

Wo er den Muth hernahm, wußte er nicht – aber plötzlich fragte er den Polizisten: „Regnet’s noch?“

Die unbefangene Frage that scheinbar ihre Wirkung; die Schärfe des Blickes ließ nach.

„Sind Sie wasserscheu?“ antwortete der Mann mit einem ironischen Lächeln, legte nachlässig die Hand an den Helm und ging zur Thür. Im gleichen Moment wurde diese ungestüm aufgerissen, eine große Gestalt in triefenden Kleidern und schlammbedeckten Stiefeln, die bis zu den Schenkeln heraufreichten, polterte in die Stube und prallte unsanft gegen den Schutzmann.

„Sieh’ da, der ‚Schwarze Jakob‘ – Sie suche ich eben!“ rief dieser und versperrte dem Eintretenden den Weg.

„Mich?“ der Arbeiter schleuderte unbekümmert die Regentropfen von seinem Hute; schwarzes Haar fiel ihm in die Stirn. „Was giebt’s denn schon wieder?“

„Sie sind seit gestern von der Arbeit bei der Flußregulierung entlassen.“

„Stimmt – ich habe dem Aufseher gegenüber über die Luderarbeit geschimpft. Aber ist das ein Verbrechen? Soll man sich bei solchem Verdienst noch schön bedanken?“

Der Polizist nahm sein Notizbuch heraus. „Haben Sie schon einen anderen Dienst?“

„Wissen Sie mir einen, weil Sie so besorgt sind?“

Beifälliges Gelächter vom runden Tische.

Jener verlor keinen Augenblick die Ruhe. „Innerhalb drei Tagen müssen Sie Arbeit haben, das weiß ich; das andere kümmert mich nicht.“

„Kümmert Sie nicht – das glaub’ ich, Ihr Brot geht freilich nie aus! Na, fragen Sie halt in drei Tagen wieder nach!“ Von den Gästen am runden Tische stürmisch begrüßt, ging er lachend an dem Schutzmann vorbei, der ruhig sein Notizbuch einsteckte und sich ohne weitere Bemerkung entfernte.

Hans war bleich geworden bis in die Lippen. Das Verfahren gegen seinen Vater – er hatte ihn auf den ersten Blick erkannt – empörte ihn. Haß und jäher Zorn regten sich in ihm gegen die Macht, die dieser Mann im Helme vertrat und die hier so gewaltsam in die persönliche Freiheit eingriff, ohne sich doch um die Noth zu kümmern. Sein Groll hob ihn hinaus über die Beklommenheit, die ihn anfänglich beim Anblick des Vaters befallen hatte. Eben wollte er ihn durch die Wirthin an seinen Tisch rufen lassen, da machte Jakob Davis eine Wendung und erblickte ihn. Hans hatte nun zum ersten Male Gelegenheit, das Gesicht seines Vaters deutlich zu sehen – es erschien jetzt lange nicht so abschreckend wie gestern, nur der gläserne, verschwommene Ausdruck der Augen hatte etwas Abstoßendes, Rohes und ließ auch die Aehnlichkeit mit den Zügen des Sohnes, die sonst nicht zu verkennen war, weniger hervortreten.

Nach einigem Zögern schlug sich Jakob Davis wie verwundert mit den großen Händen auf die Lederschäfte der Stiefel und trat lachend, kopfschüttelnd an Hans heran, auf den jetzt alle Gäste aufmerksam wurden. „Hat es Sie doch hergetrieben? Na, das freut mich für Sie!“ rief er laut. Er machte der Wirthin ein Zeichen, sie solle sich entfernen, und setzte sich neben Hans, der Gesellschaft den Rücken kehrend. „Sei ganz ruhig,“ flüsterte er, sich über den Tisch herüberbeugend, „ich bin nicht so dumm und verrathe Dich – man wird vorsichtig in meinem Alter. Ich wohne im Hause, wir sprechen nachher noch allein miteinander, die Leute gehen bald. Jetzt komm’ herüber und mache kein Aufsehen! – Ja, ja, das freut mich, junger Mann,“ begann er dann laut und klopfte Hans kameradschaftlich auf die Schulter, „das freut mich, daß Sie mich aufsuchen! Setzen Sie sich nur da her – lauter gute Freunde, Ehrenmänner, die gern ein bißchen zusammenrücken.“ Er stand auf; Hans folgte ihm willig. Die sichtlichen Bemühungen des Vaters, ihn nicht in Unannehmlichkeiten zu bringen, beruhigten ihn, und zugleich erwachte in ihm ein abenteuerliches Interesse an diesen Eindrücken, die ihm eine so ganz andersartige Welt eröffneten als die, in welcher er bisher gelebt hatte.

