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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

alte Gartenhäuschen ihres Grundstücks zu kommen „in der neunten Stunde, wenn Papa in der ‚Traube‘ sitzt.“

Als Julia schon am Einschlafen war, so gegen elf Uhr, wurde sie durch ein Klirren an ihrem Fenster emporgeschreckt. Sie kannte des Bruders Gewohnheit von früher her, Kies an die Scheiben zu werfen, wenn er das Haus verschlossen fand. Sie kleidete sich rasch an und huschte die Treppe hinunter, um die Hausthür zu öffnen, in der stets der Schlüssel von innen stecken blieb – die Räthin wollte es so, weil dann die Dietriche der Diebe machtlos seien. Ueber die Schwelle trat Frieder.

„Ihr geht wahrhaftig mit den Hühnern zu Bett,“ scherzte er und schritt ganz leise, eine lustige Melodie summend, die Treppe hinan. „Gute Nacht!“ flüsterte er vergnügt droben im finsteren Flur und hielt die Schwester am Aermel fest. „Die Therese ist ein süßer Schatz, sag ich Dir; und Mädel, wenn die Hochzeit ist, schenke ich Dir ein Staatskleid, verstehst Du? Und nun sei gut und lieb zu meiner kleinen Braut und spiele Dich nicht als moralischen Richter über uns auf. Wenn Du erst einmal selbst einen liebst, wird Dir’s einleuchten, daß man vor solch altem Philister nicht gleich ‚kusch‘! macht und daß so was Heimliches auch sein Schönes hat. Aber ich glaube, Du Eiszapfen kannst Dir gar keine Vorstellung machen vom ‚Gernchaben‘. Gute Nacht und – Verschwiegenheit! Verstanden? Sonst geht die Sache in die Brüche.“

„Gute Nacht!“ sagte sie, und in ihrem Abendgebet hatte sie noch etwas mehr vom lieben Gott zu verlangen als sonst; daß er helfen möge, die beiden zusammenzuführen, daß er ihnen Kraft gebe, alle die Schwierigkeiten zu überwinden, und den Sinn des Vaters zur Nachgiebigkeit lenke.


Das Gesicht der Räthin hatte nie so von innerer Befriedigung geleuchtet wie in diesem unfreundlichen Spätherbst; während sie sonst dem Winter seufzend entgegenblickte, freute sie sich heuer über jedes welke Blatt, das der Sturm von den Bäumen nahm. Denn diesen ewigen Regengüssen und Stürmen verdankte sie theilweise den Sonnenschein in ihrem Gemüth.

Die ältesten Leute im Städtchen konnten sich kaum auf einen so unfreundlichen Herbst besinnen, Grippe und Gicht standen in Blüthe, und Kinderkrankheiten traten epidemisch auf; die Schelle des jungen Herrn Doktors ward den ganzen Tag gezogen, und mit wichtiger Miene notierte Frau Minna die Namen der Hilfesuchenden auf der Schiefertafel an der Stubenthür des Sohnes.

Als hätte sie die größte Glückseligkeit zu verkünden, so strahlend trat sie dann ihrem Fritz entgegen, der naßgeregnet und müde heimkam, um ihm zu verkünden, daß er sich beeilen müsse, denn Fabrikbesitzer Lindemann habe wahrscheinlich einen Schlaganfall, und die Kinder des Gymnasiallehrers seien nun glücklich auch samt und sonders mit allen Zeichen des Scharlachs ins Bett gesteckt worden, und Schuster Märtes alte Mutter stöhne unter ihrem Herzkrampf.

„Es geht nicht mehr so,“ erklärte der junge Arzt eines Tages, als infolge der Erkrankung des Doktor Kortum die Anforderungen wuchsen und wuchsen. „Es geht nicht mehr, ich kann’s nicht schaffen, die ganze Praxis des Onkels Kortum mit zu versehen, wenn ich um jedes geschwollene Gesicht, um jeden Bonbonhusten elne Krankenvisite machen muß. Ich will mir Sprechstunden einrichten, die Leichtkranken müssen zu mir kommen.“

„Das wird gut sein,“ gab die Mutter zu. „Ja, Fritz, das hättest Du selbst nicht gedacht, daß Du in solcher Schnelligkeit der beliebteste Arzt hier werden würdest!“

„Nun, das ist der Reiz des Neuen,“ antwortete er ausweichend und ging in sein Zimmer, um eine Anzeige für das Wochenblatt zu verfassen„ die den Bewohnern von Andersheim mittheilen sollte, daß Doktor Roettgers Sprechstunden von acht bis neun früh und von drei bis vier nachmittags stattfinden, Sonntags und Mittwochs neun bis zehn Uhr unentgeltlich für mittellose Kranke.

Nun saß die Räthin jeden Morgen und jeden Nachmittag hinter den Gardinen ihrer Wohnstube am Fenster und zählte die, die „mühselig und beladen“ zu ihrem Fritz kamen.

