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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Dreitausend Mark! Julius Meermann durchzuckte es wie ein Messerstich, als er die Scheine in dem Umschlag verschwinden sah. Gerade dreitausend Mark! Gewaltsam hatte er sein Auge von der Kasse abgewandt, er konnte keine Anhäufung von Geld mehr sehen – mit übermächtiger Gewalt zog es seine bebenden Finger an. In seinem eigenen Geschäft traute er sich nicht mehr an einer Stelle vorüber, wo zehn Goldstücke bei einander lagen. Denn er wollte keine Thorheit begehen. Ein Verbrechen, wenn es sein mußte, um sich zu retten – nun ja! Aber nur keine Dummheit, wie Tölpel sie in ihrer Verzweiflung wagen, eine Dummheit, die entdeckt werden und ihren Urheber erst recht ins Verderben stürzen mußte.

„Es ist Ihre Schwester, die mich wegen einer geschäftlichen Sache, die sie vergessen hat, zu sprechen wünscht,“ sagte Röver, roth vor Vergnügen, sich vom Telephon zurückwendend.

„Wahrhaftig? Stehen sie jetzt besser mit dem Trotzkopf?“

„O, wir haben uns ausgesprochen. Wir sind jetzt sehr gute Freunde.“

Röver hielt eine lange Rede in die Mündung des Telephons, er gab ausführlich die gewünschte Auskunft. An ihm sollte es gewiß nicht liegen, wenn ihr Verhältniß zu einander nicht wieder die denkbar beste Form annahm!

Und derweil lehnte Julius am Schreibpult und sah auf den unverschlossenen Umschlag herab, der dreitausend Mark enthielt, dreitausend Mark, die ihn retten konnten! Ein zusammengefaltetes Zeitungsblatt lag daneben – ein kurioses Ding, dieses Blatt! Fast genau von derselben Größe, wie die Berechnung, in welche die Scheine geschlagen waren. Wenn er dieses Blatt in den Brief steckte und dessen Inhalt in seine Tasche – wer konnte je beweisen oder nur vermuthen, daß er die Hand im Spiele gehabt hatte? Wer durfte es wagen, ihn auch nur durch den Schatten eines Verdachts zu beleidigen? War er nicht da, der ersehnte rettende Augenblick? Konnte nicht ein einziger geschickter Handgriff Schande und Noth von seiner Person abwälzen, geschehene Thorheit ungeschehen machen? –

Röver hatte die Unterredung beendigt und kehrte sich nach Meermann um. Er sah diesen am Schreibpult lehnen, in derselben Stellung wie vorhin, das Stöckchen in der einen Hand, mit der andern an der Rose in seinem Knopfloch nestelnd.

„Jetzt stehe ich sogleich zu Diensten,“ sagte er, von dem Gespräch mit dem geliebten Mädchen noch freudig erregt. Hastig schloß und siegelte er den Werthbrief, steckte ihn mit anderen Briefen zu sich, zog den Schlüssel vom Geldschrank und nahm seinen Hut.

„Wollen Sie die Post nicht dem Laufburschen zur Bestellung übergeben?“ drängte Julius. „Es ist spät.“

„Werthsendungen pflege ich immer persönlich zu besorgen,“ erwiderte Röver. „Uebrigens werde ich Ihre Geduld auf keine harte Probe stellen.“

„Ach was, nehmen Sie’s doch nicht so pedantisch genau – ich habe lange genug auf mein Vergnügen gewartet, und Ihr Laufbursche ist ja wohl ein zuverlässiger Mensch!“

Röver besann sich einen Augenblick, dann antwortete er zögernd. „Nun ja, der Mann ist ehrlich, auch viel zu beschränkt, um eine Schlechtigkeit ins Werk zu setzen. Gehen wir also!“ Damit klingelte er und übergab dem eintretenden Diener die Briefschaften. „Schließen Sie nachher hier ab und bringen Sie diese Sachen zur Post!“

Aufathmend schob Julius seinen Arm in den Rövers, und eine lustige Melodie pfeifend, verließ er mit ihm das Zimmer.

*  *  *

Ein kühler Morgenwind strich am nächsten Tage erfrischend durch die noch menschenleeren Straßen, als das Geschwisterpaar nebeneinander dahinschritt, jedes seinem Geschäft zu. Die schweren schwarzen Bandschleifen auf Gretchens Hut schlugen fröhlich im Luftzug; auf ihren Wangen lag eine feine Röthe. Sie gedachte heute besonders zeitig zur Stelle zu sein; der Chef sollte gegen Mittag zurückkehren und sie selbst den Platz an der Kasse, den sie in den letzten Tagen stellvertretend übernommen hatte, wieder an Herrn Röver zurückgeben. Da gab es noch manches zu besprechen. Sie setzte ihren Stolz darein, daß gerade er alles in bester Ordnung finde. Mit einem Handedruck verabschiedete sie sich an der Thüre des Geschäfts von ihrem Bruder und trat ein.

