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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

„Was will sie denn nur immer mit dem Frieder?“ flüsterte die Räthin und legte eine frische Eiskompresse auf.

Er zuckte die Achseln und setzte sich still neber das Bett seiner kleinen Kameradin. Und so saß er noch, als in früher Morgenstunde das schrille Pfeifen der Lokomotive durch das Fenster scholl – es war der Zug, welcher seine Braut dem Süden zuführte. – –

Therese lehnte in einem Coupé erster Klasse. Der alte Herr schlief schon wieder; er pflegte meistens während der Fahrt zu schlafen, aber vorher hatte er sein Tächterchen sorglich in die Reisedecke gehüllt und die kleinen Füßchen in den pelzgefütterten Schuhen auf dem gegenüberliegenden Sitze gebettet.

Sie schlief nicht, sondern starrte mit müden Augen in die Dunkelheit des Dezembermorgens. Als sich aber allmählich mit kaltem, grauem Schimmer der Tag meldete, da fröstelte es sie, und sie gähnte leise. Die Welt kam ihr so furchtbar prosaisch vor, sie fühlte sich seit gestern schrecklich ernüchtert, und doch hatte sie eben gestern den Gipfel ihrer Wünsche erstiegen, von deren Erfüllung, wie sie meinte, Glück und Ruhe ihres Lebens abhing – Doktor Roettger hatte ihr seine Liebe gestanden. Die Unrast war von ihr gewichen, ihr Ehrgeiz befriedigt, und doch! Sie gähnte wieder – dieses unangenehme frühe Aufstehen!

Halb im Traume ließ sie die Vorgänge der letzten Tage an sich vorüberziehen. Wie geschickt kam die Krankheit Julias; sie hätte sonst doch vielleicht geplaudert. So aber ahnte sie nichts, und wenn man im Frühjahr wiederkehrte, dann – nun dann war viel Wasser den Rhein hinuntergeflossen. Vorerst konnte man sich ruhig auf den Nizzaer Karneval freuen.

Sie legte den hübschen Kopf auf das Reisekissen und dachte noch einmal mit Befriedigung daran, daß der Mann, für den sämmtliche unverheiratheten Damen des Städtchens schwärmten, der Ihre geworden war. Und dann malte sie sich ihre künftige Häuslichkeit aus; man konnte das alte interessante Haus stilvoll einrichten, es barg so herrliche Räume. Die Mutter und die Tante würden freilich nicht darin bleiben können, so wenig wie Julia. Die großen Hof- und Stallgebäude paßten vortrefflich für die Dienerschaft, für Wagen und Pferdeställe, der Hof konnte etwa wie ein mittelalterlicher Burghof aufgeputzt und mit einem Rasenplatz, einer Sonnenuhr, einem schönen Brunnen und so weiter versehen werden. Der Garten – er hatte viel schönere alte Bäume als Thereschens väterlicher Garten – und die Gondel, nein, ein paar Gondeln, denn man würde feenhafte Gartenfeste – –

Dem jungen Mädchen fielen die Augen zu, sie schlief.


Eine grelle Frühlingssonne begrüßte mit ihrem blendenden Schein Mamsell Unnütz, als sie zum ersten Male nach ihrer Krankheit die Treppe hinunterschlich, um ein paar Athemzüge in frischer Luft zu thun. Sie hielt sich ängstlich fest an dem Geländer; eine stützende sorgliche Hand, wie sie sich sonst dem Genesenden, auch dem ärmsten, bietet, fehlte ihr, sie mußte schon ihren eigenen Füßen vertrauen – wenn sie nur nicht so matt gewesen wären! Aber wer sollte ihr behilflich sein? Die Tante war selbst so elend, daß sie einer Stütze bedurfte, und die Räthin? Die hatte, seit die Kranke außer Gefahr und gar außer Bett war, kaum noch einen flüchtigen Blick für sie. Seitdem sie die „unpassende Scene“ gemacht hatte, war das unnütze Anhängsel „Luft“ für sie. Fritz aber, Fritz war nach wie vor freundlich und doch so anders wie sonst. Ach, überhaupt, es war ja alles anders!

Das junge Mädchen schlich jetzt im Garten dahin. In dem breiten Rebengang brannte die Sonne durch das kahle Gezweig, und auf den Rabatten zu beiden Seiten des buchsbegrenzten Weges blühten gelb und blau Krokus und Leberblümchen. Ein süßer Veilchenduft wogte in der Luft und allenthalben schimmerte es bräunlich an dem Geäst der Sträucher und Bäume.

Der Strom war mächtig angeschwollen, die Aue drüben stand unter Wasser. Julia sah das alles wie im Traume; die Luft wirkte betäubend auf sie, die monatelang nicht im Freien gewesen war. Sie mußte sich plötzlich an den Stamm des Nußbaums lehnen; nur wie durch einen Schleier bemerkte sie noch das Funkeln des Stromes und das erwachende Leben der Natur.

In der Krautnerschen Villa wurde eben eine Flagge an der zierlich bemalten Stange aufgehißt. Julia verfolgte sie mit den müden Augen; wie sie lustig flatterte da droben! Niemand hatte ihr davon gesprochen, aber sie wußte, es war der Willkommgruß für die, die heute heimkehrten aus dem Süden.

