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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

in der That die letzten Bücher des Mayavolkes, die dem spanischen Autodafé entgangen waren; nur drei sind im ganzen erhalten, davon eines in Deutschland, auf der königlichen Bibliothek zu Dresden, die sogenannte Dresdener Mayahandschrift.

Seitdem hat die Erforschung dieser Alterthümer bedeutende Fortschritte gemacht. Das Land ist nach allen Richtungen hin durchsucht, die großen Gebäude sind photographisch aufgenommen, die Bildsäulen, Reliefs und Inschriften in Gipsabgüssen vervielfältigt. Daß sich die architektonischen Reste den antiken Baudenkmälern der Alten Welt wohl an die Seite stellen können, mögen einige Maßangaben zeigen. Der große Palast in der Trümmerstadt Uxmal ist 98 m lang, der zu Palenque steht auf einer künstlichen Terrasse von 12 m Höhe, 95 m Länge und 79 m Breite, seine Front selbst mißt 70 m. Die mächtigen Gebäude sind leider dem sicheren Untergang geweiht. Während Aegyptens trockenes Klima der Erhaltung der dortigen Baudenkmäler außerordentlich günstig ist, wirken in Centralamerika die heiße feuchte Luft, die gewaltigen Regengüsse und die üppige Vegetation als unwiderstehliche Zerstörungsmittel.

Ueber das Alter dieser Reste läßt sich nichts Bestimmtes sagen. Daß zu den Zeiten der Eroberung, also am Anfang des 16. Jahrhunderts, schon manche der Städte verschollen im Urwald gelegen haben, scheint sicher, andere waren aber auch damals noch bewohnt. Ebenso unbekannt ist der Ursprung und die frühere Geschichte dieser Kultur. Ueber dem allem liegt ein undurchdringliches Dunkel.

Ganz besondere Aufschlüsse hat nun die Wissenschaft in neuester Zeit dadurch gewonnen, daß man angefangen hat, die Hieroglyphenschrift, in der die oben erwähnten drei Handschriften und die Steininschriften verfaßt sind, zu entziffern. Es ist erklärlich, daß man hier die wichtigsten Enthüllungen erwartet. Betheiligt haben sich an diesen Forschungen, die in den letzten Jahren gerade in Deutschland besonders gefördert worden sind, Professor Förstemann in Dresden, der berühmte Germanist und Verfasser des „Altdeutschen Namenbuches“, der als Leiter der Dresdener Bibliothek die dortige Mayahandschrift zum ersten Male in zuverlässiger Wiedergabe veröffentlichte, ein Werk, das trotz seiner Kostbarkeit kürzlich sogar die zweite Auflage erlebt hat – ferner Dr. Seler und der Verfasser dieser Zeilen in Berlin. Freilich rückt die Arbeit nur langsam vor, sie ist bei dem geringen Material unendlich schwieriger, als es seiner Zeit die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen war, bei der eine doppelsprachige Inschrift und überreiches Material zu Gebote stand. Die „Mayaforschung“ hat keine solchen Hilfsmittel, und dennoch hat sie auf ihrem mühsamen und fast hoffnungslos schwierigen Wege schon manches erreicht.

Die Zahlen von 1 bis 15 nach dem Zahlensystem der Mayas.

Es ist ein Blick in eine fremde, ferne Geisteswelt, der sich damit eröffnet, eine Geisteswelt, so wunderbar wie keine zweite auf der Erde. Nur ihre letzten kärglichen Reste werden jetzt dem jahrhundertelangen Schlummer durch die Wissenschaft entrissen, und dennoch erstaunen wir über manches Bekannte und uns ganz Geläufige, wir sehen, daß dem Menschengeist auf der ganzen Erde etwas Gemeinsames innewohnt; Dinge und Vorstellungen kehren hier wieder, die wir bei fernen, durch große Meere getrennten Völkern kennen, gemeinsame „Völkergedanken“, wie der große Ethnologe Bastian sie genannt hat, und mehr als das: Menschheitsgedanken. Früher galten solche Uebereinstimmungen als Beweise für phantastische Theorien über die Beziehungen weit voneinander entfernter Völker der Erde, und noch heute scheint es fast ein wissenschaftliches Dogma zu sein, daß eine Kultur im Lande selbst nicht entstehen kann, sie muß stets von irgendwo anders hergekommen sein. Wenn solche Vorstellungen früher ihren Grund hauptsächlich in dem Bestreben hatten, den Ursprung der Menschheit der biblischen Ueberlieferung entsprechend möglichst auf eine Stätte zurückzuführen, so wird man jetzt, nachdem dieser Grund nicht mehr maßgebend ist, allmählich auch wohl die Uebertreibungen jener Vorstellung aufgeben müssen. Es liegt gar keine Veranlassung vor, anzunehmen, daß die alte Kultur Amerikas von anderswoher eingewandert sei, und alle Versuche, sie von den Chinesen, Japanern, Indiern, Chaldäern etc. herzuleiten, sind nichts als phantastische Hypothesen.