Bald bog auch Röver um die Ecke, ein Veilchensträußchen in der Hand, Waldmann dicht an seinen Fersen. Zwei Häuser vor dem Geschäft blieb er stehen und beugte sich liebkosend zu dem Teckel herab. „Vorwärts, Waldmann!“ Und den Hund stieß ein leises Winseln aus, kehrte sich auf den Hinterpfoten um und rannte davon. Derselbe Auftritt wiederholte sich jeden Morgen, Waldmann begleitete Röver und wurde angesichts des Geschäftes heimgeschickt. Dann kam er um die Mittagsstunde wieder, seinen Herrn abzuholen, aber die Schwelle des Ladens überschritt er nie; er wartete geduldig auf dem Asphalttrottoir gegenüber. Niemand vertrieb ihn von dort, man kannte ihn schon in der ganzen langen Straße.

Nun trat Anton Röver in die Thür und schritt gerade auf Grete zu, die eifrig in den Papieren an der Kasse kramte.

„Guten Morgen, Fräulein Meermann! Darf ich mir gestatten, Ihnen diese Veilchen zu überreichen?“

Sie standen halb verborgen zwischen den Kasten mit farbigen Bändern, zwischen den Hüten, Spitzen und künstlichen Blumen. Nur das Hausmädchen fegte mürrisch und verschlafen den Ladenraum. Sonst war niemand zugegen.

„Aber Herr Röver,“ stammelte Grete verlegen. „Sie vergessen unsere Abmachung!“

„Ich vergesse nichts, Fräulein Meermann. Sie haben mir zu verstehen gegeben, daß ich für Sie ungefähr dasselbe bedeute wie dies Kassenpult hier und der Schrank und der Ladentisch – ein Möbel, das zur Einrichtung des Geschäftes von Franz und Kompagnie gehört ...“

„Herr Röver –“

„. . . aber die Veilchen können Sje doch von mir annehmen! Wenn ich nach Jahr und Tag in meinem einsamen Junggesellenstübchen sitze, irgendwo in Chile oder Japan oder auf einer Insel im Stillen Ocean, dann werde ich mir mit immer neuer Freude sagen: an dem Tage hat sie meine Blumen getragen, an jenem sprach sie gütig mit mir.“

Grete steckte die Veilchen an ihre Brust. „Wenn Sie erst in Chile oder Japan sind, Herr Röver, werden Sie überhaupt nicht mehr an die Grete Meermann denken. Dann haben Sie eine andere Frau gefunden, die Ihrer würdiger ist und Ihre Güte besser belohnt. Aber ich danke Ihnen herzlich für Ihre Blumen. Und, Herr Röver, muß es denn just das andere Ende der Welt sei, wohin Sie Ihre Schritte lenken? Geht’s gar nicht mehr in unserem alten lieben Deutschland?"

„Mein Vaterland ist mir so theuer wie irgend einem, aber was kann ich hier für mich erwarten? Drüben über der See finden sich größere Verhältnisse, rascheres Vorwärtskommen für einen Menschen, der ohne Kapital beginnen muß wie ich. Wär’ es mir nicht um mein altes Mütterchen, das sich nicht losreißen kann von der Heimath – ich wäre längst überm Weltmeer.“

„Ihr Mütterchen? Die alte Dame, mit der ich Sie neulich am Sonntag gehen sah? Also die zügelt Ihren Ehrgeiz noch? Denn furchtbar ehrgeizig sind sie, das sagen alle. Und ich merke es wohl, Sie werden nicht ruhen, bis Sie der Inhaber eines großen Handelshauses geworden sind.“

„Mein Ziel ist das, warum soll ich es Ihnen gegenüber leugnen? Andere haben ja mit nicht größeren Aussichten angefangen als ich und haben dies Ziel erreicht. Und etwas muß der Mensch haben, ein Streben, eine Hoffnung, die er im Innersten hegt, an der er sich freut, für die er lebt. Gerade meines Mütterchens wegen bin ich ‚ehrgeizig‘, wie Sie es nennen. Die alte Frau hat sich schlimm gemüht und geplagt für mich großen Burschen. An meinem Vater, das ist leider bekannt, hat sie nur Kummer erlebt. Da soll sie wenigstens an mir Freude haben – für sich selbst hegt ihr bescheidener Sinn kaum einen Wunsch.“

„Ich wußte gar nicht, daß Sie ein so guter Sohn sind,“ meinte Grete freundlich. Dem Mann mit den bösen Augen hätte sie solche Zartheit der Empfindung nicht zugetraut.

„Dabei ist kein Verdienst,“ erwiderte er wehmüthig. „Meine Mutter ist die einzige Person auf der Erde, die mir jemals Liebe erwiesen hat – wie sollte ich ihr nicht dankbar sein?“

Frida Meier und Fräulein Rothart kamen herein, sehr verblüfft, als sie das Paar an der Kasse beisammen erblickten. Die anderen Verkäufer und Verkäuferinnen folgten ihnen auf dem Fuße. Auf dem Marktthurm schlug es acht Uhr und Zuspätkommen kostete Geld. Alle schauten nach der Kasse, und das Wispern, Tuscheln, Kichern nahm kein Ende. Als Grete ihren

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 754. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_754.jpg&oldid=- (Version vom 22.4.2023)