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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

„Sie sagen, es sei Dein Unglück wie meines!“

„Meines? Das wär’ gleich!“

„Aber Du sollst glücklich sein! Ich will mich nicht an Dich hängen wie eine Klette – Deine Kunst will Freiheit ... geh’ – aber denk an mich, vergiß mich nicht!“.

„Hör’ auf zu weinen,“ hatte er nach einer Weile getröstet, „Italien ist nicht aus der Welt –“

„Ach, Heinrich, viel zu weit für die Lieb’! Und die Mädchen dort – sie sind arg schön, hab’ ich gelesen.“

Und dann hatten sie beide unter Thränen gelacht und sich wieder geküßt. „Laß die Mädchen – so schön wie Du ist keine!“

Und noch einmal wurde es von Mund zu Munde gesprochen: „Leb’ wohl! Ich bleib’ Dir treu!“ 0 „Komm’ wieder – ich warte Dein – Leb’ wohl! Behüt’ Dich Gott!“ –

Sie meinte noch jetzt, nach langen Jahren, das Plätschern der Ruder zu hören, den letzten Ruf vom Wasser herüber: „Leb’ wohl, mein goldenes Lieb!“

Ach, und dann! Dumpf, öde hatten die Tage sich fortgesponnen. Sie hätte es heut nicht sagen können, ob sie gewacht oder geträumt während all der Zeit. Einzelnes hob sich aus grauem Einerlei heraus, das waren seine Briefe; wie leuchtende Sterne am nächtlichen Himmel hatten sie in ihr Leben gestrahlt. Dann kam ein Freier – sie schlug ihn aus; noch einer – sie wollte ihn nicht; der Vater ward ärgerlich ob des abermaligen: „Ich heirath’ nicht!“

„Sie kann den windigen Maler nicht vergessen,“ erklärte die Schwester. Und als Riekchen einst nicht daheim war, stöberte die Mutter ihre Briefmappe durch, fand Heinrichs Adresse, und der Vater schrieb einen höchst nachdrücklichen Brief, des Inhalts, daß er sich nunmehr das läppische Geschreibsel verbitte, denn das Mädchen beginne vernünftig zu werden und an eine passende Partie zu denken.

Riekchen ahnte nichts; sie litt nur unter dem Schweigen des Geliebten unsagbar. Endlich, an einem Weihnachtsabend, ward sie krank. Drunten feierte man just die Verlobung der Schwester mit Herrn Referendar Roettger; sie phantasierte von ihm in der stillen Krankenstube, und immer klang die Frage an das Ohr der Wärterin. „Gelt, hast mich vergessen, Lieber? Da drunten sind die Mädchen schöner, ach, soviel schöner!“

Als sie wieder genesen war, wurde Minnas Hochzeit gefeiert. In der Kirche brach Riekchen ohnmächtig zusammen, sie war noch nicht kräftig genug. Aber sie meinten doch alle, sie habe wunderschön ausgesehen mit ihrem Lockenköpfchen und den weißen Blüthen im Haar. Dasselbe meinte auch der Hauptmann Erbenstein, aber sie fand, daß ihn das wenig interessieren könne – und der Hauptmann mußte sich trösten.

Und weiter zogen die Jahre. Erst starb der Vater, dann die Mutter; und die Sterbende hatte nach ihrer Hand gefaßt: „Du hast nicht glücklich sein wollen, Kind – wie mich das schmerzt!“

Und das Mädchen hatte fast heiter erwidert: „Gewollt, lieb’ Mütterchen, hab’ ich’s wohl, aber nimmer – –“

„Dürfen“ wollte sie sagen, doch mochte sie der Sterbenden keinen Vorwurf mit ins Grab geben; und so hatte sie sich denn begnügt, hinzuzusetzen: „aber ich hab’s nicht recht verstanden, hab’ kein Talent dazu.“

Nun war sie allein in dem großen Hause, das ihr vermacht worden war. Die Schwester kam zwar ab und zu, sie brachte auch ein Kind mit, einen prächtigen braunlockigen Buben, der es verstand, mit seinem hellen Kinderlachen sich der Einsamen ins Herz zu schmeicheln. Er war mehr und lieber bei der Tante denn daheim, und als der Tod eine unglückliche Ehe löste, kam der kleine Friedrich ganz ins Tantenhaus, sammt seiner Mutter, die wieder in die heimathlichen Räume flüchtete. Sie nahm das Anerbieten der Schwester, die Parterrewohnung zu beziehen, nur allzugern an, denn sie befand sich angeblich in bedrängten Verhältnissen; der Verstorbene hätte das meiste ihres recht netten Vermögens „verlumpt“ – wie sie sich verächtlich ausdrückte. In Wahrheit aber besaß sie noch alles, sogar noch mehr, denn sie war äußerst genau und sparsam gewesen.

