Seite:Die Gartenlaube (1892) 622.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

lieb haben, Friedrich – Du verstehst mich doch, Du sprichst doch deutsch?“

Er hatte sich etwas verlegen aus den Armen der fremden Frau gewunden. „Ja!“ sagte er und sah an ihr vorüber, „aber Italienisch ist schöner.“

Der Doktor lachte verlegen. „Oskar,“ rief er zurück, „kommst Du noch nicht?“

Vom Absatz der Treppe her war schon während einiger Minuten die zuredende Stimme eines Mannes gedrungen. „Ja doch! Ja doch!“ rief dieselbe Stimme jetzt, „der kleine Racker sitzt hier auf der Treppenstufe und ist nicht zu bewegen, weiter zu gehen. – Na, dann komm, Du Eigensinn,“ fuhr er fort, „ich will Dich tragen!“

Nun der Schrei eines erschreckten Kindes, und gleich darauf tauchte an der Biegung der Treppe ein Mann auf mit breitkrämpigem Kalabreserhut, der ein sonderbares kleines Wesen in den Armen trug. Es lag darin, wie man etwa ein Wickelkind trägt, den Kopf hintenüber gebeugt, die Augen halb geschlossen, einen trotzigen Zug um den Mund und die Fäustchen geballt.

„Wo kann denn die Vorstellung des kleinen Fräuleins erfolgen?“ fragte scherzend der Bildhauer, Oskar Kortum, der Bruder des Doktors; „es ist wohl am besten, ich bringe sie gleich an Ort und Stelle, sonst fängt der scheue Vogel auf der Stubenschwelle noch einmal an, mit den Flügeln zu schlagen.“

Fräulein Riekchen öffnete die Thür zu des Knaben Zimmer, und dort stellte der Künstler ein kleines Geschöpf auf zwei winzige Füßchen, ganz drollig anzusehen; aus einem sonderbar buntgestreiften Tuche, das um die Taille geknüpft war, tauchte ein blasses Gesichtchen empor, von einer Fülle dunkler krauser Haare umgeben. Regungslos stand das Persönchen da, vollständig fremdländisch anzuschauen; das einzige, was sich an ihm regte, waren die großen goldenen Ringe in den zierlichen Ohren.

„Geh zu der Dame und gieb ihr die Hand,“ sagte der Bildhauer auf Italienisch. Aber die beiden braunen Hände schlangen sich fest ineinander, das Mündchen preßte sich zusammen und zwei große dunkle Augen streiften scheu unter langen Wimpern hervor die schlanke Frau, die noch immer den Bruder mit einem Arme umschlungen hielt.

„Komm doch zu mir, Kleine,“ forderte Riekchen. Aber ihre Stimme klang anders, als sie zu dem Bruder gesprochen hatte. „Komm, mein Kind, wie heißt Du denn?“

„Julia,“ antwortete der Knabe an ihrer Stelle, „Julia, wie die Mama.“

„Komm her, Julia!“ Riekchen Trautmann sprach es ungeduldig und befehlend, über ihr Gesicht war jäh eine rothe Flamme hingeschlagen. Und als das Kind stumm zurückwich, riß sie es zu sich herüber, und vor ihm niederkniend, hielt sie es an beiden Schultern und sah ihm in das schmale blasse Gesichtchen unter dem wirren Gelock.

„Keine Spur von ihm – fremd, fremd!“ sprach ihr Herz, und jede weiche Regung schwand daraus. „Das ist ihr Kind, das Kind jener, die das Glück besaß, das doch mir gehörte von Gottes- und Rechtswegen!“ Sie fand kein Wort der Liebe für das bebende Geschöpfchen; fast heftig ließ sie es los und richtete sich empor.

„Dora,“ sagte sie zu der alten Dienerin, „thue Du ihm die warmen Tücher ab und nimm es hinüber in sein Stübchen.“ Und wieder wandte sie sich zu dem Jungen, der an dem Tische stand und mit leuchtenden Augen die Schätze betrachtete, die dort für ihn lagen.

„Es ist Dein, Friedrich – beschau es Dir, nachher wollen wir essen. Ich bitte die Herren –“ und sie schritt zur Thür, „treten Sie einstweilen, bis es zu Tische geht, in mein Wohnzimmer und lassen Sie sich danken, Herr Oskar Kortum, für den großen Dienst, den Sie mir erwiesen haben.“

Die Brüder hatten rasch einen stummen Blick gewechselt. Der Jüngere seufzte. „Die Kleine dauert mich,“ murmelte er, so daß es nur der Aeltere verstand.

„Warte doch ab!“ tröstete dieser.

