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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

zurückziehen, den Schuldigen entlassen – der ganze Zukunftstraum ist zertrümmert. O diese Ketten an die ihn das Schicksal geschmiedet, an denen es ihn willenlos herumzerrte – sollten sie denn ewig klirren? Waren sie nicht zu zerreißen mit starker Hand? Was war zu thun? Frei bekennen und die Folgen muthig tragen oder feige lügen und ein andermal vorsichtiger sein – so stand die Wahl.

Die Minute, die verging, bis er im Arbeitszimmer Berrys stand, dünkte Hans eine Ewigkeit.

„Setzen Sie sich!“ begann der Kommerzienrath, als er in dem dunklen Raume Licht gemacht hatte.

Es galt also ein längeres Verhör. Aber Herr Berry sah nur sehr nachdenklich, nicht erregt aus – das gab Hans seine Fassung zurück.

„Sie sind ein guter Zeichner, Herr Davis, wollen Sie mir morgen Ihren Gedanken über die vorhin erwähnte Verkuppelung bei den Lokomotiven genau aufzeichnen? Er interessiert mich, und ich werde ihn von einem Ingenieur auf seine Verwendbarkeit prüfen lassen.“

Hans konnte seine Ueberraschung über diese unerwartete Wendung nicht verbergen.

Berry lächelte.

„Beruhigen Sie sich, ich werde dafür sorgen, daß Ihnen die Ehre und der Ertrag der Erfindung zugute kommt, wenn etwas an der Sache ist. Aber geben Sie sich keiner überstürzten Hoffnung hin, unter hundert scheinbar sehr geistreichen Problemen der Art zeigt sich vielleicht nur eines praktisch verwerthbar. Immerhin ist es für einen jungen Mann Ihres Alters und Ihrer Vorbildung schon sehr viel, wenn er überhaupt auf neue Ideen kommt. Und ich weiß das sehr wohl zu schätzen.“

„Ich werde mein Möglichstes thun, die Zeichnung zu machen, obwohl ich selbst noch nicht ganz im klaren bin, aber etwas ist daran, das fühle ich bei der Montierung einer jeden Maschine von neuem,“ erwiderte Hans beglückt.

„Gut.“

Berry stand auf.

„Nun zu etwas anderem. Was hatten Sie an den beiden Sonntagnachmittagen in der Kleegasse zu suchen? Es ist das doch ein sonderbarer Aufenthalt. Sprechen Sie offen!“

Hans zuckte zusammen und hob jetzt plötzlich den Kopf, den er, im Nachdenken über die zu entwerfende Zeichnung, gesenkt hatte. Da fiel sein Blick auf ein Gemälde über dem Schreibtisch – Claire als Mädchen, eine Puppe unter dem Arme, das liebe etwas trotzige Gesichtchen von blonden Locken umwallt; so hatte er sie in frühester Erinnerung. Sein Auge blieb starr daran haften, als habe er die Frage überhört.

Berry entging es nicht, er wartete ruhig, doch mit einer gewissen Spannung in den Zügen.

„Ich war bei meinem Vater!“ klang es dann fest aus dem Munde von Hans; sein Blick ruhte noch immer auf dem Bilde, als spreche er nur zu Claire.

„Ich wußte es. Gut, daß Sie die Wahrheit gesagt haben. Ich will Ihnen nicht vorhalten, was zu thun Ihre Pflicht gewesen wäre, ich will Ihnen einfach die Last abnehmen, mit der Sie doch nicht fertig werden können. Gehen Sie nächsten Sonntag wieder hin und bestellen Sie Ihren Vater für Montag früh acht Uhr zu mir aufs Bureau – es ist ja nicht anzunehmen, daß ihn jemand erkennt. Ich werde für ihn auf eine Weise sorgen, daß er Ihren Weg nicht weiter zu kreuzen braucht, verbitte mir aber dann jede weitere Gefühlsseligkeit von Ihrer Seite. Es giebt Nothwendigkeiten im Leben, die grausam zu sein scheinen und es manchmal auch sind, mit denen man aber rechnen muß.“

Hans war erschüttert. Dieser Mann häufte mit kalter Miene und dürren Worten Wohlthat auf Wohlthat. Jetzt fielen sie ja – die Ketten, die sich von Tag zu Tag enger um ihn geschlungen hatten, nun war er frei!

„Herr Kommerzienrath, wie soll ich Ihnen danken!“ stammelte er verwirrt.

„Mit einer guten Zeichnung vorderhand. Gehen Sie nur rasch daran, die Sache hat Eile! Gute Nacht, Herr Davis!“ Berry kehrte sich um und machte sich über seine Papiere. Hans war entlassen, kurz wie immer, als habe sich nichts weiter ereignet.

