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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

schlug, und auf das leise Rauschen des Stromes. Am jenseitigen Ufer zuckte von Zeit zu Zeit ein starkes Wetterleuchten auf und tauchte den Garten in rothes Licht. Ganz allein saß sie da, denn Dora war zu ihrer verheiratheten Stieftochter gegangen.

Ob sie hungerte oder fror? Sie hätte es nicht zu sagen gewußt. Sie hatte nur Sehnsucht nach Güte, nach Liebe, nach einem kosenden Worte, so übergroße Sehnsucht. Aber niemand, niemand war für sie vorhanden.

Da klinkte leise die Thür, und leise schlich jemand herein. „Hier!“ sagte die flüsternde Stimme des Fritz, der sie bisher kaum eines Blickes gewürdigt hatte, „hier, kleiner Unnütz; das Luischen meint, Du hättest heut abend nichts zu essen bekommen –“ Und der große Junge bog sich hinunter und legte dem Kinde ein Butterbrot in den Schoß. „Weine nur nicht, Unnütz,“ stotterte er, „iß lieber!“

Sie weinte nicht, aber sie aß auch nicht; sie sah unverwandt die Thür an, durch die der Bursch’ verschwunden war, das kleine Herz klopfte ihr heftig, und ein warmer Schauer durchrieselte sie. Wie ein Sonnenstrahl die Knospe wohlthuend streift, die sich kaum hervorgewagt hat, so wohl war dem einsamen Kinderherzen durch diese paar ungeschickten Worte geschehen und ein Fünkchen erglomm in der verschüchterten Seele, das einst zur starken mächtigen Flamme wachsen sollte. Und als sich abends die kleinen Hände von Mamsell Unnütz falteten, da klang auch der Name „Fritz“ ins Gebet wie in alle ferneren Gebete, die das Kind sprach.

Die Tante ward fortan noch kühler gegen das „boshafte Kind“. „Unten“ und „Oben“ blieben auf gespanntem Fuße; „guten Tag und guten Weg“ boten sich die Schwestern zwar noch, aber die innerliche Trennung wurde vollständig. Die Jungen gingen getrennt zur Schule und kamen einzeln wieder heim – in derselben Klasse saßen sie so wie so nicht, denn Frieder nahm sich Zeit bei seinen Studien, während Fritz eifriger denn je beim Lernen war. Und so getheilt gingen die Alten in den Herbst ihres Lebens hinein, die Jungen ihrem Lenze entgegen, und dann waren sie plötzlich mitten drin in diesem Lenze, und aus den Kindern waren Leute geworden.


Es ist ein reizender Tag, an dem ein Mädchen achtzehn Jahre alt wird; ein ganz eigener Zauber liegt über ihm, besonders wenn der Tag zu Ende Mai fällt, wo alle Rosenknospen im Aufspringen sind, wenn an dem Rosengarten der Rhein vorüber rauscht und der Duft der Blüthen die Luft erfüllt. Man kann sich das Geburtstagskind so recht vergegenwärtigen, wie es mit strahlenden Augen und im weißen Kleide durch den Garten flattert und vor seliger Daseinsfreude die ganze Welt umarmen möchte.

So kann es wohl sein – aber bei Mamsell Unnütz war es nicht so an diesem Maitag, an dem sie achtzehn Jahre alt wurde. Sie wachte schon ganz früh auf, aber gar nicht anders wie sonst; nicht die Spur freudiger Erwartung prägte sich in dem Gesicht aus.

Das Zimmerchen gehörte ihr jetzt allein; Frau Dora war nicht mehr im Hause, sie lebte in ihrem Witwenstübchen irgendwo in der Stadt, man hatte ihre Dienste nicht mehr nöthig. Das „Julchen“ war groß geworden, der junge Herr nicht mehr daheim, da schickte die Tante die Alte fort und hielt nur noch ein Dienstmädchen, ein ganz junges von fünfzehn Jahren. Julia mußte ohnehin die Wirthschaft lernen.

Das junge Mädchen wunderte sich heute gar nicht, daß kein Myrtenstöckchen an ihrem Bette stand, kein Blumenstrauß, daß kein liebes freundliches Gesicht über das ihrige sich neigte, keine freundliche Stimme sprach: „Gott segne Dich, Liebling!“ Sie machte wie sonst ihre Toilette, stieß das Fenster auf, sog die Morgenluft ein, während sie das lange blauschwarze Haar flocht, zu dem sich die Ringellöckchen von einst ausgewachsen hatten und das sie nun in einfachem Knoten am Hinterkopf aufsteckte. Sie war hoch und schlank geworden, dabei doch von zierlichem Gliederbau und sah noch landfremder aus denn als Kind, jedenfalls war sie ihrer Mutter ähnlich. Die Nase ein ganz klein wenig gebogen, die Stirn niedrig, das Kinn rund und fest, und alles überstrahlt von zwei glänzenden dunklen Augen, in denen, wie die Frau Rath sich ausdrückte, „etwas flimmerte, etwas – na, man wird ja sehen, was, und wenn sie noch so sittsam die langen Wimpern darüber fallen läßt“.

