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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Frankfurt a. M. Unter den Schülern mit fehlerhafter Handschrift, die ihm zugewiesen wurden, befanden sich auch solche, die, ohne es zu wissen, mit den Anfängen des Schreibkrampfes behaftet waren. Diesen Bedauernswerthen war auf dem gewöhnlichen Wege des Schreibunterrichts nicht zu helfen, und der Lehrer sah sich darum nach anderen Hilfswitteln um. Er begann den Schreibkrampf zu studieren und fand sich durch den Gegenstand bald derart gefesselt, das er ihn zu seinem besonderen Studium erhob. Durch Rücksprache mit Aerzten, durch den Besuch von anatomischen und physiologischen Vorlesungen wußte er sich die nöthigen Kenntnisse über den Bau der Hand und ihre Funktionen zu erwerben. Bald war ihm die Bedeutung eines jeden Bandes, Muskels und Gelenkes klar; er vermochte mit Bestimmtheit zu erkennen, welche Muskelgruppen und in welcher Art sie bei verschiedenen Formen des Schreibkrampfes erkrankt waren, und auf dieser umfassenden wissenschaftlichen Grundlage baute er seine Behandlung des Schreibkrampfes vermittelst Massage und Gymnastik auf, mit der er denn auch bald in rascher Folge zahlreiche Heilungen erzielte.

Das Verfahren Wolffs bildet kein Geheimniß. Es beruht auf aktiver und passiver Gymnastik der Beuge- und Streckmuskeln der Hand, des Unterarmes, sowie der ganzen Muskulatur des Oberarmes, und auf Massage der gleichen Körpertheile. Nach einiger Zeit werden eigenthümliche elementare Schreibübungen angestellt. Während der Kur, die etwa zwei bis drei Wochen dauert, werden täglich drei Sitzungen zur Ausübung der Massage und Gymnastik abgehalten.

Wenn somit die Grundlagen der Wolffschen Behandlungsart jeder Arzt leicht erfassen kann, so verhält es sich mit der Ausübung derselben ganz anders. Diese muß jedem Krankheitsfall genau angepaßt werden; vor allem müssen die wirklich erkrankten Muskeln erkannt und in besonderer Weise der Massage und Gymnastik unterworfen werden. Dazu gehören aber reiche Erfahrung, genaue Kenntniß der vielseitigen Erscheinungen des Schreibkrampfes und ein gewisses natürliches Geschick. Wie viele Nachfolger Julius Wolff auch gefunden hat, er ist auf diesem Gebiet der Meister geblieben. Treffend und offen äußerte sich darüber Prosessor Nußbaum: „Obwohl Herr Wolff aus seiner Methode kein Geheimniß macht und selbe jedem wißbegierigen Arzte erklärt, so hat sie ihm doch niemand noch mit gleichem Erfolg nachgemacht. Man kann wirklich sagen, die guten Heilresultate des Herrn Wolff beruhen auf seiner persönlichen Uebung und Geschicklichkeit. Er weiß jene Muskelgruppen, die der stärkenden Gymnastik bedürfen, genauer zu fixieren als unsere minutiösesten Elektrotherapeuten.“

Die Heilerfolge Wolffs beziehen sich, wie wir bereits angedeutet haben, nur auf diejenigen Fälle von Schreibkrampf, bei welchen keine Störungen in den Centralorganen vorliegen. Wie erfreulich die Errungenschaften Wolffs an und für sich waren, ein Umstand war doch betrübend: nur verhältnißmäßig wenige Kranke konnten der Wohlthat der neuen Behandlungsart theilhaftig werden.

Um diesem Uebelstand abzuhelfen, hat Wolff beschlossen, zu Frankfurt a. M. eine Anstalt zu errichten, in welcher Unbemittelten, die von Aerzten empfohlen sind, unentgeltliche Behandlung zu theil wird. In kurzer Zeit hofft er es mit Hilfe edeldenkender wohlthätiger Menschen dahin zu bringen, daß Unbemittelten, die mit der Nadel, der Feder, dem Pinsel oder musikalischen Instrumenten etc. ihr Brot verdienen müssen, neben kostenfreier Behandlung auch freier Aufenthalt in der Anstalt, wenn möglich auch freie Reise zu theil wird. Man kann dieses Vorhaben nur mit Freuden begrüßen; denn abgesehen von der unmittelbaren Hilfe, die eine solche Anstalt den Kranken bringt, würde sie auch Aerzten, die sich in der heilgymnastischen Behandlung des Schreibkrampfes unterrichten möchten, reiche Gelegenheit hierzu bieten. –

Giebt es denn nun nicht auch Mittel, die Entstehung des peinlichen Leidens von vornherein zu verhüten?

Man behauptet, daß in früheren Zeiten nur wenige Menschen am Schreibkrampf erkrankt seien, und führt dessen Ausbreitung auf verschiedene Gründe zurück. Die einen meinen, er werde erst seit der Einführung der Stahlfeder in grÖßerem Maße beobachtet, andere wieder glauben, daß er eine Theilerscheinung der allgemeinen, unter den Menschen immer häufiger auftretenden Nervosität sei.

