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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

ehren wie Dein eigen Kind – gieb ihm Güte und Geduld, gieb ihm Liebe!

Als ich vor langen Jahren den oben erwähnten Brief Deines Vaters erhielt, da ging es mir, wie es ein deutsches Lied ausdrückt: ‚Mir war’s, als sei verschwunden die Sonn’ am hellen Tag –‘ Ich könnt’ es heute nicht beschreiben, wie ich jene Zeit ertrug. Mein Schaffen, mein Wollen schien gelähmt, gänzlich gelähmt.

Die Tochter meiner Wirthin war es, die mich vor dem Aergsten bewahrte, um – mich noch Aergeres erleben zu lassen. Ich verdiente nichts mehr, ich kam aus den Schenken kaum noch heim, ich verdarb es mit den Familien, die mir zuredeten, mich aufzuraffen; ich war am Rande des Abgrundes angelangt. Die Wirthin, meine nachherige Schwiegermutter, eröffnete mir eines Tages, daß sie mich nicht länger im Hause dulden wolle, dafern ich nicht sofort die rückständige Miethe bezahlte – ich lachte und wies ihr die leeren Taschen. Sie begann darauf in der kreischenden Weise ihres Volkes zu zetern mit Polizei zu drohen – und ihre Tochter stand blaß und wortlos an der Thür. Als die Alte endlich das Zimmer verließ, riß sie das Mädchen mit sich hinaus, und draußen begann ein Streit zwischen den beiden Frauen, während ich ein paar Sächelchen zusammensuchte, die das Leihhaus noch nicht verschlungen hatte.

Die volle tiefe Stimme des Mädchens blieb endlich Siegerin; es ward still in dem kleinen Hause –

Ach, Friederike, es wird mir schwer, Dir dies zu schreiben, aber ich meine, Du hast ein Recht darauf, zu wissen, wie ich mein Weib gewann. Es war der Abend dieses Tages gekommen, ich hatte just mein letztes Werthstück in der Hand und war im Begriff, dasselbe als einzige Bezahlung der ehrenwerthen Donna Marchi zu geben und dann das Haus auf Nimmerwiedersehen zu verlassen. Da klopfte es leise und Julia huschte in das Zimmer.

‚Signor Federigo,‘ flüsterte sie, ‚Ihr braucht nicht auszuziehen – behaltet Euer studio, die Mutter läßt es Euch, Ihr werdet kein böses Wort mehr hören.‘

‚Wie kommt denn das?‘ fragte ich gleichgültig; mir war es wirklich einerlei, ob ich ging oder blieb.

‚Ich habe –‘ sie stockte und sah mich durch die Dämmerung an mit den dunklen Augen, die in Thränen schimmerten. – Sie war ein kleines zierliches Geschöpf, ohne Spur von Farbe in dem gelblich bleichen Antlitz. Ich hatte sie kaum beachtet, wenn sie an ihrem Webstuhl saß und seidene Fäden zu Bändern webte, wie sie es bei einer Muhme in Sorrent gelernt hatte.

‚Was haben Sie denn, Julia?‘

‚Ich bezahlte der Mutter –‘ stieß sie hervor, ‚ich habe mir heimlich gespart von dem, was ich verdiene, aber sie darf es nicht wissen, Signor, sie schlüge mich sonst tot.‘

‚Das nehme ich nicht an, Julia,‘ sagte ich kurz. ‚Du bist ein gutes Kind, doch – das ist unmöglich! Geh, rufe die Mutter!‘

Da fiel mir das Mädchen zu Füßen und begann zu weinen, bitterlich und leidenschaftlich, und dazwischen kamen einzelne Worte hervor – ich solle nicht gehen, ich solle sie nicht verlassen, ohne mich wolle sie nicht leben, denn – sie liebe mich. Sie müsse es bekennen, es sei nun einmal so, und sie werde ersticken, wenn sie es nicht hinausschreien dürfe. Und wenn ich gehe, so laufe sie mir nach, und keinen Ton wolle sie sagen, wenn ich sie auch schelten und treten würde. – – Da hob ich sie auf und zog sie an mein Herz und dachte, daß Du mich verlassen habest, und daß dieses arme Kind des Volkes hoch über der Frau stehe, die mir die vielgerühmte deutsche Treue brach. Und nach ein paar Tagen ward sie mein Weib und saß nach wie vor an ihrem Webstuhl, während meine Schwiegermutter für vornehme Herrschaften wusch und ich fleißig genöthigt wurde, ebenfalls zu schaffen, denn die Zeiten seien schlecht und man wolle doch zuweilen Sonntags und Festtags an meinem Arme sich zeigen im Theater oder in einem Café.