Und wahrhaftig, eine noble Kundschaft schritt über den alten Hof in die geöffnete Hausthür, um sich Rath zu holen, sogar aus den allerersten Familien, Mütter mit ihren jungen Töchtern und die jungen reichen Fabrikantenfrauen mit ihren Kindern, denn Fritz hatte den Ruf eines tüchtigen Kinderarztes im Umsehen errungen; und selbst die schöne räthselhafte Witwe, die aus Rußland sein sollte und in ihren schwarzen Kreppschleier förmlich eingewickelt schien, kam eines Tages, und die Räthin erschrak beinahe vor der Schönheit dieses marmorblassen Gesichtes. „Gott behüte ihn,“ sagte sie für sich, „daß er sich nicht in so etwas verliebt, das nichts hat und nichts ist!“

Am liebsten hätte sie sich drüben ins Wartezimmer gesetzt und ein wenig geschwatzt mit all den Kranken, allein das wagte sie nicht, selbst dann nicht, als ihre beste Freundin, die Frau Bürgermeister, erschien in Begleitung ihrer Köchin, die einen schlimmen Finger mitbrachte. Eines Tages aber kam der Sohn ihrem Herzenswunsch entgegen.

„Mutter,“ sagte er, „mach’ Dir doch zuweilen ’mal während der Sprechstunde etwas im Wartezimmer zu schaffen; erstlich werden sich dann die Leute genieren und sich nicht gegenseitig zum Fürchten bringen mit den haarsträubendsten Krankengeschichten, und fürs zweite unternehmen auch die lieben Sprößlinge in Deiner Gegenwart nicht wieder Attacken auf mein Mikroskop und sonstige Apparate.“

Die Räthin holte sich am andern Morgen ihre Staatshaube aus dem Kasten und zog ihr „gutes Schwarzwollenes“ an, band die seidene Schürze vor und präsidierte mit stolz geröthetem Gesicht im Vorzimmer ihres Sohnes. Leider erfaßte sie die Aufgabe mit ihrer vielgerühmten Offenheit und Energie. Die junge Frau Amtmann, die auf Befragen der Räthin stockend erklärte, daß sie gar so viel huste, bekam den Trost, daß ja ihre beiden älteren Schwestern auch in ihrem Alter angefangen hätten zu husten und danach so bald an der Schwindsucht gestorben seien. „Und wenn ich Ihre Mutter gewesen wäre, junges Frauchen,“ schloß die würdige Dame, „ich hätt’ Ihnen nie das Heirathen erlaubt, sondern hätt’ Sie aufgeladen und wär’ mit Ihnen nach dem Süden gegangen.“

Der armen kleinen Frau schossen die Thränen in die Augen. Sie liebte das Leben, sie liebte ihren Mann und ihren dicken Säugling so sehr, und als sie nachher vor dem jungen Arzte saß, schüttelte den zarten Körper ein Weinkrampf, und unschwer holte Fritz heraus, was für einen Trost seine Mutter da draußen gespendet habe. Und kaum war er im Begriff, die einigermaßen beruhigte Kranke zu untersuchen, so gellte im Vorzimmer ein so fürchterliches Kindergeschrei, daß er erschrocken hinausstürzte.

Da hatte seine Mutter den fünfjährigen Knaben eines Bahnbeamten auf dem Schoße, der mit blassem furchtverzerrten Gesicht hinunterstrebte und dabei ein Angstgebrüll ausstieß.

„Allmächtiger Gott, was ist denn los, Mutter?“ fragte er.

„Der dumme Bub’ hat mir sein bös Fingerchen zeigen müssen, und da hab’ ich aus Scherz gesagt, Du thätest ihm nachher mit so einem langen Messer das Nägelchen ausschneiden, weil es doch nur vom zuvielen Birnenessen gekommen sei,“ berichtete sie ärgerlich.

Der Doktor schüttelte den Kopf und hatte Mühe, den kleinen Burschen zu besänftigen. Frau Minna aber machte ob des Kopfschüttelns eine beleidigte Miene, sagte noch einmal etwas von einem „dummen Bub’“ und verschwand; es war ohnehin heute nichts Interessantes mehr da.

Gegen Abend hatte sie ihr verunglücktes Debüt schon vergessen; sie hantierte in des Sohnes Zimmer umher, wo sie ihm ein besonders fein gesticktes Faltenhemd zurechtlegte neben den eigenhändig gebürsteten Frack; sie wollte heute Staat machen mit ihm, denn der erste Kasinoball fand statt. Die alte Dame selbst trug zu dem Morgenrock bereits die Gesellschaftshaube, die mit großen goldenen Nadeln auf dem grauen Haare befestigt war.

„Hoffentlich ruft Dich niemand heute ab,“ sagte sie; „es sieht zwar nach etwas aus, wenn Du so recht eilig vom Tische fortgeholt wirst, aber es wär’ mir doch schade um die Lackstiefel in dem Regenwetter.“

Er schielt nicht in rosigster Laune und antwortete ganz obenhin, während er sich erschöpft aufs Sofa warf. Die Mutter aber nahm die Zeit wahr, die ihr bis zum Beginn der Toilette noch blieb, und indem sie ihrem Fritz eine Tasse Kaffee eingoß, versuchte sie noch einmal, sich wegen heute früh zu rechtfertigen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 686. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_686.jpg&oldid=- (Version vom 19.3.2023)