„Der Sohn eines alten Kameraden, Maschinist, ein Mordskerl!“ stellte Jakob Davis den Sohn vor.

Die Männer betrachteten mißtrauisch die saubere moderne Kleidung des neuen Tischgenossen.

„Maschinist – das ist noch ’was, da kann man’s noch zu ’was bringen in der Zeit der Maschinen,“ meinte der eine Blaumacher.

„Das kommt gleich ganz anders daher als unsereiner bei der ewigen Dreckarbeit!" rief ein mürrisch aussehender Geselle, den der kalkbespritzte Anzug als Maurer kennzeichnete.

„Ach was, der Rock macht nichts aus,“ wendete ärgerlich ein Stubenmaler im Farbenkittel ein. „Die Maschinisten werden nicht weniger ausgenützt. Wir gehören alle in eine Presse, die von den Herren Kapitalisten und Fabrikanten und Meistern, und wie sie alle heißen zusammengeschraubt wird, bis der letzte Tropfen Blut heraus ist. Hab’ auch nie gehört, daß gerade die zu den Zufriedenen gehören, im Gegentheil – vorn dran sind sie, mit dem Maule wenigstens, in jeder Versammlung, bei jeder Wahl."

„Weil sie am meisten Grütze im Hirne haben, sehr einfach," mischte sich jetzt der andere der beiden Blaumacher in die Unterhaltung.

„Nun, was sagen denn Sie dazu, junger Herr Maschinist? Sie kümmern sich wohl nicht um solche Sachen?“ fragte der Maurer den stumm dasitzenden Hans.

„Ich bin noch zu jung und zu unerfahren, um mitreden zu können, aber soviel weiß ich, daß sich vorhin alles in mir empört hat gegen dieses herrische Ausfragen, das dem Schutzmann beliebte! Wer giebt ihm ein Recht dazu?“

Jakob Davis wurde sichtlich verlegen und that einen tiefen Schluck.

„Na, da hat’s allerdings einen kleinen Haken; einen jeden darf er auch nicht so ausfragen,“ antwortete der Farbenkittel. Der alte Davis warf dem Sprecher einen wüthenden Blick zu, den dieser aber gleichmüthig erwiderte, indem er hinzusetzte: „Nun, nun – hier braucht es doch kein Geheimniß zu sein, warum die Polizei sich so freundschaftlich nach Ihnen erkundigt. – Ach so!“ Er sah auf Hans – „Daran habe ich nicht gedacht!“ Eine peinliche Pause trat ein, auch Hans schwieg. Der Vater hatte also durch jenes Vergehen, das er schon gestern angedeutet, das freie Recht der Selbstbestimmung eingebüßt – wie weit mochte er schon fortgerissen worden sein auf der verderblichen Bahn, welch dunkle Saat mochte aus dieser Vergangenheit für sie beide noch aufsprossen!

Mit einem Blicke, der in der Seele des Sohnes zu lesen schien, sah Jakob Davis auf den stumm Dasitzenden; er betheiligte sich nicht mehr an dem Gespräch, das allmählich wieder in Gang kam. Endlich brachen die Leute auf. Kaum hatten sie sich entfernt, so gab Davis dem Sohn einen Wink, und dieser folgte ihm über die Bodentreppe hinauf in eine fensterlose Kammer. Die langsam aufleuchtende Flamme der Unschlittkerze erhellte nothdürftig den ärmlichen Raum, dem offenbar jede ordnende Hand fehlte: eine Kiste, aus welcher alte Kleidungsstücke hervorquollen, eine zerrissene Strohmatratze auf dem schmutzigen Fußboden, ein wackeliger Tisch und darauf eine leere Flasche als Leuchter – das war die ganze Ausstattung.

Hans war nicht verwöhnt, allein gegen das, was er hier sah, stach doch seine ärmliche Stube bei Merks nicht weniger ab

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 518. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_518.jpg&oldid=- (Version vom 9.8.2022)