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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Und Sie sind dieser Freund, Hans, sind es von jeher gewesen. Sie haben sich aus falscher Bescheidenheit zurückgezogen von Claire, seit sie die Verlobte des Grafen war. Ich wunderte mich bei Ihrer sonstigen Energie, Ihrem Selbstbewußtsein, daß Sie so willig in den Schatten traten.“ Sein Blick ruhte forschend auf Hans. „Oder hatten Sie einen anderen zwingenden Grund?“

„Ja, ich hatte einen solchen Grund,“ erwiderte Hans fest.

„Und welchen? Ich verlange Offenheit, verlange Wahrheit nach so vieler Lüge, die ich erfahren.“

Hans fühlte, jetzt war die Zeit gekommen, die Last abzuwerfen, jetzt oder nie! Entschlossen begann er: „Ich liebe Claire –“

„Und fanden den Muth nicht, diese Liebe zu gestehen?“

„Ich hatte den traurigen Muth, dies zu thun, gestern hatte ich ihn. Aber ich fand nicht die Kraft, zugleich zu gestehen, warum ich so lange zögerte, warum dieser Muth eine Feigheit, ein Verbrechen ist, selbst jetzt noch, wo ich weiß, daß Claire mich liebt.“

Berry machte eine hastige Bewegung, die höchste Erregung malte sich in seinen Zügen.

„Aber jetzt will ich alles gestehen, rückhaltlos. Mein Vater – er ist nicht bloß ein armseliger Arbeiter, er ist … ein Verbrecher, ein Dieb, auf den die Polizei fahndet, der Sklave eines Genossen im Verbrechen, dessen Schweigen ich bezahle, der jede Stunde meinen Namen öffentlich brandmarken kann. Ich war zu feig, offen zu bekennen, und zu schwach, zu verzichten, so war ich nahe daran, den Frieden Ihrer Tochter, Ihrer Familie nicht weniger aufs Spiel zu setzen als dieser Graf. Ich wollte schweigen, mein Glück heimtückisch rauben, das Stillschweigen dieses Schurken weiter erkaufen. Jetzt wissen Sie alles, auch daß ich nicht der Mann bin, den Sie suchen.“

Berry schwieg, als Hans geendet hatte. Der Wagen fuhr schon durch die Allee, die zur Villa führte, an der Stelle vorbei, wo einst Marie Davis den Tod gefunden hatte.

„Und Claire liebt Sie also? Sie gestand Ihnen, daß Sie ihr Herz besitzen?“ fragte Berry nach einer Weile.

Hans nickte stumm.

„Wo, wann that sie das?“

„Gestern Abend. Sie wollte einen Krankenbesuch machen, da traf ich sie auf dem Fabrikhof.“

Berrys Gesicht verrieth keine Ueberraschung. „Sie haben ihr keinerlei Andeutungen über den wahren Sachverhalt gemacht?“

„Ich wollte ihr alles sagen, allein ich konnte es nicht. Nur von einem Verhängniß sprach ich, das zwischen uns liege. Heute noch aber wollte ich reden.“

„Das ist schlimm, daß Sie so gesprochen haben,“ entgegnete Berry, in dem ein Plan zu reifen schien. „Jedenfalls darf Claire nicht mehr erfahren, ich mache Ihnen das zur Pflicht. Verzichten Sie darauf, meine Tochter heute noch zu sehen, Ihr Geständniß abzulegen; ich werde Claire darüber verständigen. Wozu einen düsteren Schatten werfen auf ihr ganzes künftiges Leben und sie unnütz beschweren?“

„Unnütz beschweren, jetzt unnütz, das sehe ich ein,“ wiederholte Hans tonlos. „Seien Sie außer Sorge, ich werde Fräulein Claire nicht sprechen. Ich verlasse heute noch Ihr Haus, die Stadt –“

„Sie bleiben!“

„Unter Claires Augen, ohne Hoffnung – unmöglich, für mich und Claire unmöglich!“

„Sie bleiben!“ klang es noch befehlender.

In Hans regte sich ein Gefühl der Empörung über diesen kurzen Befehl, die einzige Antwort, die ihm auf die Enthüllung seiner Qualen geworden. Das war wieder der alte harte Berry! Schon lag ein herbes Wort auf den Lippen des jungen Mannes, da hielt der Wagen vor der Villa, Berry öffnete den Schlag. „Glauben Sie denn, ich opfere zum zweiten Male das Glück meines Kindes?“ sagte er beim Aussteigen. „Kommen Sie morgen früh acht Uhr auf mein Bureau, ich will doch sehen, ob ich mit Ihrem ‚Verhängniß‘ nicht fertig werde!“ Mit herzlichem Drucke reichte er Hans die Hand und eilte die Treppe hinauf.

Sprachlos, fassungslos blieb Hans zurück. Er wiederholte die letzten Worte Berrys, zerlegte sie, forschte nach einem verborgenen räthselhaften Sinne – aber wie er sie auch wendete, sie waren nicht mißzuverstehen, sie bedeuteten die Erfüllung seiner Wünsche! Die Fesseln, an denen er vergeblich seit Jahren gezerrt, sie sollten fallen wie durch ein Wunder. Frei sollte er sein und frei werben dürfen um Claire! Wie betäubt von all den Eindrücken eilte er in seine Wohnung – er mußte allein sein mit seinem Glücke!

