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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Julia begrüßte sie und führte sie in das Schlafzimmer der Räthin, wo die Damen ablegen sollten und dort entpuppte sich der reizende Gast so elegant wie stets; heute in einem dunkelgrünen, mit schmalen Goldlitzen verzierten Tuchkleid.

Auf einmal kam es Julia in den Sinn, sie wolle Therese nach dem Bruder fragen, und sie flüsterte zaghaft. „Ach, sag’ Therese, wie geht es Frieder? Hast Du Nachricht von ihm?“

„Warum?“ war die kurze Gegenfrage. Und nach einer Weile setzte Therese hinzu, indem sie die Löckchen zurecht zupfte: „Ich weiß es übrigens thatsächlich nicht.“ Dann nahm sie den kleinen goldgestickten „Pompadour“ und schickte sich an, den Raum zu verlassen.

Julia konnte ihr nicht folgen, es kamen andere Damen, immer mehr Damen, und als sie endlich die Zimmer betrat, in denen das Gesumme eines Bienenschwarms herrschte, sah sie Therese im Kreise der jungen Mädchen wohlverschanzt auf dem Sofa und fand keine Möglichkeit, ohne Zeugen mit ihr zu reden.

Die jungen Andersheimerinnen waren ungeheuer guter Dinge, während sie eifrig, als gelte es, das tägliche Brot zu verdienen, an ihren Weihnachtsarbeiten stichelten. Bloß Therese hielt ihre Häkelnadel wie zum Spiele in der Hand, während sie aufmerksam den Neuigkeiten lauschte, die von Mund zu Mund flogen. Den Augen, den bittenden fragenden Augen der Mamsell Unnütz, wichen ihre Blicke aus; nur wenn Julia durch das Zimmer schritt, musterte sie nachdenklich die tannenschlanke biegsame Gestalt in dem schmuckloden Kaschmirkleid, das noch von der Konfirmation her das kostbarste Stück in Julias Garderobe ausmachte.

„Hübsch ist sie aber doch,“ sagte Theresens Nachbarin, eine frische Brünette mit hellbraunen Augen, „ich hab’ irgendwo so ein Gesicht gemalt gesehen, wenn ich nur wüßt’, ob in Frankfurt oder Berlin. Ein Mädchen, einen Henkelkrug auf dem Kopfe tragend, und genau so stolze und doch weiche Züge wie die ihrigen. Die Augen sind doch herrlich!“

„Ich weiß nicht,“ erwiderte Therese, „mich läßt diese Art Schönheit kalt, wenn das überhaupt Schönheit ist. Sie ist nicht mein Genre.“

Die andere lächelte gutmüthig. „Möcht’ wissen,“ neckte sie, „ob der Doktor Roettger auch so über sie denkt wie Du, Thereschen; wenn ich er wäre, ich hätt’ mich bis über die Ohren in sie verliebt.“

Therese Krautner zuckte die Achseln. „Leicht möglich!“

Die junge Dame machte ein schelmisches Gesicht. Sie war die einzige Braut in diesem Kreise und erfuhr von ihrem Verlobten allerhand Neuigkeiten, konnte sich auch erlauben, so recht mit vollen Backen die Lobposaune zu blasen für den Doktor Roettger. „Uebrigens habt Ihr sammt und sonders dem armen Menschen auf dem Kasinoball schrecklich die Cour gemacht,“ schloß sie eine längere Rede; „und wer von Euch da ’mal die Auserwählte wird, die ist nicht zu beneiden, insofern meine ich, als sie aus der Eifersucht nicht viel herauskommen wird.“

Thereschen sah die Sprecherin höchst geringschätzig an. „Ich wüßte nicht –“ begann sie.

„O, Du warst auch so, Du hast ihm auch mit der größten Lust einen Orden zugeschleppt!“

Therese wurde einer Antwort überhoben, draußen war die Glocke erklungen, und nun tönte die Stimme des Doktors bis hier herein. „Ich bitte um die Lampe.“ Er war doch früher heimgekehrt. – Und dann wieder hörte man ganz deutlich die Worte: „Bitten Sie Fräulein Julia einen Augenblick zu mir herüber.“

Mamsell Unnütz, die gerade bescheiden ihren Stuhl in den Kreis der jungen Mädchen geschoben hatte, erhob sich sofort und schritt zur Thür; da war es ihr, als zwinge sie etwas, nach Therese hinüberzuschauen, und als sie, schon die Klinke in der Hand, den Kopf wandte, sah sie ein blasses Gesicht mit fest zusammengepreßten Lippen und mit Augen, aus denen ein geradezu feindseliges Leuchten zu ihr herüberflammte. Sie erwiderte mit einem verwunderten Blicke und ging dann. Was, ums Himmelswillen, hatte diese Therese in letzter Zeit so verwandelt?

Als sie drüben eingetreten war, kam der Doktor hastig auf sie zu. „Sag’, Julia, habt Ihr Nachrichten von Frieder?“

„Nein!“ antwortete sie.

„Dann ist er selbst gekommen; ich kann mich täuschen, aber ich möchte wetten, daß er in der Bahnhofstraße an mir vorüberging.“

„O bewahre, Fritz, er kommt ja erst zu Weihnacht, und bis da sind es noch drei Wochen.“

„Ich kann mich ja auch irren, Kind, wollte es Dir aber doch auf alle Fälle mittheilen. Und wenn es nun doch so wäre, Unnütz – hast Du eine Ahnung, was ihn hertreibt?“

Sie wurde purpurroth und schwieg.