Die Mayas, die Träger jener alten Kultur der Halbinsel Yucatan, waren nun – und das haben besonders die Entzifferungen des Professors Förstemann erwiesen – ein Volk von außerordentlicher mathematischer Begabung. Sie besaßen ein kunstvolles Zahlensystem, das in ihrer sehr verwickelten und scharfsinnigen Zeitrechnung eine große Rolle spielte. Während unser Zahlensystem sich auf der 10 aufbaut, als der Anzahl der Finger, gingen die Mayas wie viele andere Völker von der Anzahl der Finger und der Zehen aus und legten die Zahl 20 ihrem System zu Grunde. Spuren solcher Zählung sind im Französischen noch zu finden: quatre-vingt ist 4 mal 20 = 80. Bis 5 drückten die Mayas die Zahlen durch Punkte aus, Vielfache von 5 durch Striche, so bedeutet z. B. ... die Zahl 13. Zahlen über 20 wurden durch mehrstellige Zahlzeichen gebildet, ganz wie wir dies thun, aber nicht durch Nebeneinander-, sondern durch senkrechte Uebereinanderstellung der Zeichen. Wie in unserem Zahlensystem die Zahlen von links nach rechts Vielfache von 10 darstellen, so bedeuteten bei den Mayas (von einer mit der Zeitrechnung zusammenhängenden Ausnahme in der 3. Stelle abgesehen) übereinandergestellte Zahlen Vielfache von 20; es wurde z. B. 149 geschrieben durch eine 9 und darüber eine 7, d. h. 7 Zwanziger = 140 und 9 Einer = 9. Dieses System, das mit unserem viel Aehnlichkeit hat, erforderte natürlich auch ein Zeichen für die Null. Und in der That besaßen die Mayas, wie Professor Förstemann vor einigen Jahren entdeckte, ein solches! Man vergleiche damit die ungeschickten und zum Rechnen ganz unbrauchbaren Zahlzeichen der alten Römer! Zudem fehlte den Römern ein Zeichen für die Null gänzlich, ein Beweis, daß ihnen die alten Mayas an mathematischer Begabung entschieden überlegen waren. Ja selbst die von uns angenommenen arabischen Zahlzeichen stehen in Bezug auf Anschaulichkeit und praktische Brauchbarkeit hinter denen der Mayas zurück.

So konnten die alten Bewohner Yucatans ganz leicht hohe Zahlen ausdrücken, und in den drei Mayahandschriften, die sich sämmtlich auf die Zeitrechnung und auf den Kalender beziehen, spielen solche hohe Zahlen eine große Rolle. Auf manchen Seiten stehen nur Zahlen von mehreren Millionen! Man kann sie alle lesen und, da sie nach bestimmten, erkennbaren Gesetzen aufeinander folgen, sogar nachweisen, wo sich der Schreiber bei seinen schwierigen Berechnungen geirrt hat! An vielen Stellen sind solche Fehler mit rother Farbe korrigiert; offenbar hat ein Vorgesetzter des Schreibers, vielleicht ein Oberpriester, die Arbeit desselben geprüft.

Was bedeuten nun aber diese räthselhaften Reihen von hohen Zahlen? Welches Geheimniß birgt sich hinter ihnen? Man hat astronomische Angaben und Berechnungen darin vermuthet, und in der That zeigen einige derselben eine auffallende Uebereinstimmung mit gewissen Zahlenwerthen, die sich auf den scheinbaren Umlauf der Venus, das Venusjahr in seinem Verhältniß zum Erdjahr, beziehen. Sind das nicht im höchsten Grade wunderbare Ueberbleibsel jener alten fremdartigen Kultur einer fernen Welt, jener verschollenen Geistesarbeit eines merkwürdigen Volkes, dessen Geschichte sich in Dunkel hüllt und dessen Entdeckung durch die Europäer zugleich sein Untergang für immer wurde?!

So bemüht sich jetzt, nach vierhundert Jahren, die wissenschaftliche Forschung, den Schleier zu heben von der uralten Entwicklungsgeschichte des amerikanischen Menschen, und während seine entarteten Nachkommen im heutigen Yucatan mit abergläubischer Scheu, aber ohne jede Spur einer Erinnerung, an den Baudenkmälern ihrer Vorfahren vorübergehen, sammeln die Nachkommen des weißen Mannes, der einst diese Denkmäler zerstörte, sorgfältig die letzten spärlichen Reste, um aus ihnen mühsam das amerikanische Alterthum wieder aufzubauen.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 699. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_699.jpg&oldid=- (Version vom 14.4.2024)