Es waren selige Stunden, die er in der Stille seines Zimmers verträumte, indem er sich mit glänzenden Farben seine Zukunft ausmalte, und doch konnte er nicht recht froh werden dabei. Was war es nur, was im tiefsten Grunde seiner Seele sich regte und eine reine Freude nicht aufkommen lassen wollte? Er hatte doch nun nichts mehr zu fürchten, weder den Vater noch diesen Holzmann … Ein Schauer überlief seinen Körper. Daß er das hatte vergessen können, dieses verdächtige „Geschäft“! Warum hatte er dem Kommerzienrath nicht wenigstens ein Wort der Warnung gesagt! Wenn es schon begonnen hätte, das Verbrechen, wenn es eben jetzt beginnen würde!

Der Angstschweiß trat ihm auf die Stirn. Er lachte sich aus, schalt sich einen Träumer, einen Grillenfänger, der das alles zu seiner eigenen Qual erfinde – er arbeitete nicht mehr, wie es sein Körper früher gewohnt war, das viele Studieren, das ständige Sitzen und Grübeln machte das Blut schwer, das war es! Aber die Unruhe wollte nicht weichen. Endlich ertrug er es nicht länger, er eilte hinaus in die Nacht, fort in den Park, sich wie ein Dieb in den Schatten der Hallen drückend.

Leise schlich er um die Villa herum. Kein Licht brannte mehr, auch bei Claire nicht.

Die Nacht war finster, nur schwach hoben sich die Umrisse des Hauses gegen den Himmel ab. Er horchte gespannt – kein Laut! Erleichtert athmete er auf und wollte sich schon entfernen – da zuckte ein schmaler Lichtstreif blitzartig über das Gerüst, nur einen Augenblick, dann war wieder alles dunkel wie zuvor. Er wartete – nichts regte sich. Also Einbildung seiner erregten Phantasie! Da – wieder zuckte es auf! Es kam vom ersten Stockwerk von rechts; auf der linken Seite lagen die Zimmer der Berryschen Familie, rechts waren gegenwärtig die Bureaus und die Kassenräume untergebracht, da das Erdgeschoß umgebaut wurde. So leise als möglich schlich er sich an das Gerüst, ein schwaches Geräusch drang von oben herunter. Mochte es sein, was es wollte, er durfte nicht länger zögern! Entschlossen stieg er die Leiter empor. Da knarrte ein Brett – einige Schritte vor ihm, dicht neben den Fenstern des Kassenraums, schien sich etwas zu bewegen.

„Wer da?“ flüsterte Hans.

Keine Antwort, der dunkle Punkt stand regungslos still und verschwand dann plötzlich in der Nacht. Mit einem Sprung stürzte Hans nach vorwärts. Ein leises Zischen ertönte, eine dunkle zusammengekauerte Gestalt erhob sich vor ihm und huschte gegen die nächste Leiter. Mit einem Griffe hatte er sie erfaßt. Der Fremde rang lautlos mit seinem Angreifer, umfaßte ihn schlangengewandt und suchte ihn gegen den Rand des Gerüsts zu drängen. In diesem Augenblick zuckte wieder der Lichtstrahl aus, er traf gerade die Kämpfenden. Ein unterdrückter Aufschrei ertönte aus zwei Kehlen – Hans hatte Holzmann erkannt, dieser ihn.

„Laß’ los!“ keuchte der Verbrecher unter der Umklammerung des Gegners. „Er ist ja bei der Arbeit da drinnen – Narr!“

„Wer – der Vater?“ Ein betäubender Schreck durchzuckte Hans, unwillkürlich erlahmte der eiserne Griff seiner Hände.

Holzmann ersah blitzschnell den Vortheil und rückwärts geneigt riß er sich mit der Kraft der Verzweiflung los. Aber die Wucht war zu groß, er verlor das Gleichgewicht, taumelnd griff er nach einer Stange des Gerüsts, doch ohne sie zu erhaschen … ein Schrei, und er stürzte in die Tiefe.

Athemlos lauschte Hans. Da flüsterte eine wohlbekannte Stimme hinter ihm: „Für Dich, Hans, für Dich wollte ich’s thun – verzeih’, wenn Du kannst! Und nun leb’ wohl, ich geh’ übers Wasser!“

Hans wandte sich um – ein dunkler Körper sprang zurück und schwang sich an einem Stützbalken des Gerüstes hinab … der Vater!

Im linken Flügel wurde es hell, ein Fenster öffnete sich, es war das Claires. Sie beugte sich heraus und horchte ängstlich.

Hans bewegte sich nicht, sein Gehirn versagte den Dienst, er wußte nicht mehr, was thun.

Da tönte vom Hofe her ein lautes Stöhnen – Claire rief entsetzt um Hilfe.

Nun eilte Hans am Haus entlang, auf Claire zu. „Um unserer Liebe willen, sei still, Claire! Es ist keine Gefahr mehr … ich hörte Verdächtiges … ein Einbrecher … wir rangen und er stürzte hinab!“ brachte er athemlos hervor.

„Hilfe, Hilfe … haltet den anderen, den alten Davis . . . er hat’s nicht besser verdient als ich!“ klang es in diesem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 694. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_694.jpg&oldid=- (Version vom 12.8.2022)