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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

präsentiert, die Ehrenschuld an Graf C. muß bezahlt werden. Bin ich Claires Gatte, so kommt alles in Ordnung, auch Du kannst dann auf mich rechnen. Die Verhältnisse hier stehen sehr schlecht, Papa hat unverantwortlich gewirthschaftet. Ich verlasse mich in

jedem Falle auf Dich und komme in wenigen Tagen.

Dein Maltiz.“  

Berry schüttelte verächtlich den Kopf. „Schurke!“ flüsterte er und ging hinaus in das Totenzimmer. Claire und die Mutter knieten vor der Leiche.

Trockenen Auges betrachtete Berry, den Brief in der Hand, die Züge des Geschiedenen, dann legte er sachte die Hand auf Claires Schulter.

„Komm’ einen Augenblick mit mir!“

Sie folgte ihm in das Nebenzimmer.

„Bist Du auf weitere schlimmere Botschaft gefaßt, die Dich vielleicht noch mehr erschüttern wird?“

„Auf alles!“ entgegnete Claire.

„So lies diesen Brief des Grafen – es muß sein!“

Claire nahm das Schreiben und las es; ruhig gab sie es zurück. „Sonderbar,“ sagte sie, zu Boden blickend, „eben als Du kamst, träumte ich so etwas mit offenen Augen. Es schien mir alles so lügenhaft, was ich in der letzten Zeit erlebte, diese ganze glänzende, ewig lachende, ewig glückliche Welt, ihre schönen Worte und Schmeicheleien, ihre Liebesbezeigungen – selbst dieses Totenantlitz draußen. O pfui der Heuchelei, in die man mich verstrickte!“ setzte sie mit plötzlich ausbrechender Heftigkeit hinzu.

„. . . ‚in die ich mich selbst verstrickte‘ – mußt Du sagen. Meine Absichten waren ganz andere, und der Graf hatte von Anfang an nicht mein Vertrauen. Du weißt, Otto täuschte die Hoffnungen, die ich auf ihn setzte. Die Berryschen Werke, die Arbeit meines Lebens und mein Stolz, sie hatten keinen Erben. Da blickte ich auf Dich . . . wenn Du einem Manne meines Schlages die Hand reichtest, so war er ja gefunden, der Erbe!“

Claire fuhr überrascht auf, sie horchte gespannt auf jedes Wort.

„Und wenn der Erwählte ein einfacher Mann der Arbeit gewesen wäre, von niedrigster Geburt – ich hätte den thörichten Hochmuth, der auch mich erfüllte, bezwungen.“

„Aber hätte sich denn überhaupt in unserer Umgebung ein Mann gefunden, wie Du ihn schilderst?“

„Ich fand ihn,“ erwiderte Berry. „Allein eben in unserer Umgebung voll glänzender trügerischer Aeußerlichkeiten mußte er mit seinem natürlichen Wesen in den Hintergrund treten, vielleicht sogar abstoßend erscheinen; trotzdem hoffte ich einige Zeit – ich hatte Gründe, zu hoffen. Aber bald sah ich ein, daß ich mich getäuscht – Maltiz, der blendende Kavalier, mußte ihn ausstechen. So kam es denn, wie es kommen mußte.“

„Und wer . . . wer war der Mann Deiner Wahl?“ fragte Claire leise, ihrer Erregung nicht mehr Meister.

„Hans Davis, das Arbeiterkind, der Findling, der Gespiele Deiner Kindheit, den wir einst wie eine Puppe Dir zu Weihnachten schenkten, der sich wie von einer unbekannten Macht getrieben immer höher emporschwingt."

Claire hatte gewußt, daß dieser Name kommen mußte, aber sie wollte aus dem Munde des Vaters ausdrücklich bestätigt erhalten, wie nahe sie ihrem Glücke gewesen, wie viel sie verscherzt hatte. Der Brief in ihrer Hand brannte wie Feuer, er war der wohlverdiente Lohn für den Leichtsinn ihres Herzens. Und doch trug sie denn wirklich alle Schuld, kam nicht der größere Theil davon Hans zu, der nicht den Muth besaß, um sie zu werben, der sie am Ende gar nicht liebte mit der Kraft, die den Muth verleiht. Ja, das war’s! Er liebte sie nicht! In qualvollem Kampf der Gefühle warf sie sich an die Brust des Vaters.

„Vater!“ schrie sie auf, und der Strom ihrer Thränen brach sich endlich Bahn, „Vater, Hans liebt mich ja gar nicht!“

Sanft legte Berry die Hand auf den Scheitel seines unglücklichen Kindes, dessen innerste Seele sich ihm eben enthüllt hatte. „Beruhige Dich, Claire, es kann ja noch alles gut werden. Und nun komm’, es ist jetzt keine Zeit zu solchem Gespräch!“

Eng aneinandergeschmiegt kehrten sie zu dem Toten zurück. –

Die Nacht senkte sich herab auf die Werke, rothe Gluthen wallten auf und ab über den schwarzen Dächern und den schlanken Kaminen, die hohen Bogenfenster der Werkstätten schienen lichterloh zu brennen – da huschte eine Frauengestalt über den verlassenen, von schwankenden Strahlen durchkreuzten Hof – Claire!