000000000000

Frau Minna scharwerkte indes unten in der Küche umher; da das Mädchen bei der Wäsche half, bereitete sie heute das Essen. Die Bratendüfte aus dem oberen Stock, wo der Doktor und der „windige“ Bildhauer aus Florenz, der die „unnützen Dinger“ gebracht, mitspeisten, machten ihre Laune nicht besser. Als nun gar der Fritz in die Küche schaute und fragte, ob er denn wirklich nicht oben essen dürfe – Tante Riekchen habe ihn noch einmal einladen lassen – ward sie ganz erbost. „So lauf in Kuckucks Namen!“ rief sie und schmetterte einen Deckel so heftig auf den brodelnden Fleischtopf, daß es wie Janitscharenmusik klang. Sie lief dann ins Waschhaus, und kein Stück war ihr recht gewaschen; es gab scharfen Tadel und bittere Redensarten, und endlich setzte sie sich in der Küchenschürze auf den Sorgenstuhl am Fenster der Wohnstube und nahm sich vor, ihre leibliche Schwester wegen Verschwendung und Unzurechnungsfähigkeit unter Kuratel stellen zu lassen.

„Und gleich zwei! Gleich zwei!“ murmelte sie; „das zweite ist ganz und gar überflüssig. Eine Sünd’ und eine Schand’ ist’s – ersticken möcht’ man darob!“

Und just in diesem Augenblick erscholl über ihr ein heftiges Kinderschreien, gellend und boshaft, wie die Räthin meinte; dann die Stimme Riekchens, so laut wie sie in diesem Hause noch nie vernommen worden war, und jetzt unterschied die Lauschende auch noch Doras hohes Organ. „Na, das kann ja hübsch werden!“ sprach die Räthin vor sich hin. „Herr Gott, wenn ich bedenke, was das Riekchen für ein Gesicht machte, wenn mein Bub’ einmal schrie!“ Dann wurde es plötzlich still, aber in die Stube zur Frau Räthin kam das Luischen mit aufgestreiften Aermeln und nasser Schürze. „Haben die Frau gehört?“ fragte sie eifrig.

„Jawohl, ich bin nicht taub!“

„Ach Du mein, bin ich erschrocken! Eh’ man sich da dran gewöhnt! Die Kleine, das Mädchen, soll ein so böses Ding sein, vor Eigensinn ist’s ganz weggeblieben, sagt eben das Käthchen von droben, ganz blau ist’s geworden.“

„Du sollst Dich um Deine Wäsche kümmern!“

„Ich geh’ ja schon, Frau Räthin, aber so etwas hab’ ich noch nicht gehört, daß ein Kind wild wird, wenn’s etwas Liebes gethan bekommt. Schad’ um die neue Puppe, eben hat das Käthchen die Scherben in die Müllgrube gethan.“

Frau Räthin sah zum Fenster hinaus, und Luischen zog sich zurück; sie hörte nur noch, wie die Frau die Hände faltete und sagte. „Großer Gott, was für eine Last, was für eine Last! Was für ein unnützes Ding!“ –0

Fräulein Riekchens trauliche Schlafstube floh heute der Friede. Sie ging noch um Mitternacht auf und ab, jeder Nerv bebte ihr. Sie nahm den Wachsstock und schlich nach denn Zimmer des Knaben; der schlummerte nicht, er lag mit großen offenen Augen und starrte in die neue Umgebung.

„Schlaf, mein Bub’,“ flüsterte sie und beugte sich über ihn und strich ihm die Locken zurück, die sich genau so keck auf die weiße, schön geformte Stirn legten wie einst bei dem Vater.

„Ja, Tante!“

„Gefällt es Dir bei mir?“ forschte sie zärtlich.

„O ja! – Der Fritz und ich wollen uns morgen Kaninchen kaufen. Er sagt, wenn ich’s möchte, erlaubtest Du es.“

Sie schwieg.

„Nicht wahr, Du erlaubst es?“ fragte er und umfaßte mit beiden Armen ihren Hals und zog sie zu sich herunter.

Ihr schwebte ein „Nein!“ auf der Zunge, denn sie hatte vor kurzem erst dem Neffen diesen Wunsch abgeschlagen, aber das „Nein!“ verwandelte sich in ein „Ja!“ unter der Zärtlichkeit des Knaben. Sie war sich der Schwäche bewußt und es bangte ihr vor sich selbst.

„Nun schlafe aber auch!“

„Ja, Tante!“

Und dann ging sie auch an das Lager des kleinen Mädchens. Das Kind lag in dem weißen Bettchen, fest schlummernd, den kleinen Mund herbe heruntergezogen, die Fäustchen geschlossen. Die alte Dora schlief tief in ihren aufgethürmten Kissen. Friederike stellte das Licht auf ein Tischchen und stand mit schlaff herabhängenden Armen und gesenktem Kopfe vor diesem Kinde. Welch ein unseliger Charakter steckte in dem zerbrechlichen kleinen Ding! Ihr Herz zitterte noch bei der Erinnerung an die Scene von heute

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1892, Seite 622. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_622.jpg&oldid=- (Version vom 31.10.2020)