„Besitzt Du sein Vertrauen?“ fragte er weiter.

„Ja, Fritz.“

„Nun, Kind, wenn Du einigen Einfluß auf ihn hast, dann sorge, daß die arme Frau dort oben nicht neuen Aufregungen ausgesetzt wird; es wäre nicht nur vergeblich, da sie nicht mehr helfen kann – ihr körperlicher Zustand erträgt auch nicht mehr viel.“

Sie hatte den Kopf gesenkt. „Steht es so schlimm?“ fragte sie gepreßt.

Aber noch ehe er antworten konnte, erscholl vom Vorzimmer her die Stimme der Frau Räthin in jammernden Tönen, Rufe der Theilnahme flogen dazwischen, die Thür wurde aufgerissen, und auf der Schwelle stand die Räthin, den einen Arm um die Gestalt Therese Krautners geschlungen. Das junge Mädchen sah blaß und schmerzverzerrt aus; sie hatte sich aus unbegreiflicher Ungeschicklichkeit den Häkelhaken in die Hand gestoßen.

Der Doktor war erschreckt hinzugetreten und führte die Verletzte zu einem Sessel. Die Räthin wimmerte, als ob sie die Schmerzen ausstehen müsse, eine andere alte Dame rief etwas von Starrkrampf, und eine dritte schlug vor, den Vater zu holen, bis der Arzt sie alle ersuchte, miteinander das Zimmer zu verlassen; Julia war schon hinausgeeilt, um ein Becken kaltes Wasser zu besorgen.

Als sie damit zurückkehrte, blieb sie einen Augenblick an der Thür stehen, und vor ihren Augen wirbelte es, wie wenn Nebel ineinander quirlen. Der Haken war entfernt, aber Theresens Kopf lehnte wie bewußtlos an der Schulter ihres Helfers und zwei große Thränen rannen über die erblaßten Wangen.

Er legte das blonde Haupt beim Eintritt Julias behutsam gegen die Polster zurück; er trocknete auch nicht die Thränen, wie er es einst gutmüthig bei Mamsell Unnütz gethan; er ging im Zimmer umher mit einem unsäglich peinlichen Gesichtsausdruck, wie ihn Menschen haben, die den Schmerz, den sie anderen verursachen müssen, selbst doppelt fühlen. Julia kannte ihn gar nicht so, so empfindsam und wehleidig, so außer sich wegen einer „Bagatelle“, tvie er anderen gegenüber derartiges genannt hätte.

„Es that wohl sehr weh?“ fragte sie theilnehmend.

„Nun natürlich!“ erwiderte er, ihr das Becken abnehmend und das Wasser darin auf einem Tischchen mit Karbol mischend. „Bitte, besorge etwas weiche Leinwand – Du weißt, draußen in dem Schranke rechts!“

Sie ging gehorsam, und als sie wiederkam, war die rosige Farbe in die Wangen Theresens zurückgekehrt, und die kleine Hand, die Fritz selbst in das Wasser hielt, so zart, als sei sie aus Sevresporzellan, zitterte nicht mehr. Nachher beim Verbinden hielt Julia diese Hand; zum ersten Male bekam sie einen Verweis: „Aber Unnütz, ich bitte Dich – nicht so grob!“

„Was that ich denn?“ fragte sie und sah zu ihm auf.

„Du hältst den Arm so fest, sieh doch die beiden hochrothen Flecken!“

„Ach, sei nicht böse!“ stammelte sie erschreckt.

„Julchen,“ bat Therese, „hole mir meine Sachen, ich möchte nach Hause!“

„Ich werde Sie hinüber geleiten,“ sagte der Doktor eifrig. Und er nahm nicht einmal den Ueberzieher, nur die Pelzmütze setzte er auf. Trotzdem standen die beiden noch eine Weile plaudernd vor der Thür von Theresens Vaterhaus. Einmal lachte dabei das junge Mädchen hell auf; so recht herzlich und silbern scholl es in den finsteren Garten hinein. Sie mußte sich wieder völlig wohl fühlen.

„Gute Nacht,“ sagte Therese beim Abschied, „ich hoffe, Sie sehen morgen als pflichtgetreuer Arzt nach Ihrer schwersten Patientin.“

„Ganz gewiß – gute Nacht, Fräulein Therese!“

Sie hielt ihm die Rechte hin. „Gute Nacht, Herr Doktor!“

In dem schwachen Schimmer der Laterne, die auf elegantem gußeisernen Kandelaber an der Freitreppe stand, sah ihr süßes Kindergesicht so freundlich zu ihm empor, und ein so gewinnendes unschuldiges Lächeln umspielte ihren Mund, daß er, dem jede übertriebene Galanterie fernlag, sich hinunter bog und ihre Hand ehrerbietig und andächtig küßte. Dann wandte er sich rasch um und stieg die Treppe hinunter.

Therese öffnete haftig die Hausthür und huschte mit leisen Schritten über den Flur in ihr Zimmer. Dort riß sie mit der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 715. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_715.jpg&oldid=- (Version vom 15.8.2022)