Mit einem Gefühl der Erlösung wanderte er durch die stille Nacht nach Hause; das gefährliche Geheimniß war weggewälzt von seiner Brust; wenige Tage noch und er sollte zum letzten Male die „Fackel“ betreten. Daß sich der Vater weigern würde, der Aufforderung Berrys zu folgen, war ja doch undenkbar. Jetzt bot sich dem Unglücklichen endlich die Möglichkeit, herauszukommen aus seiner jetzigen Umgebung und zugleich zu menschenwürdigerer Arbeit zu gelangen, und damit mußte der böse Geist von ihm weichen vor dem Hans zitterte, mußten jene wilden Anfälle aufhören, die den Verbitterten auf die Bahn des Verbrechens zu reißen drohten.

Vergeblich suchte Hans den Schlaf; seine Gedanken kehrten immer aufs neue zu seiner Erfindung zurück, deren Bild ihn unausgesetzt verfolgte. Zuletzt kleidete er sich wieder an, holte Reißbrett, Lineal und Feder hervor und begann beim Scheine der Lampe zu zeichnen, zu rechnen. Nie war sein Geist so frei, so klar gewesen. Rasch entfernte er den Aufriß einer Lokomotive, der vor ihm lag, er störte nur seine rege Phantasie, die alles, was hier. in starrer Ruhe vor ihm stand, in lebendiger, ineinander greifender Bewegung erblickte.

Stunden verrannen. Endlich verlangte die Natur ihre Rechte. Das Zimmer um ihn her verschwand. Aber noch im Traume sah er die arbeitende Maschine. So wie er sich’s gedacht, paßten die einzelnen Theile ineinander, Rad an Rad, Kurbel an Kurbel. Und plötzlich griffen die Räder und Kurbeln ineinander, in rasender Eile sich vorwärts bewegend. Es brüllte und stampfte und dampfte dahin über das weiße Papier hinaus, hinaus aus der Stube, an der Stadt vorbei, durch Wälder und Felder, über Brücken und Dämme, durch finstere Tunnels – und er selbst stand auf der Maschine, die Steuerung in der Hand, jauchzend über die stürmische Fahrt. Nun blitzte ein Meer von Lichtern durch die Nacht, die Maschine sauste mitten hinein, mitten durch eine dunkle schreiende Menschenmasse, über große Plätze, durch breite Straßen, bis vor einen mächtigen Palast – da hielt sie mit einem Rucke. Unter dem Portal stand eine vornehme Dame, ganz in Weiß, Blumen im Haar, vom Lichte umstrahlt, und er sprang hinab von der qualmenden Maschine, stürzte in ihre ausgebreiteten Arme, in die Arme Claires! Und alle jubelten und jauchzten umher – nur das Pfeifen der Maschine tönte schrill dazwischen. Eben wollte er zur Lokomotive zurück, die gellende Pfeife abzustellen, da erwachte er, den Zirkel noch in der Hand.

Verstört hob er den Kopf, der auf dem Reißbrett geruht hatte, auf der vollendeten Zeichnung. Im Dämmerschein des Morgenlichts, das zum Fenster hereinfiel, hoben sich sauber und klar in der Mitte des weißen Papieres die Linien der Maschine ab. Allein Hans achtete nicht weiter darauf, nur die Bilder seines Traumes suchte er sehnsüchtig festzuhalten. Im Fabrikhof erwachte schon das Leben – die Arbeit rief! Er löste die fertige Zeichnung ab, legte sie in einen Umschlag und übergab sie dem Mädchen, das ihm sein bescheidenes Frühstück brachte, mit der Weisung, das Paket noch diesen Morgen ins Bureau des Herrn Kommerzienraths zu bringen. Dann ging er ernst und ruhig wie immer hinüber in die Monteurwerkstätte.

*  *  *

Am nächsten Sonntag machte sich Hans früher als sonst auf den Weg zur Kleegasse. Er konnte den Augenblick nicht mehr erwarten, wo er seiner Sorge ledig sein würde, und eine gewisse Unruhe beschlich ihn, ob sein Vater auch willfährig sich erweisen würde. Zugleich trat der Vorgang mit Holzmann am vorigen Sonntag wieder in allen Einzelheiten vor sein Auge und steigerte seine Qual.

Ohne das Wirthszimmer zu betreten, begab er sich auf einer Hintertreppe sofort hinauf zur Kammer des Vaters. Sie war heute verschlossen. Er pochte ungeduldig an die Thür – keine Antwort! Also nicht zu Hause! Vielleicht war er unten in der Wirthschaft.

Das Schanklokal war überfüllt, ein wüster Lärm herrschte an allen Tischen und über dem ganzen Raume lag ein dicker Dunst von Branntwein und Tabaksrauch. Noch nie war ihm der Ort so abstoßend erschienen. Forschend hielt er Umschau, aber auch hier war der Gesuchte nicht zu erblicken.

Da wurde er von der Wirthin bemerkt. „Warten Sie einen Augenblick!“ rief sie ihm zu. Aus einer Schublade am Schenktisch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 552. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_552.jpg&oldid=- (Version vom 11.8.2022)