Es duldete sie nicht im einsamen Gemach, unwiderstehlich trieb es sie hinaus, dahin, wo das Tosen der Arbeit erscholl; in dem donnernden Aufruhr der Kräfte, der diese Hallen erfüllte, wollte sie Ruhe suchen vor dem Aufruhr in der eigenen Seele – ja Ruhe bei ihm, nach dessen Anblick ihr Herz mit ganzer Macht verlangte, dem sie ihren Schmerz klagen wollte wie ein Kind der Mutter. Aber wenn sie ihn fand, was dann? Hatte sie noch ein Recht an ihn, nachdem sie ihn freigegeben? Mußte er sich nicht der Freiheit freuen, da er sie doch nicht liebte, nicht lieben durfte . . . sie, die Braut eines anderen! Aber das war sie ja nicht mehr, sie verachtete, sie haßte den Grafen. Und ein bißchen Liebe hatte Hans in seinem treuen Herzen gewiß noch übrig für die Jugendfreundin. Hatte er nicht einst gesagt: „Ich würde für Sie sterben“?

So zuckte es in ihr auf und ab wie der glühende Dampf über den Werken. Bald blieb sie zögernd stehen, bald eilte sie raschen Schrittes vorwärts.

Aus der Kupferschmiede drang der betäubende Lärm der Hämmer, eine rothe Feuerstraße lief zu dem weiten offenen Thore heraus über den Hof. Sie wollte darüber wegeilen, da fiel ein breiter Schatten aus der Schmiede heraus – eine große Gestalt, im grellen Lichte, das von hinten kam, schwarz erscheinend, näherte sich von dort. Claire wankten die Knie. Wenn er es wäre! Sie konnte, sie durfte ihn nicht sehen, jetzt nicht, mit einer jähen Bewegung wandte sie sich zur Flucht. Aber Hans hatte sie schon erkannt und rief besorgt ihren Namen. Sie stutzte und hielt inne in ihrem wilden Laufe – mit ein paar Sprüngen war er an ihrer Seite, gerade zeitig genug, um die Wankende in seinen Armen aufzufangen.

Wortlos hielt er die halb Ohnmächtige einen Augenblick in seinen Armen, dann rief er besorgt: „Fräulein Claire, Sie sind krank ... der Schmerz um Ihren armen Bruder . . . o, ich begreife! Glauben Sie mir, ich fühle mit Ihnen. Und der, der Sie am besten trösten könnte, Ihr Bräutigam, ist fern, steht selbst an einem offenen Grabe ... Doch Sie sollten nach Hause, Fräulein Claire, jeden Augenblick können die Arbeiter aus den Fabriken kommen. Sie wollten wohl zu einem Kranken drüben in den Arbeiterwohnungen?“

„Zu einem Kranken? Ich will zu keinem Kranken, ich will nur zu Ihnen – ja, zu Ihnen, ich will nicht mehr lügen! Zu Ihnen, Hans, um Sie anzuklagen als falsch, als undankbar, als, was weiß ich . . . Sie drangen ihn mir auf, diesen elenden Maltiz . . . ‚er wird Sie glücklich machen,‘ das waren Ihre Worte. Er aber wollte nicht mich, sondern nur das Geld meines Vaters, das häßliche abscheuliche Geld – ich war ihm nur eine lästige Beigabe, und mein eigener Bruder verhandelte mich an ihn; ein Brief, den man bei Otto fand, verrieth alles. O, es ist schändlich, schändlich . . . und Sie wußten vielleicht darum und sahen geduldig zu, wie Ihre Claire – ja, undankbar, falsch haben Sie gegen mich gehandelt!“

Unaufhaltsam, sich überhastend, mit leidenschaftlicher Gewalt strömten die Worte wie ein Wildbach aus verborgenen Tiefen und Hans erblickte bebend in seinen Wellen das kostbare Kleinod, das er schon für immer versunken glaubte. Sein gestählter Arm zitterte unter der theuren Last.

„Falsch, undankbar – ich? Blicke um Dich!“ flüsterte er. „Kennst Du den Platz? Es ist derselbe, wo wir vor Jahren Abschied nahmen. Hier schlang sich Dein Arm um meinen Hals, hier blieb ich zurück, berauscht von meinem Glücke, als Du mit einem Kusse verschwunden warst im Dunkel, und seit dieser Zeit hatte ich nur einen Gedanken, ein Verlangen, Dich, Claire! Seit der Zeit liebe ich Dich – nicht mehr wie ein Freund, der Dir alles zu danken hat, nein, als Mann!“

Claire hatte gierig seinen Betheuerungen gelauscht, bei dem letzten Worte schnellte sie wie von einem Schlage getroffen empor und entwand sich seinen Armen. „Als Mann?“ rief sie schneidend. „O, wenn dieser Mann nur auch den Muth gefunden hätte, seine Liebe zu bekennen, um sie zu ringen . . . O, über diesen herrlichen Mannesmuth!“

Der Hohn Claires entzündete in Hans einen dumpfen Zorn, eine blinde Rücksichtslosigkeit, die ihn alle Vorsätze vergessen ließ. „Sie sollen nicht länger das Recht haben, einen Feigling in mir zu sehen! So hören Sie denn!“ Er trat dicht an sie heran.

„Mich kettet ein Verhängniß, das mich auf ewig von Ihnen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 658. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_658.jpg&oldid=- (Version vom 11.8.2022)