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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

entzückender Knabe, die ganze Wonne des Mutterherzens, starb. Der Vater jedoch, der selbst noch in größter Gefahr schwebte, durfte von diesem Tode nichts wissen. Arria traf sonach – das bitterste Weh in der Brust – geräuschlos die Anstalten zum Leichenbegängniß und ließ den Knaben zur ewigen Ruhe bestatten, ohne daß ihr Gemahl das Geringste erfuhr. So oft sie das Zimmer ihres Gatten betrat, gab sie in frommem Betrug vor, der Sohn lebe und befinde sich besser. Sie mußte sich oft genug, wenn sich Pätus erkundigte, mit allerlei Einzelheiten befassen, ein ganzes Gewebe spinnen, ihm sagen, der Sohn habe das und das mit Appetit gegessen, so und so lange geschlafen – und bei all dem die Miene lächelnder Hoffnung zur Schau tragen! Nur wenn die lange verhaltenen Thränen die Oberhand bekamen und sie plötzlich zu überwältigen drohten, entfernte sie sich und überließ sich rückhaltlos ihrem Schmerze. Hatte sie dann sich satt geweint, so kehrte sie trockenen Auges, gefaßt, heiter zu dem Gatten zurück, „als ob sie ihren Verlust vor der Thüre gelassen hätte.“

Und so ward Pätus gesund.

Der Aufwand an Seelengröße und sittlicher Kraft, den Arria bei diesem Anlaß bekundete, überbietet noch den bei ihrem heldenmüthigen Tode.

Zur Beurtheilung dieses Todes – und mancher ähnlichen Vorkommnisse im alten Rom – muß sich der Leser vergegenwärtigen, daß bei den Römern die Selbstentleibung nicht nur in gewissen Ausnahmefällen entschuldigt wurde, sondern geradezu für ein sittliches Recht, ja, unter gewissen Verhältnissen für eine Pflicht galt. Der Gedanke, mit ihrem Pätus gleichzeitig in den Tod zu gehen, war bei Arria nicht erst in dem Augenblick der letzten Entscheidung entstanden. Sie hatte bereits der Gattin des Scribonianus (des Mitverschworenen ihres Gemahls), als diese verhört wurde und vor dem Cäsar Geständnisse ablegte, den verächtlichen Zuruf entgegengeschleudert: „Dich soll ich anhören, die Du noch lebst, nachdem Scribonianus in Deinen Armen ermordet wurde?“ Auch wird überliefert, daß ihr Schwiegersohn Thrasea sich eifrig bemüht habe, sie von dem Vorsatz, mit Pätus gemeinsam zu sterben, durch vernünftige Vorstellungen abzubringen. Thrasea fragte sie schließlich: „Also wünschtest Du, daß Deine Tochter im gleichen Falle auch mit mir in den Tod ginge?“ Worauf sie versetzte: „Ja, wenn sie so lang und so glücklich mit Dir gelebt hätte wie ich mit Pätus.“

Einen ganz ähnlichen Fall – nur aus unberühmten Kreisen – erzählt uns der jüngere Plinius in einem Briefe. Die Scene, die er uns schildert, gemahnt an das einst viel bewunderte Bild „Die Lebensmüden“, nur mit dem Unterschied, daß auf dem Bilde der Mann der aktivere Theil ist.

„Ich fuhr auf unserem Larischen See[1],“ so schreibt Plinius, „als mir ein sehr bejahrter Freund ein Landgut und ein Schlafzimmer zeigte, das auf den See herausgeht. ‚Aus diesem,‘ erzählte er, ‚stürzte sich einst eine Landsmännin von uns mit ihrem Gatten.‘ Ich fragte ihn um die Ursache. ‚Der Mann litt an einer unheilbaren Krankheit. Da die Gattin nun sah, daß jede Hoffnung verloren sei, so ermahnte sie ihn, zu sterben. Sie war seine Begleiterin, ja seine Führerin, sein Beispiel im Tode und die nothwendige Ursache desselben, denn sie band sich mit ihm zusammen und stürzte sich so in den See.‘“

Der Name dieser Frau ist nicht auf die Nachwelt gekommen. Plnius aber findet die That „nicht minder groß als jene berühmte That der Arria“.

Eben dieser jüngere Plinius bietet mit seiner Gattin Calpurnia das Beispiel einer fast idealen Ehe, deren Einzelzüge uns vielfach modern anmuthen. Es lohnt in der That, die Briefe, die Plinius an seine Calpurnia geschrieben hat, wenigstens flüchtig ins Auge zu fassen. Alsbald wird man erkennen, daß es sich hier um ein Verhältniß von edelster Innigkeit, um eine Lebensgemeinschaft handelt, wie sie nur mit einer Frau möglich war, die alle Vorzüge echter Weiblichkeit in sich vereinigte.