Nun, Riekchen half ja. Sie hatte für weiter nichts zu sorgen, und der Bub’ stand ihr auf der ganzen Welt am nächsten; wozu sollte die alte Jungfer auch sonst ihr Geld gebrauchen! Tante Riekchen sah sich zu der zweifelhaften Würde einer Erbtante erhoben, und Frau Minna vertrug sich mit ihr, so gut es ihr zänkisches rechthaberisches Naturell zuließ. Verstehen konnten sie sich nicht, es war auch nicht nöthig. Mochte Frau Minna dort unten immerhin ihre Kaffeegesellschaften geben und ihre endlosen Bettdecken häkeln und stricken, hier oben, da lebte etwas Besseres, da sprachen die alten Erinnerungen in einsamen Dämmerstunden, da stand noch allezeit eine Skizze auf der Staffelei, da kehrten Bücher und Journale ein, da klangen aud dem Flügel Beethovens und Schumanns herrliche Melodien und – da saß der Bub’ und ließ sich Geschichten erzählen von alten Zeiten, oder lernte sein Latein oder spielte auf seiner kleinen Violine.

So war es allmählich still in ihr geworden. Wenn aber die Schwester einmal taktloserweise die alte Wunde berührte, kam der Schmerz heiß und bitter wie nur je. Und wissen wollte sie immer, was aus ihm geworden sei – ob er verdorben und gestorben, ob er zurückgekehrt sei nach Deutschland, glücklich und behaglich lebe, ober ob er dort geblieben sei, ein Weib genommen und der alten Liebe vergessen habe.

Nie war eine Kunde gekommen, nie – bis heute. Da kam eine – aber welche!

Sie stand plötzlich auf wie jemand, der einen rascheu Entschluß gefaßt hat, zündete Licht an, holte einen dunklen altmodischen Mantel und eine Kapuze aus der Nebenstube, und den Brief in der Hand tragend, verließ sie das Zimmer. Unten ging sie zuerst in die Küche, hieß die Magd eine Laterne anzünden und sich bereit machen, sie zu begleiten, dann klopfte sie an die Thür der Schwester.

„Herein!“ Frau Minna saß am runden Tische bei der Lampe und häkelte; der Sohn las.

„Jesus, wie siehst Du aus!“ schrie die Räthin ganz entsetzt in das blasse Antlitz der Schwester blickend. „Was ist Dir? Sag’s doch endlich!“

„Ich hab’ eine Nachricht von – –“ der Name wollte nicht über die blassen Lippen, „aus Italien –“

„Gott soll mich schützen! Er kommt doch nicht etwa zurück? Oder sollst Du gar hin? Grundgütiger, die Geschicht’ ist aber dauerhaft!“

Tante Riekchen stand hoch aufgerichtet und antwortete nicht.

„Nun, er will Dich wohl noch? Ist nun wohl endlich so weit, daß er eine Frau ernähren kann?“

„Er ist tot,“ antwortete Fräulein Riekchen.

Frau Minna schrak doch einen Augenblick zusammen vor dem verhaltenen Schmerzensruf der Schwester. Sie wollte etwas sagen aber es fiel ihr nichts ein, sie sah nur mit einem nicht sehr klugen Gesicht der Frauengestalt nach, die aus der Thür schritt. Gleich darauf rasselte unten die Schelle, und Tante Riekchen hatte das Haus verlassen.

„Wo will Tante hin?“ forschte der Sohn.

„Was weiß ich! Wird wohl einen Kranz bestellen wollen – aber den kann sie ja gar nicht schicken, so weit – Gott mag wissen, was sie vor hat. Ich bin nur froh, daß da endlich ’mal ein Ende wird.“

„War das Tante Riekchens Bräutigam?“

„Ja, so was war’s. Aber lerne nur; sie kommt schon wieder. Wenn ihr irgend etwas quer geht, läuft sie hinaus, und wenn’s Spitzbuben regnet. Hat sie sich dann ausgetobt, so fällt’s ihr schon wieder ein, wo sie wohnt.“

Fritz senkte den Kopf gehorsam über sein Buch, jedoch lernen konnte er nicht. Er hatte die Tante aufrichtig lieb; er fand bei ihr Ersatz für die Prosa, mit der die Mutter sich umgab, und daß sie ein Leid erdulden mußte, machte ihn selbst ganz traurig und unruhig.

„Wenn ich nur wüßte, wo sie hin ist,“ wagte er nach einem Weilchen zu sagen.

„Lern’ doch!“ – –

Indessen war Fräulein Riekchen Trautmann im Sturm und Schneetreiben durch ein paar finstere Straßen geschritten und in ein hochgiebliges Haus getreten, hinter dessen Läden im Unterstock ein Licht schimmerte.

„Ist der Herr zu Hause?“

„Jawohl!“ antwortete ein alter Mann, der in einer Art Livree steckte, „just raucht er seine Pfeife, und die Frau Doktor setzen das Schachbrett zurecht.“

„Fragen Sie, ob ich einen Augenblick stören darf!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 615. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_615.jpg&oldid=- (Version vom 18.9.2020)