Das Elend, das moralische Elend blieb nicht aus. Anfangs, nach der Geburt meines Jungen, kam noch einmal ein Aufleuchten, aber dann – – Ich habe mich, das Kind im Arme, anfangs tapfer gewehrt gegen den Einfluß der Unbildung und Niedrigkeit, ich habe den Knaben vom ersten erwachenden Verständniß an in meinem Atelier, unter meinen Augen gehabt, ich habe gearbeitet, bis mir die Krankheit Pinsel und Palette aus der Hand riß und die überhandnehmende Schwäche es nicht mehr verhindern konnte, daß mein Liebling das dumpfe Krankenzimmer floh und sich auf der Gasse in Gesellschaft umhertrieb, die seiner nicht würdig war. – Meine Frau arbeitete doppelt emsig; die Wiege mit einem zweiten Kinde stand neben ihr. Sie war in dem letzten Jahre viel in meiner Stube, mir zur Qual – Gott helfe mir – denn jedes ihrer Worte war ein Stachel, eine Anklage gegen den jämmerlichen Mann, an den sie ihr Herz gehängt.

Und dann erfuhr ich, daß Du mir treu geblieben bist! Das war das Schwerste, und doch so schön. – Habe Dank, Friederike! – Noch einmal bitte ich Dich, gieb dem Kinde Deine edle Gesinnung, Dein vornehmes Denken, Deine Treue! – Leb’ wohl, und verzeihe mir! Ich habe Dich nie vergessen!“

Friederike Trautmann saß noch lange, den Brief in der Hand. Das Licht war heruntergebrannt und erloschen – sie merkte es nicht. Eine nie gekannte peinigende Bitterkeit hatte ihr Herz gepackt.

„O, Ihr!“ flüsterte sie und streckte die Hand aus gegen das Bild der Eltern, „hattet Ihr denn das Recht, uns zwei elend zu machen?“ Und je mehr sie darüber nachsann, um so größer ward ihre Sehnsucht nach dem Kinde des geliebten Mannes. Alles, alles, was er von ihr verlangte für seinen Sohn, würde sie diesem geben, mehr noch, viel mehr! Wie ein Verschmachtender trinkt, so sog sie die Vorstellung jener Minute ein, in der sie die Arme ausbreiten würde, um dieses Kind ans Herz zu nehmen.

Wollte Gott, es stünde erst neben ihr!




Und der Tag nahte sich; die Zeit war langsam, aber sie war vergangen. Die Vorbereitungen hatten der angehenden Pflegemutter viel heimliche Freuden, die Sticheleien der Schwester, das bekümmerte Aussehen des Neffen, der von der Mutter allmählich überzeugt worden war, daß ihm durch das Erscheinen des „fremden Bengels“ bitter Unrecht geschehe, viel offenbare Kränkungen gebracht. Aber sie ging doch unbeirrt ihren Weg. Zwei Tage vorher war denn alles in schönster Ordnung, wenigstens im Obergeschoß des alten Hauses, das sein spitzes Giebeldach trug wie eine verhältnißmäßig viel zu hohe Kopfbedeckung, und dessen zahllose Bodenluken verschlafenen Augen glichen. Nun ächzte die alte rostige Wetterfahne im Westwind, der über den Rhein daher brauste, und in den Straßen des winzigen Städtchens tobte die liebe Jugend in allerhand billigen Verkleidungen einher, denn es war der Rosenmontag, und wenigstens die kleinen Leute wollten ihren festlichen Umzug haben wie die großen dort unten im heiligen Köln und oben im goldenen Mainz.

Fritz Roettger stürmte auch die Treppe hinauf in Tante Riekchens Zimmer, obgleich ihn die Mutter gewarnt hatte, daß besagte Tante ja doch keine Augen mehr für ihn haben würde.

Sie hatte recht gehabt, die Mutter. Tante Riekchen saß stumm und bleich im Sofa, und vor ihr stand der Onkel Doktor mit einem Briefe in der Hand und schien so halbwegs ihre Fassungslosigkeit zu theilen, denn er kratzte sich bedenklich hinter den Ohren. Fritz hörte darch seine schwarze Pferdehaar-Perücke, mittels welcher er sich zu einem „Radidimausidifallenjungen“ umgeschaffen hatte, noch deutlich, wie er sagte. „Ja, das ist nun nicht anders, mein liebes Fräulein Riekchen; bedenken Sie, daß es so das Nächstliegende war. Hier haben Sie das Schreiben. Vorläufig ist nichts daran zu ändern, und später – kann ja dann Rath werden. Gezwungen – – Was stehst Du denn hier und gaffst, dummer Bub’,“ herrschte er den Knaben an, der mit offenem Munde lauschte. „Lauf ’nunter, ich hör’ schon die Musik.“ Und als der Verdutzte verschwunden war, fuhr der Doktor fort. „Gezwungen werden, das zweite auch noch als Pflegekind anzunehmen, können Sie nicht. Ich bitte Sie, der Adami muß doch hier in Deutschland herum noch Verwandte haben, deren Pflicht und Schuldigkeit es ist, für die Kinder zu sorgen?“

„Keine hat er, lieber Doktor!“

„Na, das wird sich alles finden. Mein Bruder war aber in ganz verwünschter Lage; stellen Sie sich nur vor – wie schreibt er denn?“ Und er begann zu lesen:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 619. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_619.jpg&oldid=- (Version vom 2.10.2020)