Die Kleidung war sehr einfach. Tante Riekchen fand es angezeigt, die auffallende Erscheinung, so viel als irgend anging, zu mildern. Ein hellblaues Kattunkleid, darüber eine Schürze, die sich das Mädchen, so zierlich es gestattet wurde, genäht hatte, das war die Geburtstagstoilette. Wie sollte sie auch anders sein, wenn zur Feier dieses Tages große Wäsche angesetzt war? Die geliebten Ohrringe hatte man ihr längst fortgenommen, aber Julia griff noch heute mechanisch nach den kleinen Ohrläppchen, wenn sie verlegen wurde, wie sie es früher gethan, wo sie in solcher Lage die Ringe zu drehen pflegte, bis die Tante sie auf die Finger klopfte. Eine Weile länger als sonst blickte sie heute doch in den Spiegel, und als es nun sieben Uhr schlug, lief sie eilig in die Küche, um das Frühstück zu besorgen. Sie trat dann mit dem Präsentierbrett in der Hand in die Wohnstube, wo Tante Riekchen am offenen Fenster saß und ihr aus blassem, sehr gealtertem Gesicht entgegen sah.

„Guten Morgen, Tante!“ sagte das junge Mädchen.

„Guten Morgen, Julia!“ klang die gemessene Antwort.

Das Mädchen schenkte die Tassen voll und rückte den Stuhl zurecht. „Ist’s gefällig, Tante?“ –

Fräulein Riekchen kam herüber. „Ich gratulier’ Dir, mein Kind,“ sprach sie und berührte mit den Lippen die Stirn des Mädchens. „Und hier ist eine Kleinigkeit für Dich.“ Sie schob ihr ein Päckchen in die Hand. „Sei recht sparsam damit – Du weißt –“ Ein tiefer Seufzer beschloß diese Rede, und Riekchen sank in den Sessel und rührte in der Tasse.

Ueber des Mädchens Gesicht war ein freudiges Roth gehuscht. „Ich danke Dir, liebe Tante – und darf ich mit dem Gelde thun, was ich will?“ fragte sie, ohne den Blick zu heben.

„Ja, vorausgesetzt, daß es keine Thorheitett sind; das heißt – ich hatte die Hoffnung, Du würdest es aufsparen,“ war die Antwort.

Mamsell Unnütz schwieg, aber ihre Freude an dem Geschenk schien geschwunden.

„Heute, gegen Abend,“ fuhr die Tante fort, „wenn die Wäsche von den Leinen ist, magst Du zur Schneiderin gehen, sie soll Dir ein weißes Kleid passend machen. Ich habe es getragen als junges Mädchen. Die Doktorin will Dich zu der Pfingstpartie einladen; mit achtzehn Jahren hast Du ja wohl ein Anrecht auf die Lustbarkeiten der Jugend.“

„Ach, Tante,“ wandte das junge Mädchen ein, „laß mich daheim, ich kenne die Menschen alle nicht, und –“

„Wenn ich nur wüßt’, Julia, weshalb Du so hochmüthig und apart thust! Du wirst mitfahren! Ich wünsche es schon deshalb, damit es nicht noch einmal heißt, ich gönne Dir nichts und behandle Dich als Stiefkind.“

Das junge Mädchen erwiderte kein Wort mehr. Sie goß der alten Dame die zweite Tasse ein und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.

„Ich bitte also, daß die Wäsche nicht wieder so himmelblau wird wie das letzte Mal!“ rief Fräulein Riekchen ihr nach, und dann zog sie einen noch uneröffneten Brief aus der Tasche ihres grauen Kleides; ehe sie ihn erbrach, holte sie tief Athem, und Röthe und Blässe wechselten auf ihrem Gesicht. –

Drunten im Hausflur standen allerhand Möbel umher, und das Dienstmädchen der Frau Rath klopfte mit dieser um die Wette förmliche Staubwolken aus den braunen Ripspolstern. Die Thüren von zwei Stuben, den Zimmern des jungen Herrn, denen diese steifen birkenen Stühle und Sofas angehörten, standen weit auf, und die Scheuerfrau bürstete die Dielen mit einem Eifer, der darauf schließen ließ, daß sie Angst vor der Räthin hatte, die ihr Thun unausgesetzt beobachtete. Der „Guten Morgen!“ des jungen Mädchens verhallte in dem Getöse des Klopfens. Frau Rath hatte weder Auge noch Ohr für sie, und Mamsell Unnütz konnte unaufgehalten ihre Geburtstagsfeier beginnen.

„Wenn Sie die Tischtücher und Servietten gleich zuerst ins Wasser stecken möchten, Fräulein,“ wies die alte Waschfrau sie an – „so, ich helf’ den Korb tragen.“ Und in wenigen Minuten war der Strom erreicht.

Den Garten schied nur ein schmaler Fußsteig vom Ufer, das ziemlich steil abfiel. Andersheim gehörte nicht zu den Orten des herrlichen Rheins, an denen die leidige Eisenbahn zwischen Strom und Gärten dahinbraust; die nahm hier ihren Weg hinter dem Städtchen vorüber, und am Wasser, besonders vor Trautmanns Garten, war es noch ebenso idyllisch wie zu jener Zeit, als Schienen und Dampfwagen in das Reich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 647. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_647.jpg&oldid=- (Version vom 13.8.2022)