Ohne Zweifel dürften Uebermüdung und eine besondere nervöse Veranlagung des Körpers bei der Entstehung des Schreibkrampfes eine wichtige Rolle spielen. Der einseitige übermäßige Gebrauch einzelner Muskelgruppen muß schließlich die Harmonie in der Gesammtmuskulatur der Hand und des Armes stören. Namentlich hat sich oft eine fehlerhafte Federhaltung, unzweckmäßige Schreibart als die Quelle des Uebels herausgestellt. Andererseits lehrt uns die Erfahrung, daß in vielen Fällen bei der Entstehung des Krampfes noch etwas anderes mitwirkt, eine besondere persönliche Anlage. Das Ueberspringen des Krampfes von der rechten auf die linke Hand und viele andere Erscheinungen weisen darauf hin, daß die Kranken oft an einer nervösen Ueberempfindlichkeit des ganzen Organismus leiden. Julius Wolff selbst betont, daß er seine Heilerfolge außer der Gymnastik auch der seelischen Beeinflussung des Patienten verdanke; indem er dessen Aufmerksamkeit von dem kranken Punkte ablenkt, setzt er die Uebungen so lange fort, bis der Kranke, ohne es zu wissen und ohne es zu wollen, sich an die zweckmäßigen Bewegungen gewöhnt hat. Schließlich betont er, daß eine bleibende Heilung von der Fortsetzung der auch nach der Kur noch nothwendigen gymnastischen Uebungen abhängt. –

Diese Erfahrungen geben uns wichtige Fingerzeige für die Verhütung des Schreibkrampfes oder wenigstens der häufigsten Form desselben. Die Bekämpfung der Nervosität in ihrer allgemeinen Anlage ist schon aus hygieinischen Gründen geboten. In unserem Falle ist aber der schwache Punkt, die Hand, besonders zu schützen

Trotz aller Lobreden, die auf die Hand, das Werkzeug aller Werkzeuge, gehalten werden, geschieht verhältnißmäßig wenig zu ihrem gesundheitsgemäßen Schutze, und die Lehre von einer derartigen Pflege steckt noch in den Anfängen. Wenn über die Hygieine der Hand geschrieben wird, so beschränken sich die Verfasser zumeist auf kosmetische Rathschläge, während es doch unsere Aufgabe sein sollte, die Hand nicht nur schön, sondern auch leistungsfähig zu erhalten. Als in Deutschland die steigende Zunahme der Kurzsichtigkeit bemerkt wurde, ging man daran, Maßregeln für den Schutz der Augen unserer Jugend zu treffen; sicher wird auch für die Hygieine der Hand mit dem fortschreitenden Wissen mehr gethan werden. Beim Schreib-, Näh- und Musikunterricht verdient die Haltung der Hand eine besondere Berücksichtigung. Und namentlich wo diese Thätigkeiten berufsmäßig ausgeübt werden, wird immer eine einseitige Ueberanstrengung hervorgerufen werden; sobald man nun eine solche Uebermüdung spürt, sollte man für Stärkung und gleichmäßige Ausbildung seiner Ernährerin besondere Sorge tragen.

Wie die Gymnastik sich als ein Mittel gegen den ausgebrochenen Krampf erweist, so ist sie auch geeignet zur Verhütung desselben. In der trefflichen „Haus-Gymnastik für Gesunde und Kranke“ von E. Angerstein und G. Eckler (Berlin, Th. Chr. Fr. Enslin) heißt es in betreff einiger Fingerübungen:

„Sie werden theils durch die am Unterarm liegenden Beuge- und Streckmuskeln der Finger, theils durch die Muskeln der Hand hervorgebracht. Sie üben diese Muskeln und sind besonders nützlich beim Schreibkrampf, aber auch bei veitstanzartigen Zuckungen anzuwenden. Nach ermüdender Thätigkeit der Hände (durch Schreiben Zeichnen Nähen u. dergl.) sind sie sehr geeignet, die Muskeln der Hände schnell zu erfrischen und zu beleben.“[1]

Wir haben aber im Vorhergehenden erfahren, daß die Erscheinungen der krampfartigen Erkrankung sich auch über andere Muskelgruppen erstrecken, daß auch die Muskeln des Oberarmes und der Schulter in Mitleidenschaft gezogen werden und so sind zur harmonischen Ausbildung und Erhaltung der Leistungsfähigkeit der Hand überhaupt alle jene hausgymnastischen Uebungen am Platze, welche die Armmuskulatur stärken. Näheres darüber findet der Leser in dem Abschnitt „Arm- und Handübungen“ des genannten Buches.

Krankheiten verhüten ist leichter als Krankheiten heilen. Möchten doch alle diejenigen, welche ihre Handfertigkeit zum Lebensunterhalt brauchen, diese Wahrheit beachten! C. Falkenhorst.     


  1. Ein nützliches Büchlein auf diesem Gebiet ist auch die kleine Schrift von Therese Focking „Fingerspiele und Handgymnastik“ (Berlin, L. Oehmigke).

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 690. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_690.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2023)