In des Mädchens Brust regte sich ein heißer Schmerz. Sie sagte sich, daß der Fritz wohl deshalb heute zum ersten Male seinen Krankenbesuch in ihrem kleinen Stübchen unterlassen habe, weil er seine Freude nicht vor ihr zeigen wollte.

Sie biß die Zähne zusammen und schüttelte, zornig über sich selbst, den Kopf. Was wollte sie denn? Es hatte alles seine Richtigkeit – mochte er in Theresens Besitz das Glück finden, das er erwartete! Die schwere Zeit bis zu ihrer völligen Genesung mußte ja auch verfließen, und dann konnte sie das Haus verlassen, konnte auf eigenen festen Füßen stehen – und alle, die hier zurückblieben, segneten wohl den Augenblick, wo sich die Thür hinter ihr schloß. O, wie schön mußte es sein, ein liebes trautes Vaterhaus zu besitzen, einen Fleck, von dem man weiß, da bist du jederzeit willkommen, da sind treue Herzen, da sind offene Arme, Hände, die dich segnen, die ihr letztes Stückchen Brot mit dir theilen. Und wie gut hatte es doch so ein Mann wie der Frieder – ja, wo mochte wohl der Frieder augenblicklich sein?

Er hatte eines Tages seiner Tante kurz mitgetheilt, er habe den Friedensdienst der Garnison satt, habe um seine Entlassung gebeten und sich gleichzeitig als Offizier für die deutsche Schutztruppe in Ostafrika gemeldet. Sobald er zustimmenden Bescheid erhalte, komme er, um Abschied von ihr zu nehmen. So zwischen Weihnachten und Neujahr war er dann richtig auf vierundzwanzig Stunden dagewesen, um der alten Dame Lebewohl zu sagen. Julia erinnerte sich nicht, ob er auch ihr die Hand gedrückt zum Abschied, sie lag gerade damals am schwersten danieder. Tante Riekchen aber war seit jenem Augenblick ganz zusammengebrochen und alle ihre Sorge vereinigte sich auf den Fernen, alle ihre Gebete erflehten Schutz für den geliebten Pflegesohn, der, seinem Thatendrang folgend, wohl gar von den Schwarzen ermordet wurde.

Ob der Frieder Theresens Untreue erfahren hatte? Ob diese gar der Grund war, daß er Europa den Rücken wandte? Wenn dem so war, dann wußte jedenfalls außer Therese nur sie selbst um diesen Grund. Denn sie hatte niemand das Geheimniß der Verlobung zwischen den beiden verrathen – wozu den Frieden eines Herzens zerstören, das ihr das theuerste war, wozu vernichten, was ihn, den Ahnungslosen, am Ende doch beglücken konnte! Und war der Gedanke, Fritz den Charakter Theresens zu enthüllen, nicht von selbstsüchtigen unlauteren Beweggründen eingegeben, mußte sie darum nicht schweigen? Ja, wäre sie seine Schwester gewesen, aber nun – nun liebte sie ihn und wußte, daß nicht allein die Sorge um sein Wohl sie bewegte, sondern noch etwas anderes, vor dem sie sich selbst schämte, eine leidenschaftliche Bitterkeit und zehrende Eifersucht.

So schwieg sie – schwieg, wenn er am Bette saß in den Tagen, da ihr allmählich das Bewußtsein wiederkehrte, wenn er mit besorgter Miene und einem mitleidigen Ausdruck in den Augen ihre zuckende Hand hielt; schwieg, als sie von der Räthin erfuhr, daß die Verlobung des Doktors gleich nach Theresens Rückkehr stattfinden solle. Sie schrie es nicht hinaus: „Das Mädchen, das Du liebst, ist treulos, treulos bis ins innerste Herz. sie nimmt Dich nur, wie sie sich ein neues Kleid kauft – weil es Mode ist!“ Sie preßte die Lippen aneinander und stellte sich schlafend, nur damit er gehe, damit sie das geliebte Antlitz nicht sehen mußte.

Es war fast ein Wunder, daß sie unter solchen inneren Kämpfen genas, daß sie überhaupt wieder hier stand in Luft und Sonne, daß sie die Fahne dort oben wieder so lustig flattern sah. Mamsell Unnütz verfolgte jede Wendung der tanzenden Fahne in der Frühlingsluft, und dann erblickte sie über die niedrige Mauer hinweg durch das kahle Geäst den Kutscher und die Stubenmädchen, die unter lautem Lachen ein mächtiges Blumengewinde über der Hausthür befestigten, sie sah Frau Roettger in höchst eigener Person zu den Leuten treten, um ein zierliches Blumenkörbchen abzugeben, jedenfalls ein Willkommgruß in Theresens Boudoir!

Julia schritt langsam wieder dem Hause zu, ihre Kraft war erschöpft. Durch die sonnige Luft kamen jetzt voll die Klänge der Kirchenglocken; alle drei wurden geläutet, als gelte es, einen großen Festtag einzuläuten und doch klangen sie traurig. Julia kannte diese Klänge – irgend ein müdes Menschenkind trug man zu Grabe, aber einen der hienieden zu den Bevorzugten gezählt hatte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 746. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_746.jpg&oldid=- (Version vom 15.8.2022)