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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

gleicht schon an den gewöhnlichen Tagen mit seinem unruhigen Hin und Her, seinem rastlosen vielgestaltigen Durcheinander einem aufgeregten Bienenschwarm; treppauf, treppab, durch die großen Vorhallen und über die weiten Flure fluthen die Menschenwogen dahin, hier sich stauend, da mit eiliger Hast fortstürmend, weil sie falsch gegangen sind und die Stunde ihrer Vorladung herangerückt ist. Mit flatternden Talaren, auf dem Kopfe das schwarzsamtene Barett, brechen sich Richter und Rechtsanwälte durch die vor den einzelnen Sälen und Gerichtszimmern Harrenden Bahn; mit würdigen Mienen schreiten die Gerichtsdiener einher oder sie rufen mit einförmiger, laut schallender Stimme die Namen der vorgeladenen Parteien auf; in nervöser Erregung sitzen auf den Bänken mehrere Zeugen, andere wieder blicken mit immer größer werdender Ungeduld auf die langsam vorwärtsschreitenden Zeiger der Uhr – was wird vielleicht die nächste Sekunde ihren Angehörigen, die eben hinter jener Thür vor dem Gerichtshof stehen, bringen: Freisprechung oder Verurtheilung, unsagbare Freude oder tiefstes Elend?

      „Kriminalstudenten.“

Zeitigt also schon jeder gewöhnliche Tag in diesem Justizpalast eine Reihe ergreifender wechselvoller Bilder, in denen sich häufig ganze Menschenschicksale widerspiegeln, herrscht hier jederzeit ein eigenthümlich dumpfer bedrückender Bann, dem sich selbst der Unbetheiligte nicht entziehen kann – so nimmt diese nervöse Spannung noch bedeutend zu und scheint sich auf einen einzigen Fleck zu konzentrieren, wenn hier einer der großen Kriminalprozesse abgewickelt wird, deren das Berliner Verbrecherthum leider mehrere im Jahre veranlaßt. Der große Schwurgerichtssaal im ersten Stockwerk bildet dann den Hintergrund zu diesen Tragödien aus dem Weltstadtleben, dessen furchtbarste Tiefen und erschreckendste Abgründe hier aufgedeckt werden, in der packenden Schilderung des Staatsanwalts, in der ruhigen Beleuchtung des Schwurgerichtsvorsitzenden, unter der gespannten Theilnahme der Geschworenen und dem fieberhaften Interesse der Zuhörer.

Goldig fluthen die Sonnenstrahlen durch die hohen buntbemalten Bogenfenster in den Saal und bilden einen grellen Gegensatz zu den blutbefleckten Gegenständen, die dort auf einem Tischchen vor dem Richterkollegium liegen als stumme Zeugen einer entsetzlichen That, die hier ihre Sühne finden soll; für diese Sühne tritt mit feurigen Worten die Rede des Staatsanwalts ein, deren anklagende Sätze, schon durch den Tonfall hervorgehoben, in der lautlosen Stille wie grollend dahinrollen und selbst auf die in den vorderen Bänken sitzenden Zeugen, alte bekannte Verbrecher, sowie auf die unter den Zuschauern befindlichen Zöglinge des Verbrecherthums, die sogenannten „Kriminalstudenten“, die hier ihre theoretischen Studien machen, einen sichtlichen Eindruck hervorbringen. Und aller Augen fliegen hinüber zu dem Thäter hinter der niedrigen hölzernen Schranke dort, der, den Kopf auf die Hände gestützt, in dumpfer Betäubung vor sich hinbrütet, nur noch von einem Gedanken erfüllt, dem an den nahenden Urtheilsspruch. Und dann kommt er, dieser gefürchtete Augenblick – seit längerer Zeit bereits haben sich die Mitglieder des Gerichtshofes und die Geschworenen zurückgezogen und müssen alsbald wieder erscheinen, die Zeugen wagen kaum miteinander zu sprechen, im Zuhörerraum tuschelt man leise hin und her, und an dem Tische der Berichterstatter huschen die Federn hastig über das Papier; von draußen herein tönt zuweilen der Sang eines Vogels oder das ferne Läuten der Pferdebahn, vom Flur her läßt sich das gedämpfte Raunen der Menschenmenge vernehmen, die wegen des Prozesses aus ganz Berlin hergeeilt ist, aber keinen Einlaß mehr in die überfüllten Galerien erhalten hat.

Auf dem Flur vor den Gerichtszimmern.

Doch nun athemlose Ruhe – die Thür an der Rückwand des Saales öffnet sich, und langsam, feierlich, mit ernsten Mienen nahen Richter und Geschworene und nehmen ihre Plätze ein; welche bangen, drückenden, schier endlosen Sekunden! Jetzt erhebt sich der Präsident und bedeckt sein Haupt mit dem schwarzen Barett, noch stiller wird es im Saale, aller Augen und Ohren hangen an ihm; nur der Verbrecher, der stehend sein Urtheil anhören sollte, aber kraftlos wieder zurückgesunken ist, hat den Kopf tief gesenkt, und wie mit Drommetentönen, wie mit den Stimmen des jüngsten Gerichts schallt es nun zu ihm herüber, daß ihn die Geschworenen des Mordes für schuldig befunden und die Richter ihn zum Tode durch Henkershand verurtheilt haben. –

Und die Richtstätte, wo der alttestamentliche Spruch: „Wer Menschenblut vergießt, dess’ Blut soll wieder vergossen werden“, erfüllt wird, befindet sich nahe dem Orte, wo das Urtheil gefällt wurde: in dem an der Lehrterstraße in Moabit gelegenen Zellengefängniß. Dort, auf einem schmalen von hohen Gefängnißmauern eingeschlossenen Hofe, waltet in Gegenwart weniger Zeugen bei Tagesanbruch, wenn Berlin noch im Schlummer liegt, der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 734. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_734.jpg&oldid=- (Version vom 15.4.2024)