So lautet ein kurzes Briefchen:

„Du sagst mir, liebe Calpurnia, meine Abwesenheit schmerze Dich sehr; den einzigen Trost gewähre Dir die Beschäftigung mit meinen Schriften. Ach, wie freue ich mich, daß Du eine so große Sehnsucht nach mir empfindest und mit solchen Mitteln Dich zu beruhigen strebst! Mir geht es genau so. Immer wieder nehme ich Deine Briefe zur Hand, als wären sie neu. Ich stelle mir vor, welches Glück es sein müßte, Dich in der Nähe zu haben, da mich schon diese Briefe so sehr entzücken – freilich mir auch eine quälende Sehnsucht wecken.“

Ein anderes Mal schreibt er noch stürmischer:

„Meine Sehnsucht nach Dir übersteigt jeden Begriff. Ich liebe Dich gar zu sehr und bin so gar nicht gewohnt, von Dir getrennt zu sein. Den größten Theil der Nacht flieht mich der Schlaf; bei Tage wandle ich um die Zeit, da ich sonst bei Dir zu sein pflege, in unbewußtem Drange nach Deinem Gemach, dessen verödete Wände ich dann traurig verlasse wie ein Zurückgewiesener. Nur die Arbeit erlöst mich für Augenblicke von dieser Pein. Sage Du selbst, Calpurnia, was ich hiernach für ein Leben führe!“

Ein dritter Brief, den er ihr nach einem campanischen Luftkurort, wahrscheinlich nach Bajä, schreibt, zeigt die fiebernde Unruhe eines Herzens, das um sein Liebstes bangt. Noch niemals ist dem vielbeschäftigten Manne seine Berufsthätigkeit so verhaßt gewesen als jetzt, da sie ihn hindert, die etwas kränkelnde Gattin ins Bad zu begleiten. Er wäre gar zu gern bei ihr gewesen, um sich mit eigenen Augen von dem Fortschreiten ihrer Genesung zu überzeugen. „Wenn Du auch ganz gesund wärest, würde ich dennoch besorgt sein, denn man ist angsterfüllt, wenn man von dem, was man so zärtlich liebt, zeitweise ohne Nachricht bleibt. Jetzt aber fürchte ich alles, male mir die entsetzlichsten Bilder aus und stelle mir gerade das vor, was mich am meisten erzittern und zagen läßt. Ich bitte Dich also, schreibe mir alle Tage, womöglich zweimal.“

In einem Briefe an Hispulla – die Tante Calpurnias – spricht sich Plinius folgendermaßen über Calpurnia aus:

„Sie hat sehr viel gesunden Verstand, dabei die größte Einfachheit im Auftreten und einen Hauch von Kindlichkeit, der mich entzückt. Aus Liebe zu mir liebt sie die Wissenschaften. Sie besitzt meine sämmtlichen Schriften und studiert sie mit Eifer. Rührend ist ihr Interesse für meinen Beruf. Wenn ich für jemand einen Prozeß führe, so bangt sie, als ob die Sache sie selbst beträfe. Sie stellt Leute auf, die sie davon unterrichten sollen, wie ich gesprochen habe, ob ich Beifall errang, ob der Rechtsstreit gewonnen wurde. Lese ich etwas Litterarisches vor, so hält sie sich in der Nähe, etwa hinter einem Thürvorhang, und ist glückselig, wenn ich gelobt werde.“

Vielleicht das rührendste Beispiel unermüdlicher Treue und Hingebung im ganzen klassischen Alterthum bietet uns Peponila, die Gattin des Julius Sabinus. Ihr Schicksal bedeutet einen unauslöschlichen Flecken auf dem Wappenschild des sonst so tüchtigen, von altrömischer Gesinnung erfüllten Kaisers Vespasian. Julius Sabinus hatte in Gallien die Fahne des Aufruhrs erhoben, war aber nach heldenmütgigem Widerstande besiegt worden. Er floh auf sein Landgut, zündete dieses an und verbreitete das Gerücht, er sei mitsammt seiner Gattin Peponila – Tacitus nennt sie „Epponina“, Plutarch „Empona“ – im Feuer umgekommen. So lenkte er die Nachforschung von sich ab. Neun Jahre lang lebte er nun, von seiner treuen Gattin gepflegt, in einer unterirdischen Gruft, die er nur einmal verließ, um in der Tracht eines Sklaven die Peponila nach Rom zu begleiten, woselbst sie für seine Begnadigung allerlei Schritte that. Umsonst. Vespasian ließ sich nicht rühren und als später durch einen Zufall die Gruft entdeckt wurde, gab der hartherzige Fürst den Befehl, nicht nur den ehemaligen Aufrührer, sondern auch seine opfermuthige Lebensgefährtin dem Henker zu überantworten. Peponila hatte sogar ihre beiden Kinder dem Vespasian zu Füßen gelegt und, auf die bleichen Gesichter deutend, gesagt: „Siehe, Cäsar, die Kleinen hier habe ich in der Gruft erzogen, um auch durch ihren Mund Gnade für meinen Gemahl zu erflehen.“ Alle Umstehenden weinten, aber der Cäsar blieb unerbittlich. So starb Peponila denn muthig und noch im letzten Augenblick eine Trösterin dessen, dem sie Treue gelobt hatte bis in den Tod.

Unter den makellosen Frauen der Kaiserzeit findet sich auch eine Kaiserin, nämlich die Gemahlin des ausgezeichneten, mit allen Herrschertugenden reichgeschmückten Ulpiusans Trajanus, die edle Plotina. Sie zeigt viele verwandte Züge mit der Calpurnia des Plinius und war ein Muster der Sitteneinfalt, der Anapruchslosigkeit und der Frauenwürde. Als sie zuerst nach der Thronbesteigung ihres Gemahls den Palast betrat, machte sie auf der Treppe Halt und wandte sich zu den Umstehenden mit dem Gelöbniß, das Scepter ihres Gemahls werde nichts an ihrer

  1. Dem heutigen Comer See.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 527. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_527.jpg&oldid=- (Version vom 30.10.2022)